Postkoloniale Forschungsansätze in Osteuropa. Kann man die Ukraine als eine Kolonie betrachten?

In dem Internetartikel „Vergessene Imperien vor der Haustür“ von Marcel Knorn, welcher auf der Seite „Treffpunkt Europa“ im Jahr 2020 veröffentlich wurde, wird beschrieben, dass in der Forschung zur osteuropäischen Geschichte in den letzten Jahrzehnten immer öfter auf postkoloniale Forschungsansätze zurückgegriffen wird. Auch der Ukrainekrieg sorgt dafür, dass immer häufiger postkoloniale Forschungsansätze im öffentlichen Diskurs aufgegriffen werden. Ein Auslöser dafür war unter anderem die Ansprache des russischen Präsidenten Vladimir Putin an das russische Volk schon drei Tage vor dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine. Hier legitimierte er den Krieg mit kolonialen Ansprüchen an die ukrainischen Gebiete schon vor dem 17. Jahrhundert.

Postkoloniale Forschungs- und Erklärungsversuche scheinen demnach immer wichtiger für die osteuropäische Geschichtsschreibung zu werden. Doch soll man die gewaltsame Unterwerfung afrikanischer, asiatischer und amerikanischer Gemeinschaften im Einzelfall wirklich mit der Unterwerfung osteuropäischer Gemeinschaften im Rahmen von Kriegen gleichsetzen? Kann man zum Beispiel die heutige Republik Haiti, welche zwischen 1697 und 1804 eine französische Kolonie war, mit den ähnlichen postkolonialen Forschungsansätzen betrachten wie Teile der heutigen ukrainischen Gebiete, welche ab 1569 bis 1792 territorial zur Adelsrepublik Polen-Litauen gehörten? Bei diesen Beispielen unterscheiden sich sowohl der historische Kontext der Machtergreifung als auch die geografische Verbindung zwischen dem Eroberer und den eroberten Gebieten. Kann man die ukrainischen Gebiete deshalb in diesem Fall überhaupt als Kolonie Polen-Litauens begreifen?

Genau diese Fragen bedürfen durch die immer größer werdende Popularität der postkolonialen Forschungsströmung in Osteuropa einer genaueren Betrachtung. Auf der Basis theoretischer postkolonialer Erklärungsansätze soll hier deshalb zuerst exemplarisch herausgearbeitet werden, welche Merkmale Kolonien laut der aktuellen postkolonialen Forschung besitzen müssen. Dies erfolgt, um im Anschluss herausarbeiten zu können, ob die ukrainischen Gebiete zur Zeit der Herrschaft Polen-Litauens diese allgemeinen Merkmale überhaupt erfüllten. Abschließend soll die Frage beantwortet werden, ob allgemeine postkoloniale Forschungsansätze, in diesem Fall die Merkmale einer Kolonie, auch im osteuropäischen Forschungskontext zielführend angewendet werden können.

Der Beitrag ist in drei größere Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt erfolgt ein theoretischer Blick auf aktuelle postkoloniale Beschreibungen von Kolonien sowie eine Herleitung von Kriterien für diese. Im zweiten Teil werden diese Kriterien mit dem historischen Kontext der ukrainischen Gebiete unter der Herrschaft Polen-Litauens in Verbindung gesetzt, um im letzten Abschnitt unsere Frage beantworten zu können.

