Der Holocaust im Film – Aufklärung oder Ausnutzung? – Ein Plädoyer für Polanskis „Der Pianist“

„Die Erinnerung, meine Damen und Herren, ist wie das Wasser: Sie ist lebensnotwendig und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen. Sie ist immer konkret: Sie hat Gesichter vor Augen, und Orte, Gerüche und Geräusche. Sie hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluß für bearbeitet oder für beendet zu erklären.“
(Noach Flug am 23.06.2010 anlässlich des Festakts zum zehnjährigen Bestehen der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“)

Der Holocaust stellt eines der dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte dar und ist auch 80 Jahre später weiterhin Gegenstand vieler Debatten. Neben den Grundsatzdebatten um die Entstehung, den Ablauf, die Täter etc., sind es vor allem die Problematiken rund um die Darstellung und Darstellbarkeit des Holocaust in Massenmedien, welche den Kern moderner Forschung bilden. Dem zugrundeliegend sind die nach dem Krieg einsetzenden Erinnerungs- und Verarbeitungsprozesse, welche dazu führten, dass sich der Völkermord an europäischen Juden als Thema verstärkt in Literatur, Film und Fernsehen wiederfand.

Besonders der Film mit seinem audiovisuellen Charakter ließ das kritische Echo bezüglich der Inszenierungsweise eines solch traumatischen Ereignisses lauter werden. Welch großen Einfluss Filme und Serien auf Gesellschaft und Wissenschaft haben, lässt sich an zwei Beispielen zeigen: Einerseits an der Mini-Serie Holocaust (1978, Marvin J. Chomsky), welche dazu führte, dass der Begriff „Holocaust“ als Bezeichnung für den Völkermord an Juden auch in Deutschland gebräuchlich wurde, andererseits an dem Spielfilm Schindlers Liste (1993, Steven Spielberg), welcher einen nie dagewesenen Hype um das Thema Holocaust und seine Darstellung im Film auslöste. Dass diese Kommerzialisierung und die immer vielfältiger werdenden Illustrierungen des Holocaust neben vielen Chancen auch Gefahren in sich bergen, ist offenkundig. Filme über den Holocaust können ein heikles Thema trivialisieren oder reduzieren. Sie können eine Schockwirkung ausnutzen und dabei die Historizität vergessen. Sie können es versäumen, sich von der den Vorbildern zugrundeliegenden Ideologie zu lösen. Die Fragen, die gestellt werden müssen, sind schon lange nicht mehr die nach dem „Ob“, sondern die nach dem „Wie“.

Eine Fillmszene, Quelle: Flickr

Der Pianist (2002, Roman Polanski) ist – so sei bereits vorgreifend gesagt – ein Film, dem es gelingt, all diesen Gefahren mit Bravour aus dem Weg zu gehen. Basierend auf der Autobiographie Władysław Szpilmans mit dem Zweittitel Mein wunderbares Überleben, erzählt er die Überlebensgeschichte Szpilmans im Warschauer Ghetto während des Zweiten Weltkriegs. Trotz dreier Oscar-Auszeichnungen steht Polanskis Meisterwerk bei Debatten um die Darstellung des Holocaust im Film oftmals im Schatten seines großen Vorgängers Schindlers Liste. Dabei steht Der Pianist exemplarisch für einen Film, welcher alle potenziellen Gefahren durch eine authentische und gekonnte Art der Inszenierung sowie eine perfekte Balance zwischen Unterhaltung und Erinnerung umgeht.

Mein Vorgehen wird nun Folgendes sein: Ich werde die bereits angerissenen Gefahren der Darstellung des Holocaust im Film noch ein wenig vertiefen und daraufhin aufzeigen, auf welche Weise Polanski es schafft – diesem gewagten Unterfangen zum Trotz – eines der auf filmischer Ebene bedeutendsten Erinnerungswerke des Holocausts zu schaffen.

