Der Studienort ist von großer Bedeutung für Studierende, denn er beeinflusst nicht nur den akademischen Werdegang, sondern auch die persönliche Entwicklung und die Erfahrungen während der Studienzeit. Ein Faktor bei der Wahl des Studienortes wird dabei oft außer Acht gelassen – die Infrastruktur der Universität. Das Studienleben auf dem Campus bietet viele Vorteile und ist typisch für zahlreiche Hochschulen. Wenn die Fakultäten und Einrichtungen jedoch über die Stadt verteilt sind, ergeben sich vielfältigere Möglichkeiten und Wahrnehmungen. Ob Erststudium, Auslandssemester oder Masterprogramm: Eine Auseinandersetzung mit der Infrastruktur der angestrebten Universität hilft die potenziellen Erfahrungen einzuordnen.
Erkenntnisse einer Exkursion von der Ruhr an die Oder
Studienreisen ermöglichen gelerntes Wissen in einem realen Kontext zu erleben. Unsere Exkursion von der Ruhrmetropole Bochum nach Wrocław öffnete viele neue Perspektiven. Nach dem Besuch eines Seminars an der Philologischen Fakultät der Universität Wrocław, wurden wir von einer Studentin zum barocken Hauptgebäude der Universität begleitet, welches zeitgleich als Museum fungiert. Während des kurzen Spaziergangs passierten wir das historische Ossolineum (Bibliothek und Literaturarchiv) und teilten uns die Fußwege sowohl mit Anwohnern als auch Touristen. Was für sie ein gewöhnlicher Fußmarsch war, verwandelte sich für uns in eine faszinierende Besichtigungstour. Die epochalen Räume des Hauptgebäudes der Universität zeichnen sich durch illusionistische Wandmalereien, prunkvolle Dekorationen und Skulpturen aus und hinterlassen bleibenden Eindruck. Die Aula Leopoldina und das Oratorium Marianum ziehen täglich viele Touristen an und dienen bis heute als Fest- bzw. Konzertsaal der Universität. Der angeschlossene mathematische Turm ist ebenfalls Teil des Museums und eine beliebte Aussichtsplattform in Wrocław. Das kulturelle Leben der Stadt geht mit dem akademischen Leben der Studierenden einher und verbindet eine Vielfalt von Menschen verschiedener Interessen. Diese Erfahrungen machen Studierende einer typischen Campusuniversität in der Regel nicht.
Unser Treffen mit den Professoren und Studierenden der Russischen Kultur- und Literaturwissenschaften verdeutlichte aber auch die Kehrseite der Medaille. Da das Gebäude der Philologischen Fakultät der Universität Wrocław nicht ausreichend Platz für alle Sprachwissenschaften bietet, liegt die Abteilung für Slavische Philologie zwanzig Minuten mit der Straßenbahn von der Philologischen Fakultät entfernt. Die Pendelzeiten zwischen den verschiedenen Einrichtungen müssen eingeplant werden und können für Verspätungen sorgen. Nach Gesprächen mit den Studierenden der Russischen Kultur- und Literaturwissenschaften wurde deutlich, dass die räumliche Trennung den Kontakt zu Studierenden anderer Forschungsgebiete erschwert und das Gemeinschaftsgefühl der Studierenden in Wrocław eher auf die Institute begrenzt ist. Es gibt keinen zentralen Treffpunkt, wie z.B. die Mensa, um täglich von einem interdisziplinären Austausch zu profitieren. Die Fakultätsbesuche warfen folgende Frage auf: Wie beeinflusst die Infrastruktur einer Universität das Leben der Studierenden?
Die Infrastruktur als Ergebnis der Entwicklungsgeschichte
Neben der Reputation der Universität und den verfügbaren Studienprogrammen spielt der Standort eine wichtige Rolle bei der Auswahl des Studienortes. Der Faktor Infrastruktur ist von besonderer Bedeutung, denn er wirkt sich maßgeblich auf den Studienalltag und die damit verbundenen Erfahrungen aus. Doch wie kommen verschiedene Infrastrukturen zustande?
Wegweisend für den Entstehungsprozess der Universität Wrocław ist die Geschichte der Stadt, welche durch diverse Herrschaftswechsel geprägt ist. Aufgrund der konfessionellen und politischen Rahmenbedingungen vor Ort vergehen knapp 200 Jahre zwischen dem Beschluss im Jahr 1505 und der tatsächlichen Gründung einer Universität im Jahr 1702 im damals habsburgischen Breslau. Zunächst verfügt die Universität über nur zwei Fakultäten. Die Fusion mit der Brandenburgischen Universität in Frankfurt-Oder um 1811 führt zum Modell einer Volluniversität. Mit der Zeit entstehen weitere Fakultäten und eigenständige Hochschulen, wie z.B. die Königliche Technische Hochschule in Breslau. Durch die Umstände der Weltkriege werden einige Akademien bis in die Nachkriegszeit hinein an die Universität Wrocław administrativ angegliedert, bevor sie wieder eigenständig arbeiten können. Die Universität Wrocław in ihrer heutigen Form ist daher das Ergebnis jahrelanger wechselhafter Schwierigkeiten. Im Gegensatz zu einer typischen Campusuniversität verteilen sich in Wrocław Fakultäten und Einrichtungen über die ganze Stadt.
