Offen homosexuell zu leben ist in Russland gefährlich: Nach der Verschärfung des sogenannten Propagandagesetzes im Dezember 2022 und dem Verbot der „internationalen LGBTQ-Bewegung“ im Lande im November 2023 sind mehrere Organisationen, Vereine, Massenmedien und Einzelpersonen gefährdet. Gleichgeschlechtliche Paare, Transgender-Menschen oder Männer in Frauenkleidung – selbst die Markierung „18+“ hilft vor den Strafen in diesen Fällen nicht mehr. Aber es war nicht immer so. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war Russland eines der ersten Länder, die das Gesetz zur Verfolgung von Homosexuellen aufhob. Die 1990er und frühen 2000er Jahre wurden zu einer Zeit der freien Äußerungen im kulturellen Bereich, im Showbusiness, in der Zivilgesellschaft und im Alltag. Jedoch schrumpfte der Käfig um die queere Community nach und nach und scheint sich nun vollständig geschlossen zu haben. Etwa seit Mitte der 2010er nutzt der Kreml jede Möglichkeit, den Westen – oder „Gayropa“ – mit seinen „liberalen Freiheiten“ und „Gender-Perversionen“ als Feind zu inszenieren. Mit dem Ziel, im Gegensatz dazu „traditionelle Werte“ und „Moralnormen“ zu verteidigen und das Land im Inneren zusammenzuhalten.
In diesem Bericht wird der Versuch unternommen, die Ereignisse der letzten Jahre abzudecken, die (massen)mediale Darstellung queerer Menschen im Lande zu analysieren und einen Überblick über die aktuelle Situation der LGBTQ-Gemeinschaft in Russland zu verschaffen.
Das neue freie Land?
Homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen wurden in Russland 1993 legalisiert, seit 1999 steht Homosexualität nicht mehr auf der Liste der Geisteskrankheiten. Die 1990er und der Anfang der 2000er Jahre war in Russland von relativer Freiheit für Medien, zivilgesellschaftliche Organisationen, kulturelle Einrichtungen, Künstler:innen und die queere Community geprägt. Heute ist es kaum vorstellbar, aber 1997 stand das Lied „Golubaja luna“ („Blauer Mond“) von Boris Moiseev und Nikolaj Trubač, das das Thema Homosexualität berührte, an der Spitze der russischen Charts; Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre erfreute sich die ukrainische Drag Queen Verka Serdjučka im Lande großer Beliebtheit; und 2003 schickte Russland das Frauenduett t.A.T.u., das das Image der „Lolita-Lesben“ prägte, zum Eurovision Song Contest. Und das sind nur die markantesten Beispiele aus dieser Zeit. Neben der Vielfalt im Showbusiness, einer lebendigen Drag-Szene nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in anderen Städten, zahlreicher thematischer Clubs und Bars, begannen viele Aufklärungsorganisationen und Beratungsstellen ihre Arbeit. Zudem erschienen mit der Entwicklung des Internets und sozialer Netzwerke unzählige themenbezogene Online-Foren, Selbsthilfegruppen und Informationsseiten.
Heutzutage kann behauptet werden, dass eine solche Entwicklung damals sehr vielversprechend war: Russland war eines der ersten Länder der ehemaligen Sowjetunion, das Gesetzesänderungen vornahm, war offen für eine Zusammenarbeit mit ausländischen Organisationen und bot privaten Unternehmen die Möglichkeit, den Telekommunikationssektor zu entwickeln. Die ersten postsowjetischen Länder, die die Gesetzgebung änderten und die Kriminalisierung von Homosexualität abschafften, waren die Ukraine (1991), Estland (1992), Lettland (1992), Moldau (1992), Litauen (1993) und Russland (1993). Eines der letzten war Armenien (2003). In zwei Ländern des postsowjetischen Raums gelten homosexuelle Beziehungen bis heute als illegal – in Usbekistan und Turkmenistan.