Gefahr 1: Trivialisierung, Gewöhnung, Genre-Bindung

Quelle: Flickr

Mit dem Aspekt der Trivialisierung greife ich besonders die Position Georg Seeßlens auf, welcher aussagt, dass bei der Reproduktion eines hochkontroversen Themas und seiner Einführung in den Mainstream die Gefahr einer Abflachung der Problematik sowie einer zunehmenden Gewöhnung der Rezipienten an diese Problematik bestehe. „Die Ikonografie des Grauens“ nutze sich dabei ab, wodurch gleichzeitig das Gefühl des Entsetzens und der Beklemmung verloren gehe (Seeßlen 2002). Verbunden mit der Gefahr der Trivialisierung ist zudem die Bindung des Films an Genre- bzw. Kinokonventionen. Rücken dramaturgische Notwendigkeiten in den Vordergrund, so können Authentizität und Erinnerung schnell in den Hintergrund rücken. Wie schafft es nun also der dreifach mit dem Oscar ausgezeichnete und populäre Der Pianist ein hochkontroverses Thema wie den Holocaust ohne Trivialisierung und Genre-Bindung darzustellen? Naja, indem Polanski eben nicht darauf abzielt, einen populären Film zu inszenieren. Er entschied sich bewusst gegen einen großen Spielfilm und lehnte auch die Regie für Schindlers Liste ab, um neun Jahre später mit Der Pianist seine eigenen Vorstellungen eines Holocaust-Films verwirklichen zu können. Dabei schafft er es eindrucksvoll, eine Brücke zwischen Filmkunst und populärer Kinokultur herzustellen (Ebbrecht 2011: 180). Im Gegensatz zu vielen anderen Holocaust-Filmen verzichtet Polanski dabei auf jegliche Genre-Konventionen. Rodek stellt dies treffend fest, indem er den Charakter des Films, welcher eben nicht von dramaturgischen Notwendigkeiten und festgeschriebenen Zyklen bestimmt ist, hervorhebt, und ihn mit der Intention des Films, ein bleibendes Zeugnis und nicht eine emotionale Erfahrung sein zu wollen, verknüpft. Der Pianist sei dabei weder experimentell noch avantgardistisch; viel mehr wirke er wie ein Film unter Schock, welcher eine standardisierte Darstellung des Holocaust biete, anstatt einer Version der aufgeklärten Moderne mit verarbeitender Funktion (Rodek 2002; Ebbrecht 2011: 179; Kabalek 2007: 63). Daher ist ein Vergleich zu Schindlers Liste meines Empfindens nach auch unpassend, aber dazu später mehr…