Welche Merkmale besitzen nun vom Kolonialismus betroffene Gebiete laut dem aktuellen postkolonialen Forschungsdiskurs? Die Geschichtswissenschaftler Jürgen Osterhammel und Jan C. Jansen, welche sich unter anderem mit kolonialen, postkolonialen und globalgeschichtlichen Zusammenhängen in ihrer Forschung auseinandersetzen, schreiben diesbezüglich in ihrer Monografie „Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folge“ aus dem Jahr 2012, dass vor allem ein enormes Machtgefälle zwischen Kolonisator und Kolonialisierten zu erkennen sein muss. Hierbei seien diese Länder gesellschaftlich völlig von den Kolonialmächten fremdbestimmt. Auch würden mögliche Entwicklungsunterschiede, welche vor dem Prozess der Kolonisation bestanden, nicht von den Kolonisatoren geduldet. Der Prozess der Anpassung an die Kultur der Kolonialmacht wird dabei von den Kolonisatoren nach Bedarf auch mit Gewalt eingefordert. Ähnliches beschreibt auch der Historiker Andreas Eckert, welcher sich unter anderem mit der postkolonialen Geschichte Afrikas beschäftigt, in seinem Einführungswerk „Kolonialismus“ aus dem Jahr 2015. Er verweist ebenfalls auf ein starkes Machtgefälle zwischen den Kolonisierten und dem Kolonisator sowie auf Gewalt ausgeübt von diesem. Im gleichen Zuge beschreibt er aber auch, dass gerade in den von Gewalt betroffenen Kolonien oftmals Kämpfe gegen diese Gewaltherrschaft ausbrachen. Fasst man diese beiden allgemeinen postkolonialen Beschreibungen in einzelne Kriterien zusammen, müssen Kolonien somit sowohl eine kulturelle Anpassung an den Kolonisator durchlebt, Fremdbestimmung erfahren als auch Gewalt, welche von dem Kolonisator ausgeht, erlitten haben. Auch Aufstände als Reaktion auf die Gewalt können hierbei für eine Kolonisation sprechen.

Weisen Teile der ukrainischen Gebiete diese herausgearbeiteten Merkmale zur Zeit der Herrschaft Polen-Litauens überhaupt auf? Lässt sich zum Beispiel das Merkmal der Fremdbestimmung nachweisen? In dem Aufsatz „Der Fall Polen-Litauen: Ein vergessenes Imperium in den nationalen Traditionen Osteuropas“ erläutert Bogusław Dybaś diesbezüglich, dass besonders rechtliche Reformen im 16. Jahrhundert, welche von den Stammgebieten Polen-Litauens angeregt wurden, im ganzen Machteinflussgebiet Polen-Litauens umgesetzt wurden. Hierbei handelt es sich vor allem um Anpassungen an das römische Recht, welche Veränderungen des Straf-, Zivil- und Privatrechts zur Folge hatten. Ergänzend dazu erläutert Andreas Kappeler in seiner neuesten Auflage der Monografie „Kleine Geschichte der Ukraine“ aus dem Jahr 2022, dass diese rechtliche Fremdbestimmung besonders das Leben der freien Bauern in den ukrainischen Reichsgebieten stark veränderte. Er beschreibt, dass unter den gesetzlichen Anpassungen auch einige waren, welche sich mit der agrarischen Nutzung des Bodens auseinandersetzten. Vielen ukrainischen Bauern wurde auf dieser Basis die freie agrarische Nutzung ihres Bodens untersagt. Deshalb lässt sich vermuten, dass durch diese Anpassung bei der bäuerlichen Bevölkerung der betroffenen ukrainischen Gebiete ein Gefühl der Fremdbestimmung ausgelöst wurde.

Doch haben die ukrainischen Gebiete zur Zeit der Herrschaft Polen-Litauens auch eine kulturelle Anpassung durchlebt? Laut Kappler kann auch dies tatsächlich nachgewiesen werden. Er erklärt, dass besonders der Adel nach der Vereinigung Polens und Litauens im Jahr 1569 „polonisiert“ wurde. Immer mehr Adelige in den ukrainischen Gebieten waren nach und nach polnisch geprägt. Die hiesigen kulturellen Adelsverhältnisse wurden somit an die der Stammprovinzen Polen- Litauens angepasst. Darüber hinaus beschreibt Serhii Plokhy in der Monografie „Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine“ aus dem Jahr 2022, dass die ukrainische Bevölkerung aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit zur gleichen Zeit einer starken Diskriminierung ausgesetzt war. Teile der Bevölkerung änderten daraufhin ihre religiöse Zugehörigkeit. Besonders die eher provinziale Unterschicht blieb aber weiterhin orthodox geprägt. Demnach sind gerade bei den oberen Bevölkerungsschichten auf ukrainischem Gebiet kulturelle Veränderungen und Anpassungen nachzuweisen, ob diese aber zum Beispiel auch die vorwiegend provinziale Unterschicht in den ukrainischen Gebieten betrafen, konnte Plokhy nicht konkret dokumentieren.