Homophobie als Politik des Staates
Allerdings führten seit ungefähr Mitte der 2000er Jahre das erneut gestiegene Interesse an Religionen (zunehmender Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche und in einigen Regionen muslimischer Organisationen), die sowjetische Vergangenheit mit ihrer aus dem Gulag stammenden kriminellen Kultur und Einstellung zu Homosexualität als „Erniedrigung“ und „Entmenschlichung“ sowie die staatliche „Propaganda traditioneller Werte“ und der Widerstand der Regierung gegen „liberale und westliche Freiheiten“ zu einer neuen Welle von Homophobie.
Viele Forschende erklären diese Entwicklung hauptsächlich mit externen Faktoren. Der britische Politikwissenschaftler Andrew Foxall führt diese Wende vor allem auf die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union nach einer Reihe liberalisierter „Farbrevolutionen“ im postsowjetischen Raum zurück: Die Rosenrevolution in Georgien 2003, die Orangene Revolution in der Ukraine 2004 und die Tulpenrevolution in Kirgisistan 2005. Laut Foxall änderte sich der ideologische Vektor Russlands am Ende der zweiten Amtszeit Vladimir Putins (2004–2008) und nahm in seiner dritten Amtszeit (2012–2018) volle Fahrt auf. In den späten 2000er Jahren war das Wort „Gayropa“ (ernst oder ironisch gemeint) bereits im alltäglichen Sprachgebrauch der russischen Medien und der Online-Community verankert. „Gender-Freiheiten“ und die „homosexuelle Bedrohung“ werden im Lande zum Symbol des westlichen „Kulturimperialismus“, und Russland spiele in diesem Prozess eine „besondere Rolle“. Die Forschenden Tatiana Riabova und Oleg Riabov schreiben:
Russian anti-Western discource represents European civilization as currently undergoing a process of degeneration. „Perversion of the normal gender order“ is cited as obvious proof in support of this claim. With ist negative evaluation of Europe, the concept of „Gayrope“ carries out a compensatory function for Russian identity, not only helping to rehabilitate the notion of Russianness but also engendering a new version of the messianic idea of Russia as the bulwark of Christianity and bastion of traditional values called upon to save Europe and the world. In addition, „Gayrope“ is involved in the legitimation of the political order, since the changes in the European gender order are depicted as representing a threat to Russia, which enables the current authorities to position themselves as the rightful custodians of the country’s „normality“.
Im Jahr 2014 belegte das Wort „Gayropa“ den 9. Platz in der Kategorie „Anti-Sprache“ des Wettbewerbs „Slovo goda“ („Wort des Jahres“), der von 2007 (und bis 2022) jährlich von der russischen oppositionellen Zeitung Novaja Gazeta durchgeführt wurde.
Darüber hinaus kann man sagen, dass Homophobie in Russland ihre „regionalen Besonderheiten“ hat. 2017 veröffentlichte Novaja Gazeta die ersten Berichte zu Verschleppungen, Foltern und Ermordungen von schwulen Männer in Tschetschenien. Diese Publikationen stießen nicht nur im Lande, sondern auch in weltweiten Medien auf große Resonanz, woraufhin eine ganze Reihe von Publikationen, multimedialen Projekten und Filmen zu diesem Thema folgte. Obwohl zahlreiche Menschenrechtsorganisationen wie Rossijskaja LGBT-Set’ (Russisches LGBT-Netzwerk) davor schon darauf hingewiesen haben, dass es in der Region Gefängnisse gibt, in denen schwule Männer, lesbische Frauen und Transpersonen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität außergesetzlich festgehalten werden, kann die Reaktion des Staates auf die Publikationen eher als bescheiden und vorsichtig bezeichnet werden. Die tschetschenische Regierung – der Präsident der Republik Ramzan Kadyrov und der Regierungssprecher Al’vi Karimov – behaupten nach wie vor, dass es „in der tschetschenischen Republik keine ,Schwuchteln‘“ gibt und „man niemanden festnehmen oder unterdrücken [muss], den es in [der] Republik gar nicht gibt“. Bisher gilt Tschetschenien als die schwierigste Region in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte, die Einstellung gegenüber der LGBTQ-Gemeinschaft und die Zugänglichkeit für Menschenrechtsverteidiger:innen. Wiederkehrendes Sujet der letzten Jahre: Die durch die tschetschenische Polizei gezwungene Rückkehr in die Republik, in die Elternhäuser entlaufener junger Menschen (nicht nur Homosexueller, sondern beispielsweise auch Mädchen und Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden), ihre „Umerziehung“ und Reue vor laufender Kamera und Anerkennung eigener „Fehler“. Das Ziel dieser brutalen Praxis ist nichts anderes als Angsterzeugung, moralisches Niederhalten und Herrschaftssicherung. Beunruhigende Nachrichten über Verfolgungen und „Schauprozesse“ kommen jedoch nicht nur aus Tschetschenien, sondern auch aus anderen Regionen: Dagestan, Inguschetien, dem Fernen Osten usw.