Die Geschichte der RUB beginnt deutlich später und verläuft reibungsloser. Im Zuge der Bildungsoffensive legt der Landtag Nordrhein-Westfalens 1961 Bochum als Standort einer neuen Universität fest. In den Jahren darauf entsteht ein gewaltiger Campuskomplex, der zu dieser Zeit das Sinnbild der Modernität widerspiegelt: Eine riesige Fläche, über 40.000 Studierende, Straßen, Parkhäuser, Grünanlagen und Sportplätze auf dem Unigelände. Die Errichtung der RUB folgte also einem klaren Bauplan. Das ca. 400 x 900 Meter große Gelände ist in etwa vier gleich große Rechtecke aufgeteilt, denen die Fachrichtungen zugeordnet sind. Die nüchterne Architektur dient der klaren Orientierung. Und betrachtet man das Erscheinungsbild aus Stahl, Beton und Glas aus der Vogelperspektive, kommt das Konzept „Hafen im Meer des Wissens“ zum Vorschein. Das im Mittelpunkt gelegene Audimax erinnert an eine von Schiffen umgebene Muschel. Obwohl einige Einrichtungen außerhalb des Geländes liegen, ist die RUB eine typische Campusuniversität.
Die Stadt als Campus – wo Wissenschaft auf pulsierendes Stadtleben trifft
Eine über die Stadt verteilte Universität ermöglicht den Studierenden engeren Kontakt zum kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Raum. Die Universitäten sind in das städtische Leben und ihre kulturellen Szenen eingebunden. Ausstellungen, Museen, Konzerte und Theaterstücke werden von Studierenden mitgestaltet und gehören zum akademischen Leben dazu. Dies führt unvermeidlich zur Vernetzung mit Menschen unterschiedlicher Hintergründe und Interessen und erweitert die Lebenserfahrung jenseits des akademischen Charakters. Da in der Stadt üblicherweise eine größere Anzahl von Unternehmen, Organisationen und Institutionen anzutreffen sind, dehnen sich die Praktikums- und Beschäftigungsmöglichkeiten aus. Potenzielle Arbeitgeber sind zugänglicher, was die Chancen auf einen erfolgreichen Berufseinstieg erhöht. Einen weiteren Vorteil stellt die ästhetische Vielfalt dar, welche durch abwechselnde Architektur geschaffen wird. Unterschiedliche Baustile und architektonische Merkmale können eine einzigartige Atmosphäre und ein inspirierendes Umfeld schaffen. Der Erhalt und die Wertschätzung des architektonischen Erbes werden gefördert und bringen die kulturelle Vergangenheit mit der Gegenwart in Verbindung.
Campusuniversität – zwischen Bildung und Freizeit
Ein Campus bietet den Studierenden eine Menge Möglichkeiten, um völlig in das akademische Leben einzutauchen, ohne dabei soziale Interaktionen zu vernachlässigen. Die meisten Einrichtungen und Ressourcen befinden sich in unmittelbarer Nähe und sind schnell zugänglich. So können Studierende nach Seminaren oder Vorlesungen umgehend die Bibliothek oder das Labor nutzen. Und sollten sich zwischen den Veranstaltungen zeitliche Lücken ergeben, können diese in der Mensa bei einem Mittagessen oder mit anderen Freizeitmöglichkeiten, wie z.B. einem Spaziergang im Botanischen Garten überbrückt werden. Der interdisziplinäre Aspekt ist besonders hervorzuheben. Sprachwissenschaftler, Juristen, Mediziner oder Naturwissenschaftler, nur um einige Forschungsschwerpunkte zu nennen, können während ihrer Freizeit zusammenkommen und sich über ihre Fachgebiete austauschen. Die Möglichkeit, studentische Organisationen, Veranstaltungen und Aktivitäten im Vorbeigehen kennenzulernen und sich ihnen anzuschließen, fördern die Teilhabe und stärkt das Gemeinschaftsgefühl der Studierenden.
Campus vs. Stadtuniversität – eine persönliche Entscheidung
Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Infrastrukturen der Universitäten verdeutlicht, dass beide Modelle spezielle Vorzüge bieten.
Studierende einer typischen Campusuniversität wie der RUB genießen viele Vorteile und profitieren von dieser Infrastruktur. Die Pendelzeiten zwischen den Fakultäten, Bibliotheken, der Verwaltung und Mensa sind minimal und die Wege schnell zu Fuß bewältigt. Durch einen Campus kann ein enges Gemeinschaftsgefühl zwischen Studierenden, Dozenten und Mitarbeitern entstehen. Der Fokus auf das akademische Umfeld bietet optimale Lernbedingungen für Studierende und der interdisziplinäre Austausch fördert die Zusammenarbeit zwischen den Fachbereichen.
Die Stadt als akademischer Raum bietet den Studierenden in der Regel eine breitere Palette an Möglichkeiten am kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben der Region teilzunehmen. Studierende sind stärker in das städtische Umfeld eingebunden, wodurch sich eine Vielzahl von Vernetzungsmöglichkeiten über den akademischen Werdegang hinaus ergeben kann. Die Dynamik innerhalb der Stadt schafft abwechslungsreiche visuelle Eindrücke und die ästhetische Vielfalt erzeugt eine inspirierende Atmosphäre. Abschließend sei betont, dass das akademische Angebot, die Bildungsqualität und die Forschungsmöglichkeiten unabhängig von der Infrastruktur der Universität sind und ein erfolgreiches Studium durch beide Arten gewährleistet werden kann. Die Entscheidung hängt von den individuellen Bedürfnissen und Präferenzen der Studierenden ab.