Nun kommen wir zur Überprüfung des letzten Merkmals. Gab es auch Aufstände und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung der ukrainischen Gebiete und der Herrschaftsschicht Polen-Litauens? Auch hierzu äußern sich Kappler und Plokhy. Beide erläutern in ihren zuvor schon erwähnen Monografien, dass es durch die Ungleichbehandlung der überwiegend orthodox gebliebenen Unterschicht immer wieder Auseinandersetzungen mit dem herrschenden polnischen Adel gab. Besonders der Chmelnyzkyj-Aufstand im Jahr 1648 sei dafür ein gutes Beispiel. Hier schlossen sich verarmte orthodoxe Bauern aus dem ukrainischen und belarussischen Gebiet mit den Saporoger Kosaken zusammen, um gemeinsam gegen die Willkür der polnischen adeligen Landbesitzer vorzugehen. Zu Beginn des Aufstandes konnten zwar hohe Verluste auf der polnisch-litauischen Seite durch die Aufständischen erzielt werden, doch wurde dieser Aufstand 1651 durch eine Offensive Polen-Litauens erst einmal zerschlagen. Dennoch folgten laut den beiden Forschern besonders kurz vor dem Zerfall Polen- Litauens im 18. Jahrhundert weitere Aufstände, welche die Machtsituation der Adelsrepublik stark schwächten. Demnach lassen sich auch in diesem Fall gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Herrschenden nachweisen. Diese traten nicht nur vereinzelt auf, sondern zogen sich durch die gesamte Herrschaftszeit Polen-Litauens und basierten auf größeren sozialen und kulturellen Ungleichheiten innerhalb der betroffenen ukrainischen Gebiete.

Abschließend lässt sich somit zusammengefasst festhalten, dass aus dem allgemeinen postkolonialen Forschungsdiskurs einige Merkmale für vom Kolonialismus betroffene Gebiete abzuleiten waren. Es konnte diesbezüglich herausgearbeitet werden, dass Kolonien eine kulturelle Anpassung an den Kolonisator durchlebt, Fremdbestimmung erfahren sowie Gewalt, welche von dem Kolonisator ausging, erlitten haben müssen. Diese drei Merkmale weisen auch die ukrainischen Gebiete unter der Herrschaft der Adelsrepublik Polen-Litauens auf. Sowohl das Gefühl der Fremdbestimmung bis in die untersten provinzialen Bevölkerungsschichten als auch gewaltvolle Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung der ukrainischen Gebiete und den damaligen Herrschern waren hierbei klar durch einen Blick auf die aktuelle Forschungsliteratur zur ukrainischen Geschichte nachzuweisen. Auch eine kulturelle Anpassung an Polen-Litauen war besonders beim Adel erkennbar. Ob diese aber auch in den eher provinzialen Bevölkerungsschichten der ukrainischen Gebiete angekommen ist, konnte nicht gezielt nachgewiesen werden.

Trotzdem lässt durch diese Erkenntnisse die zentrale Frage des Essays mit einem Ja beantworten. Ja, allgemeine postkoloniale theoretische Forschungsansätze, in diesem Fall die allgemeinen Merkmale der von Kolonisation betroffenen Gebiete, sind auch hier zielführend anwendbar. Somit kann durch dieses Essay beispielorientiert bewiesen werden, dass allgemeine postkoloniale theoretische Ansätze auch im osteuropäischen historischen Kontext genutzt werden können. Doch ob es ratsam ist, im osteuropäischen Kontext mit den gleiche Forschungsansätzen zu arbeiten wie zum Beispiel im afrikanischen, amerikanischen und asiatischen Kontext, bleibt unbeantwortet. Hier scheint jeder Forschende selbst gefragt zu sein. Sinnvoller erscheint es in dem Zusammenhang vielleicht, postkoloniale Theorien gezielt an die osteuropäischen historischen Verhältnisse anzupassen und diese dann gezielt zu nutzen. So könnte man im Einzelfall eine Gleichstellung der gewaltsamen Unterwerfung afrikanischer, asiatischer und amerikanischer Gemeinschaften und die Unterwerfung osteuropäischer Gemeinschaften im Rahmen von Kriegen gezielt vermeiden und gleichzeitig kontextorientierter arbeiten, sodass besonders heute in einer Zeit, in der die osteuropäische Geschichte immer mehr in den Fokus des öffentlichen Diskurses rückt, noch gezielter argumentiert werden kann, ohne Fragen des kolonialen Vergleiches ungewollt hervorzurufen.

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