„Wählst du ein solches Russland?“: Mediale Darstellung
Die (massen)mediale Darstellung queerer Menschen in Russland hat in den letzten Jahren in mehrere Richtungen stattgefunden. Eine Richtung stellte queere Menschen als einen gewöhnlichen Teil der Gesellschaft dar, etwa in populären Fernsehserien, Filmen und auf der Theaterbühne. Die Regisseur:innen machten sich nicht über sie lustig oder verurteilten sie. Im Gegenteil, es wurde versucht, reale Situationen widerzuspiegeln, mit denen offen lebende LGBTQ-Menschen auf die eine oder andere Weise im Laufe ihres Lebens konfrontiert sind. Manchmal, so die Handlung, werden sie allein aufgrund ihrer „nicht-traditionellen“ Orientierung zu Opfern (z.B. Film „Vesel’čaki“/„Jolly Fellows“, 2009; Theaterstück „Vse ottenki golubogo“/„Alle Blautöne“, Satirikon-Theater, 2015; Serie „Nulevoj pacient“/„Patient Null“, 2022), manchmal zeigen andere Protagonist:innen eine zweideutige Haltung gegenüber ihnen – von Hass und Verurteilung bis hin zu Mitleid und Akzeptanz (z.B. Serien „Ottepel’“/„Tauwetter“, 2013; „Ėpidemija“/„Epidemie“, 2019; „Fišer“/„Fischer“, 2023), manchmal wird die Existenz queerer Menschen als etwas ganz Natürliches dargestellt („Aktrisy“/„Schauspielerinnen“, 2023).
Mutige und vielversprechende Versuche, die Einstellung gegenüber LGBTQ zu normalisieren, enden jedoch manchmal in Skandalen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Werbekampagne der russischen Supermarktkette VkusVill aus dem Jahr 2021 mit dem Titel „Rezepte des Familienglücks“. In dieser Werbung wurden neben glücklich lächelnden heterosexuellen Paaren, Familien mit und ohne Kinder, alleinziehenden Müttern und älteren Menschen auch zwei junge Frauen abgebildet, die offen lesbisch sind. Die Botschaft der Kampagne war klar: Die Kunden von VkusVill sind zwar unterschiedlich, aber sie alle sind mit den von VkusVill verkauften Lebensmitteln zufrieden und in ihrem Leben glücklich. Die Firma, die sich von den Unternehmensgiganten durch die Bio-Qualität ihrer regionalen Produkte absetzt, wollte sich auch beim Thema LGBTQ als fortschrittlich und tolerant darstellen. Um Gefahren aufgrund des Verbots der „LGBTQ-Propaganda unter Minderjährigen“ zu vermeiden, haben die Autor:innen der Kampagne das entsprechende Bild mit dem Vermerk „18+“ versehen. Das Netz reagierte rasch mit zahlreichen Kommentaren – von Begeisterung und Lob bis hin zu Hass und Boykottaufrufen. Ein Teil der Kund:innen feierte die Kette und die beiden Frauen aus der Werbung für ihren Mut. Der andere Teil reagierte mit wütender Kritik, Hasskommentaren und direkten Drohungen gegen die beiden Protagonistinnen und die Verantwortlichen bei VkusVill. Als Folge zog das Unternehmen drei Tage nach der Veröffentlichung der Werbung die umstrittenen Bilder zurück. Die Geschäftsleitung wandte sich mit einem Brief an die Kundschaft und bedauerte darin, „die Gefühle einer großen Zahl von Kunden, Mitarbeitern und Partnern verletzt zu haben“. Die Publikation sei ein Fehler gewesen, der auf die „Unprofessionalität einiger Mitarbeiter“ zurückzuführen sei. Dadurch geriet das Unternehmen sowohl in der konservativen Öffentlichkeit als auch bei liberal gesinnten Bürger:innen in Verruf.