Gefahr 2: Reproduktion der Täterperspektive/Ideologisierung

Władysław Szpilman (1911-2000), via Wikimedia Commons

Die zweite Gefahr spielt auf das Risiko der Reproduktion einer Täterperspektive an, also dem Übernehmen der Ideologie aufgrund fehlender Distanz zum Originalmaterial. Da Polanski für Der Pianist historische Vorbilder imitiert, also mittels Archivmaterial deutscher Soldaten ein Erinnerungsbild schaffen wollte, ist dieses Risiko auch durchaus vorhanden. Viele der Aufnahmen im Film sind nachgestellte Filmaufnahmen deutscher Filmleute aus dem Warschauer Ghetto, meistens mit antisemitischer Absicht aufgenommen. Der deutsch-polnische Publizist Marcel Reich-Ranicki bewertete die Aufnahmen der Deutschen daher zurecht als „gestellte Szenen der widerlichsten Art“ (Reich-Ranicki 2002). Es sind aber auch eben diese Bilder, die in das kollektive Gedächtnis der Menschen gelangt sind, wenn es um die Erinnerung an die Prozesse im Warschauer Ghetto geht. Eine Authentifizierung ist daher geknüpft an die Verwendung von Bildern des kollektiven Gedächtnisses. Wie schafft es Polanski also, einen authentischen Film zu entwickeln, der sich aber völlig loslöst von der Ideologie, die er porträtiert?  Zentral für die Beantwortung dieser Frage ist die Betrachtung der Subjektivierung in Der Pianist und der daraus resultierenden Distanz zwischen der Täterperspektive und der Filmperspektive. Polanski entledigt sich des ideologischen Überbaus, indem er sich stark an der Buchvorlage Władysław Szpilmans von 1946 orientiert, welche selbst noch nicht auf die „nach dem Kriege schnell formulierten Deutungsangebote religiöser oder philosophischer Meistererzählungen“ Bezug nahm. (Koch 2007: 293). Er dokumentiert diese Ereignisse allerdings nichts, sondern schafft einen Spielfilm, der in den historischen Kontext eingebettet ist. Verdeutlicht wird dies bereits durch die Anfangsszene, in der sich Schwarz-Weiß-Aufnahmen Warschaus langsam zum Farbfilm entwickeln. Polanski verwendet keine Archivaufnahmen; er stellt sie offensichtlich nach und verdeutlicht die Historizität der Ereignisse. Damit erwirkt er die nötige Distanz in der Erzählperspektive und wahrt dennoch die Nähe, die die Zuschauer zu den dargestellten Ereignissen haben sollen (Schulze 2004: 71). Zusätzlich wird Distanz geschaffen, indem sich im Film selbst fast ausschließlich auf die Perspektive Szpilmans beschränkt wird. Die Täterperspektive verschwindet dabei allerdings nicht einfach, sondern verschiebt sich durch den aktiven Beobachter ins Passive. Dies lässt sich gut anhand der Szene verdeutlichen, in der die Familie Szpilmans ins Vernichtungslager Treblinka deportiert wird. Die verwendeten Bilder beziehen sich eindeutig auf Archivaufnahmen der Deutschen, jedoch nimmt Szpilman sie als betroffenes Opfer und Zeuge wahr, wodurch sie ihre ursprüngliche Ideologie verlieren. Durch diese subjektive Perspektive würde das historische Material zudem von einem zunehmenden „Prozess der Musealisierung“ losgelöst und mit einer „neuen, individualisierten Eindringlichkeit“ ausgestattet (Koch 2007: 298).

Gefahr 3: Der Film als Mittel der Verdrängung

Die Gefahr der Verdrängung ist eng verbunden mit der bereits oben beschriebenen Gefahr der Gewöhnung. Allerdings scheint mir der Prozess der Verdrängung ein aktiverer zu sein als allein der trivialisierende Effekt einer Quantität von Genre-Filmen über den Holocaust. Es muss hier also noch genauer auf die Intention des Films und die auf der Gegenseite stattfindende Rezeption der Zuschauer geachtet werden (Rauch 2018). Dementsprechend lohnt es sich, die Verdrängung als eigenen Abschnitt zu besprechen.

Exposition über Władysław Szpilman im Museum des Warschauer Aufstandes 1944, via Wikimedia Commons

Allgemein lässt sich erst einmal feststellen, dass die Zeitzeugen der Geschehnisse im Warschauer Ghetto allmählich immer weniger werden und die Grenzen des kommunikativen Gedächtnisses damit bald erreicht sind. Die Bewahrung der Erinnerung findet sodann über das kulturelle Gedächtnis, also u.a. durch die mediale Speicherung und die daraus resultierenden Erinnerungsbilder von Kollektiven statt (Corell 2009: 13). Der Pianist stellt dabei die Schwelle zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis dar, indem er einerseits eine Nachbildung des 21. Jahrhunderts ist und damit Bezüge der neuen Generationen zum Thema Holocaust herstellt, und andererseits die vom Zeitzeugen Władysław Szpilman geschilderten Erfahrungen in möglichst authentischer Weise auf Film bringt (Stiglegger 2004: 8). Damit reiht sich der Film weder in eine Reihe von Genre-Filmen ein, noch trägt er zu einer von Sven Kramer als Gefahr beschriebenen Diskurswucherung und der damit einhergehenden Verflachung der eigentlichen Problematik bei (Kramer 1999: 2). Polanski schafft mit Der Pianist Erinnerungen und keine Gewöhnung. Durch die hohe Authentizität gelingt es ihm, Ereignisse, die spätere Generationen nie erlebt haben, erfahrbar zu machen: „Polanski inszeniert die Szenen des Terrors so klar, schonungslos und überzeugend, dass sie für den Zuschauer den Rang von eigenen Erlebnissen annehmen können (Giesenfeld 2002). Auch Hauptdarsteller Adrien Brody bestätigt dies, wenn er in seiner Oscar-Rede sagt: „[…] my experiences in making this film made me very aware of the sadness and the dehumanization of people at times of war, and the repercussions of war.” Das Wissen über den Holocaust und ein historisches Verständnis wird laut einer empirischen Studie von Stefanie Rauch vor allem von Filmen mit hoher Authentizität erweitert bzw. verändert, und genau dies trifft auch auf Der Pianist zu (Rauch 2018: 179). In diesen Aspekten – der Intention des Films, der Darstellungsweise und dem Effekt auf die Zuschauer – liegt u.a. auch der Unterschied des Films von Polanski zu Spielbergs Schindlers Liste, doch dazu mehr im nächsten Abschnitt.

Gefahr 4: Fokus auf Spektakulärem/Ausschöpfung des „Horrorpotenzials“

Der Holocaust ist übertragbar auf alle Genres des Films. So gibt es neben den klassischen Dramen auch Komödien, wie Das Leben ist schön (1997, Roberto Benigni) oder Horrorfilme, wie Der Leichenverbrenner (1969, Juraj Herz). Die Übertragung auf verschiedene Genres muss dabei allerdings nicht automatisch schlecht sein. Wären alle Filme über den Holocaust in einem nüchternen, fast schon dokumentarischen Stil gehalten, wie es bei Der Pianist der Fall ist, so würde sicherlich eine große Menge an Menschen nie den Zugang zum Thema Holocaust über die Filmkultur erlangen. Ein Film kann trotz der Bindung an Genre-Konventionen einen wichtigen Beitrag für das gegenwärtige kollektive Gedächtnis über den Holocaust leisten – die Frage nach dem „Wie“ ist demnach viel entscheidender. Bezieht man die Frage nach dem Wie auf Der Pianist, so lässt sich deutlich zeigen, dass der Film nicht einzig die Wirkungsästhetik der Unterhaltung verfolgt, sondern das kollektive Gedächtnis durch den Charakter eines Erinnerungsprotokolls prägt (Rodek 2002). An oberster Stelle steht die Authentizität, also die möglichst realistische Nachbildung der Zustände und Stimmung im Warschauer Ghetto. Die Umsetzung erfolgte durch mehrere wesentliche Entscheidungen Polanskis bzw. der ganzen Filmcrew. Zunächst erwähnt sei hier der Verzicht auf einen spannenden, die Aufmerksamkeit erregenden Titel. Des Weiteren wurde im Film ausschließlich auf zu der Zeit unbekanntere SchauspielerInnen gesetzt. Adrien Brody, der den Protagonisten Wladyslaw Szpilman verkörpert, war zu Beginn der Produktion allein durch seine Nebenrolle in dem Kriegsdrama Der schmale Grat (1998, Terrence Malick) aufgefallen. Im Film selbst wird mithilfe verschiedener Mittel ein Realismus-Effekt erzeugt. So sorgt der Einstieg des Films, welcher in Schwarz-Weiß gehalten ist, bereits für einen authentischen Eindruck. Des Weiteren schaffen Texteinblendungen mit Datierungen eine „Rhetorik der Nachprüfbarkeit“ (Kramer 1999: 33). Auch die Verdeutlichung der Topographie und Struktur der Handlungs-orte durch die Verwendung von Originalschauplätzen, wie dem Stadtviertel Praga in Warschau, oder markanter Strukturen, wie der zwei Ghetto-Distrikte verbindenden Brücke, sind in diesem Kontext zu nennen (Ebbrecht 2011: 173). Besonders beachtlich erscheint mir aber die Erzeugung einer bedrohlichen Atmosphäre. Gewaltexzesse werden in ihrer vollen Nüchternheit und Unmittelbarkeit dargestellt, ohne dass eine Verharmlosung oder Ausschweifung der Brutalität stattfindet. Der ständig drohende Tod durch die Lust der Nazis am willkürlichen Töten wird hervorragend inszeniert, ohne im Verlaufe des Films abstumpfend zu wirken (Corell 2009: 256). Der Realismus findet auch statt, weil sich die Darstellung auf die Wahrnehmungsgewohnheiten und Kenntnisse der Zuschauer stützt (Corell 2009: 170). Polanski verwendet vor allem Archivbilder der Deutschen, welche das kollektive Gedächtnis geprägt haben und knüpft somit an den Kenntnisstand der Zuschauerschaft an. Er erfindet weder etwas dazu noch baut er spannungsdramaturgische Elemente in die Handlung ein.