Eine andere Richtung der Darstellung von queeren Menschen ist sehr eng mit der Politik des Staates verbunden und nutzt ein sehr stereotypes Bild von Homosexuellen aus, verspottet sie, stellt sie als eine Art Narren dar, als fremdartige Elemente der Gesellschaft. Beispiele hierfür sind mehrere Werbespots, die entweder im föderalen Fernsehen ausgestrahlt oder von staatsnahen Strukturen erstellt wurden und in sozialen Netzwerken viral geworden sind. Das erste Beispiel ist die im Jahr 2021 im Staatsfernsehen verbreitete Werbung vom Speiseeis „Vologodskij plombir“ mit dem Slogan „Natural’no!“ (kann mit „Natürlich“ und „Naturelles [Eis]“ übersetzt werden). Die Werbung hat mehrere Bedeutungsebenen: eine visuelle, symbolische und sprachliche. Die visuelle Gestaltung betont Gegensätze: ein Protagonist ist blond, groß, in Weiß angezogen, maskulin aussehend – ein „typischer Russe“. Ein anderer dagegen wird lächerlich dargestellt: er hat ein buntes Wams, ist geschminkt und gekünstelt – vermutlich ein „Franzose“. Dies ist ein klassisches dichotomes Bild von „Freund/unser Mensch“ und „Feind/Ausländer/Fremder“. Der „Russe“ hat ein „normales“ weißes Pferd, neben dem „Franzosen“ steht ein kleines regenbogenfarbenes (wie aus einem fremden Märchen erschienenes) Einhornpony. Es wird eine weiße Speiseeissorte aus natürlichen Zutaten beworben und im Gegenzug ein regenbogenfarbenes Eis zweifelhafter Herstellung gezeigt. Die Regenbogenfarbe und das Einhorn werden hier als allgemein bekannte Symbole der LGBTQ-Community verwendet. Außerdem kann dies auch als eine Anspielung an ein anderes in Russland hergestelltes Eis – „Raduga“ („Regenbogen“ der Firma Čistaja linija) – gesehen werden. Dieses Eis ist im Jahr 2020 berühmt geworden, als die Duma-Abgeordnete Ekaterina Lachova in einer Videokonferenz mit dem Präsidenten Putin die knallbunte Werbung dieser Eismarke als „Homo-Propaganda“ kritisiert hat. Das in der Werbung mehrmals verwendete Wort „natural’no“/„natural’noe“ betont die „traditionelle“ Orientierung des „Russen“: Als „Natural“ wird im Russischen umgangssprachlich ein Heterosexueller bezeichnet. Die Botschaft ist damit klar: Diese Eismarke ist für „unsere Leute“, für „Naturals“, für diejenigen, die die „traditionellen“ Werte teilen.
Ein anderes Beispiel ist ein anonymer Werbespot, der während des Präsidentschaftswahlkampfes im März 2018 im Netz verbreitet wurde. Der Spot betonte, wie wichtig es sei, wählen zu gehen. Was passiert, wenn man nicht ins Wahllokal geht, zeigt das Video: Hyperinflation, Erhöhung des Wehrdienstalters, Beschränkung der Zahl von Toilettenbesuchen am Tag. Diskriminierend werden dabei zwei Gruppen dargestellt, die der Protagonist in seinem Alptraum sieht: Ein Schwarzer Soldat, der zusammen mit einem Offizier kommt, um den Protagonisten in die Armee einzuziehen, und ein Homosexueller, der nun in der Wohnung des Protagonisten wohnt. Beim letzten Fall geht es im Video um ein Gesetz, das jede Familie verpflichtet, einen Schwulen „in ihre Obhut“ zu nehmen. Das Ganze motiviert den Protagonisten ins Wahllokal zu gehen. Obwohl, wie bereits erwähnt, die Autor:innen des Videos nicht bekannt sind, ist es offensichtlich, dass es durch die Ausnutzung der lebhaftesten Stereotypen (und die Teilnahme des bekannten russischen Serienschauspielers Sergej Burunov) die Aufmerksamkeit der Wähler:innen auf sich ziehen und sie motivieren soll, für eine Zukunft ohne „liberale Werte“ und „Gender-Freiheiten“ zu stimmen.