Gefahr 5: Irrelevanz des Films aufgrund Schindlers Liste

Schindlers Liste gilt als DER Holocaust-Film. Er sorgte für das größte Echo, wurde am häufigsten rezipiert und würde wohl den meisten beim Thema ‘Holocaust im Film als erstes in den Sinn kommen. Folgt man der Wahrnehmung Andreas Kilbs, so kann man fast schon den Eindruck bekommen, dass durch Schindlers Liste alles bereits erzählt wurde, was es zu erzählen gibt.

„[…] und dennoch kommt es einem vor, als ob man alles, was er zeigt, schon irgendwo gesehen hätte, bei Steven Spielberg („Schindlers Liste“), Andrzej Wajda („Korczak“), Agnieszka Holland („Hitlerjunge Salomon“) und vielen anderen. Die Zeit zerstört nicht alles, aber sie verändert die historischen Perspektiven, und so lässt sich nicht übersehen, dass „The Pianist“, der vor zwei Jahrzehnten ein Ereignis gewesen wäre, heute um ebenjene Jahrzehnte zu spät kommt, dass das, was er sagt und zeigt, bereits schlüssig gesagt und gezeigt worden ist – auch wenn man es nicht oft genug sagen und zeigen kann.“ (Kilb 2002)

Doch dies ist meiner Meinung nach nicht zutreffend. Kilb ignoriert in seinen Aussagen völlig, dass Der Pianist vor ganz anderen Hintergründen produziert wurde und des Weiteren einen anderen Anspruch als Schindlers Liste an sich selbst hat. Wäre der Stoff Polanskis kongruent zu dem Spielbergs, warum hätte Polanski sich dann gegen eine Verfilmung von Schindlers Liste und für eine Verfilmung von Der Pianist aussprechen sollen? Es ist in dem Kontext zu beachten, dass Polanski im Gegensatz zu Spielberg mit Primär-Erfahrungen ausgestattet ist, welche er auch immer wieder in den Film miteinfließen lässt. Als Kind überlebte er das Krakauer Ghetto und war genauso wie Szpilman lange auf der Flucht vor den Nationalsozialisten (Ebbrecht 2011: 180). Auch die dem Film zugrundeliegende Buchvorlage Szpilmans Mein wunderbares Überleben unterscheidet sich von Thomas Keneallys Roman Schindlers Liste (1982), da sie eine unmittelbare Beschreibung individueller Kriegserfahrungen beinhaltet und nicht auf offiziellen Dokumenten und Interviews beruht. Eine Gleichartigkeit ist also bereits ausgeschlossen, vor allem wenn man beachtet, dass die Erzählhaltung von Der Pianist primär durch die Buchvorlage bestimmt ist. Ein großer Unterschied ergibt sich außerdem durch den ungleichen Anspruch, welcher beiden Filmen innewohnt. Natürlich haben sowohl Der Pianist als auch Schindlers Liste den Anspruch, ein möglichst authentisches Bild der Prozesse des Holocaust zu präsentieren, was beiden Filmen auch ohne Frage gelingt. Dennoch stimme ich Peter Schulze zu, wenn er von einer „Enthistorisierung“ in Bezug auf Schindlers Liste spricht (Schulze 2004: 73-74). Während in Der Pianist die Person des Władysław Szpilman genutzt wird, um das wundersame Überleben einer Einzelperson in einer Welt, in der ständig der Tod droht, zu porträtieren, so liegt in Schindlers Liste der Fokus viel mehr auf dem „Schutzherren“ Oskar Schindler und seinem moralischen Antagonismus zu SS-Offizier Amon Göth. Der Schrecken des Holocaust, welcher in Der Pianist kohärent zum Überleben Szpilmans dargestellt wird, weicht in Schindlers Liste folglich der Ideologisierung der Welt in Gut und Böse, in der sich hinterher das Gute durchsetzt. Es ist eben besonders die Erinnerungsarbeit, die Polanskis Film so besonders und wichtig macht: „Sowohl Schindler’s List als auch The Pianist sind letztlich kathartisch ausgerichtet. Doch während Spielbergs Film den Holocaust versöhnlich darstellt, und mit einer Sinngebung versieht, kommt es bei Polanski zu einer Vergegenwärtigung der Schrecken, ohne dabei den Holocaust durch einen sinnstiftenden Bezug zu relativieren. Findet bei Spielberg eher eine Aufarbeitung statt, so ist Polanskis Darstellung tatsächlich als Erinnerungsarbeit zu bezeichnen.“ (Schulze 2004: 74).

Gefahr 6: Ausblendung der Regel durch Darstellung der Ausnahme

Wie bereits angerissen, ist also auch die Ausblendung der Regel durch die Darstellung einer Ausnahme durchaus als ein Risiko zu sehen. Leicht entsteht ein verzerrtes Bild der Geschichte, in der die Rettung und das Überleben der Juden zum Normalfall werden. Der Pianist verhindert dies allerdings konsequent, indem sich der Film und übrigens auch schon die Buchvorlage als Ausnahme kennzeichnen. Nicht ohne Grund nannte Szpilman seine Autobiographie Mein wunderbares Überleben. Der Tod, das Leid und die Schrecken der NS-Herrschaft werden dabei nicht ausgeblendet. Die Regel ermöglicht erst die Ausnahme, wobei das Leben Szpilmans sich in großen Teilen auf das Überleben beschränkt. Wie Schulze auch richtig beschreibt, werden in Der Pianist kausale Zusammenhänge nicht durch gute Taten geschaffen. Die Suche nach dem deutschen Wehrmachtssoldaten Wilm Hosenfeld, dem Retter Szpilmans, scheitert, da Hosenfeld bereits in das Kriegsgefangenlager Stalingrad überstellt wurde, in dem er 1952 schließlich starb. Auch von einem klassischen Happy End kann nicht die Rede sein, da Szpilman zwar auf wundersame Weise überlebte, dies allerdings vor dem Hintergrund der Ermordung seiner Familie und vieler weiterer Juden im Warschauer Ghetto geschah (Schulze 2004: 72-73).

Gefahr 7: Falsche Infos/Anachronismen

Eine klassische Gefahr eines Films über geschichtliche Prozesse ist die der Falschdarstellung. Gemeint sind faktische Fehler, wie bspw. Anachronismen, die häufig bewusst in Filmen genutzt werden, um eine innere Logik herzustellen. In Der Pianist ist tatsächlich ein Anachronismus gleich zu Beginn des Films zu finden. Es handelt sich dabei um die Szene, in der Familie Szpilman die Verkündung der britischen Kriegserklärung an Deutschland vom 03.09.1944 über Funk verfolgt, welche allerdings von der Sportpalastrede Goebbels‘ von 1943 überlagert wird. Ein Anachronismus, der allerdings kaum auffällt und auch kein Geschichtsbild ernsthaft bedrohen dürfte. Zudem muss gesagt sein, dass Der Pianist durchgehend sehr realistisch und authentisch inszeniert ist und die Darstellungen auf Fakten basieren. Wie bereits mehrfach erwähnt, ist es eben auch Polanskis Anspruch gewesen, belegte historische Fakten auf Basis der Autobiographie Szpilmans zu rekonstruieren (Corell 2009: 240). Auch Reich-Ranicki, welcher selbst das Warschauer Ghetto überlebte, lobte gerade diese Genauigkeit und treffende Atmosphäre des Films (Reich-Ranicki 2002).