Ein weiteres Beispiel ist ein wiederum im Netz verbreitetes Video, das im Juni 2020 für die Teilnahme an der Abstimmung über die Verfassungsänderungen werben sollte. Diese Änderungen (für die dann tatsächlich abgestimmt wurde) sollten u.a. dem Präsidenten Putin zwei weitere Amtszeiten ermöglichen und die Ehe als „Vereinigung von Mann und Frau“ in der Verfassung verankern. Die Autor:innen dieses Videos sind bekannt: die Föderale Nachrichtenagentur und die Mediengruppe „Patriot“ (unter der Leitung vom russischen Oligarchen Evgenij Prigožin). Das Video zeigt, wie schwule Paare Kinder in Russland adoptieren könnten, wenn die Verfassungsänderungen vom Volk nicht unterstützt werden: Ein Junge im Grundschulalter wird von einem freundlichen Adoptivvater aus dem Kinderheim abgeholt, auf die Frage des Kleinen, wo seine neue Mama sei, zeigt der neue Papa auf einen anderen Mann, der sich feminin bewegt, geschminkt ist und dem Kind ein Kleidchen schenkt. Die Mitarbeiterin des Kinderheims spuckt vor Wut auf den Boden, kann aber anscheinend nichts ändern. Eine Stimme im Hintergrund fragt: „Wählst du ein solches Russland?“. Die Botschaft des Videos soll auch direkt betonen: Es sind „Fremde“ unter uns, ein russisches Kind bleibt lieber in einem staatlichen Kinderheim, als dass es von so einer „Familie“ adoptiert wird. Die Werbung ist sehr schnell viral gegangen und löste u.a. Empörung unter zahlreichen liberal gesinnten russischen Netznutzer:innen aus. Viele haben mit dem Hashtag #давыберу („ja, wähle ich“) ihre kritischen Äußerungen markiert. Andere haben mit dem ironischen Argument reagiert: Viele russische Kinder wachsen in „gleichgeschlechtlichen Familien“ – und zwar nur mit einer (alleinerziehenden) Mutter und Oma auf.
Zusammenfassend kann behauptet werden: Alle Versuche liberaler Journalist:innen, Blogger:innen, Aktivist:innen und unabhängiger Filmemacher:innen, die Themen der queeren Community in ihren Werken und Publikationen anzusprechen, werden durch das primitive, übertriebene und stigmatisierende Bild von Menschen mit „nicht-traditioneller Orientierung“ in den russischen Massenmedien zunichte gemacht.
Gesetzliche Regulierung
Zahlreiche erst vor kurzem verabschiede Gesetze regulieren – beschränken oder gar blockieren – die Tätigkeit von LGBTQ-Organisationen und Aufklärungsinitiativen sowie die Forschung im Bereich Gender Studies und Geschichte der queeren Community in Russland. Das Gesetz über „ausländische Agenten“ ist eine der wichtigsten und strengsten Regelungen. Als „ausländische Agenten“ können seit 2012 NGOs, seit 2017 Massenmedien und seit 2020 Privatpersonen in Russland genannt werden, die politisch und gesellschaftlich tätig sind und finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten. Organisationen, Medien und Personen, die unter das Gesetz fallen, müssen sich beim Justizministerium registrieren und die entsprechende Markierung überall verwenden. Das stigmatisierte, aus der Sowjetzeit stammende „Agenten“-Label ist nicht das einzige Problem: Für die betroffenen Organisationen oder Personen bedeutet dies eine erhebliche Einschränkung ihrer Tätigkeit, strengere Kontrollen und Überwachung von Arbeitsabläufen, Verlust von Sponsor:innen und Geschäftspartner:innen. Viele in Russland tätige LGBTQ-Organisationen sind bereits als „ausländische Agenten“ eingestuft worden: das Russische LGBT-Netzwerk, die LGBT-Gruppe Vychod in St. Petersburg, die LGBT+-Initiative Revers in Krasnodar, das Moskauer Gemeindezentrum für LGBT+-Initiativen, das Ressourcenzentrum für LGBT in Ekaterinburg, die Trans-Initiativgruppe T-Action in St. Petersburg, die öffentliche LGBT-Organisation Irida in Samara, die autonome gemeinnützige Organisation sozialer und sportlicher Programme Sportivnoe LGBT-soobščestvo, das Internationale LGBT-Filmfestival Bok-o-Bok in St. Petersburg, die Hetero- und LGBT-Allianz für Gleichberechtigung, die Menschenrechtsorganisation Radužnaja associacija und andere Organisationen sowie auch Privatpersonen, darunter Aktivist:innen, Journalist:innen und Jurist:innen, die sich mit dem Schwerpunkt beschäftigen.