Fazit

Polanskis Der Pianist ist ein eindrucksvoller Film über den Holocaust, welcher durch einen authentischen und realistischen Charakter einen großen Teil zur Erinnerung des Holocausts leistet. Hier also nochmal die Gründe zusammengefasst, warum der Film Pflichtprogramm für jede(n) Film- und Geschichtsinteressierte(n) sein sollte:

  • Hat den Anspruch, ein bleibendes Zeugnis zu sein, und dient daher weder der Trivialisierung noch der Gewöhnung bzw. Verdrängung
  • Schafft durch die Fokussierung auf Szpilman eine Distanz und löst sich damit von der Täterperspektive
  • Setzt auf eine authentische und realistische Darstellungsweise und verhindert damit eine rein unterhaltende Wirkung auf die Zuschauer
  • Nutzt die Ausnahme, um die Regel zu verdeutlichen und sorgt deshalb nicht für ein verzerrtes Geschichtsbild
  • Unterscheidet sich in mehreren Aspekten von Schindlers Liste und ist demnach alles andere als irrelevant
  • Achtet auf historische Korrektheit und vermittelt ein adäquates Geschichtsbild

Literatur:

Corell, Catrin: Der Holocaust als Herausforderung für den Film. Formen des filmischen Umgangs mit der Shoa seit 1945. Eine Wirkungstypologie, Bielefeld 2009.

Ebbrecht, Tobias: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narration des Holocaust, Bielefeld 2011.

Giesenfeld, Günter: Das wunderbare Überleben, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (12/2002).

Kabalek, Kobi: Unheroic Heroes: Re-Viewing Roman Polanski’s The Pianist (2002) in Germany and Israel, in: Apfelthaler, Vera; Köhne, Julia Barbara (Hgg.): Gendered Memories. Transgressions in German and Israeli Film and Theater, Wien 2007, S. 61-82.

Kilb, Andreas: Das Unzerstörbare. „Irréversible“ von Gaspar Noé und „Der Pianist“ von Roman Polanski, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (25.05.2002), URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/cannes-das-unzerstoerbare-158829.html, abgerufen am: 03.04.2021.

Koch, Lars: Zwischen Distanznahmen und Subjektivierung. Roman Polanskis Holocaust-Film Der Pianist (2002), in: Wende, Waltraud (Hg.): Der Holocaust im Film. Mediale Inszenierung und kulturelles Gedächtnis, Heidelberg 2007, S. 305-327.

Kramer, Sven: Auschwitz im Widerstreit. Zur Darstellung der Shoah in Film, Philosophie und Literatur, Wiesbaden 1999.

Rauch, Stefanie: Understanding the Holocaust through Film. Audience Reception between Preconceptions and Media Effects, in: History and Memory 30 (2018), S. 151-188.

Reich-Ranicki, Marcel: Polanskis Todesfuge, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.10.2002), URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino-polanskis-todesfuge-192670.html, abgerufen am 04.04.2021.

Rodek, Hans-Georg: Bloß keine Kinotränen. Ein Denkmal, keine Unterhaltung: Roman Polanskis Warschauer Ghetto-Film „Der Pianist“, in: Die Welt (23.10.2002), URL: https://www.welt.de/print-welt/article417653/Bloss-keine-Kinotraenen.html, abgerufen am 04.04.2021.

Schulze, Peter: Geschichts-Schichtungen. Zur Darstellung des Holocaust bei Steven Spielberg und Roman Polanski, in: Augenblick 36 (2004), S. 61-75.

Seeßlen, Georg: Die Seele im System, in: Die ZEIT (24.10.2002), URL: https://www.zeit.de/2002/44/200244_pianist.xml, abgerufen am 02.04.2021.

Stiglegger, Marcus: Einleitung. Die Schwellen des Archivs, in: Augenblick 36 (2004), S. 5-9.

Szpilman, Władysław: Der Pianist. Mein wunderbares Überleben (1946).

Tristan Meschede

Ich studiere seit 2019 Geschichte und Anglistik im 2-Fach-Bachelor an der Ruhr-Universität Bochum. Besonders interessiere ich mich für Filmgeschichte und die Darstellung von Geschichte in Filmen. Einen weiteren Blogbeitrag von mir zum Thema "Antikenrezeption in Folk Horror Filmen" lässt sich ebenfalls im Internet finden. Generell schreibe ich gerne und finde dabei das Format Blogbeitrag sehr ansprechend.

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