Ein anderes restriktives Gesetz existiert seit 2013 als „Verbot der Förderung nicht-traditioneller sexueller Beziehungen“ gegenüber Minderjährigen. Die seit Dezember 2022 geltende Verschärfung weitet dieses Verbot auf Erwachsene aus. Die Möglichkeit etwa für Medien oder queere Organisationen, durch eine Kennzeichnung entsprechender Inhalte als „18+“ einer Bestrafung zu entgehen, entfällt somit. Zusätzlich ist es durch die Verschärfung des Gesetzes strafbar, Minderjährige über Geschlechtsangleichungen aufzuklären. So dürfen an sie keinerlei Informationen weitergegeben werden, die sie „zu einem solchen Schritt ermutigen“ könnten. Die Gesetzesverschärfung zeigte bereits erste Auswirkungen: Einige kleine Verlage stoppten die Auslieferung russischer Ausgaben von queeren Romanen, einige Organisationen stellten ihre Arbeit ein. Ein Beispiel dafür ist der Verlag Popcorn Books, der in den vergangenen Jahren nicht nur ausländische queere Literatur ins Russische übersetzte, sondern auch russische Romane zur queeren Thematik veröffentlichte. Im Jahr 2021 wurde eine vom Popcorn Books herausgebende schwule Liebesgeschichte „Leto v pionerskom galstuke“ („Ein Sommer im Pionierhalstuch“) von Katerina Silvanova und Elena Malisova in Russland zum Beststeller. Nach Angaben vom Verlag wurden insgesamt über 300.000 Exemplare der romantischen Geschichte zweier junger Männer, die sich im Pionier-Sommerlager kennenlernen, verkauft, was zu einem beispiellosen Erfolg eines solchen Romans geworden ist. Neben diesem Erfolg erreichten die beiden Autorinnen massive Drohungen seitens des konservativ eingestellten Publikums: Sie mussten in Folge Russland verlassen. Mittlerweile wurden sie zu „ausländischen Agentinnen“ erklärt. Der Verlag stoppte die Veröffentlichung neuer Bücher mit LGBTQ-Themen, zog alle bereits erschienenen Publikationen aus dem Verkauf und beschränkte sich auf die Herausgabe harmloser Werke im Genre Young Adult.
Nach den Angaben vom Portal Novaja Gazeta Evropa erstellten die russischen Sicherheitskräfte von April bis Juni 2023 33 Protokolle, in denen Fälle von „Demonstration“ von LGBTQ-Inhalten erfasst wurden (es ist mindestens fünfmal mehr als im Durchschnitt in den vergangenen zehn Jahren). Wer also in Werbung, Medien- und Online-Inhalten, Büchern, Filmen und Theateraufführungen LGBTQ und Geschlechtsangleichung thematisiert (oder gar positiv darstellt), riskiert Strafen. Ein Verstoß gegen das Gesetz kann Bürger:innen bis zu 200.000 Rubel (etwa 2.025 Euro) kosten. Unternehmen und Organisationen droht eine Geldstrafe von bis zu 5 Millionen Rubel (50.620 Euro). Ausländer:innen, die gegen das Gesetz verstoßen, droht eine Ausweisung aus Russland oder 15 Tage Haft.
Außerdem richtet sich das neu formulierte Gesetz auch gegen die „Propaganda von Pädophilie“, d.h. Pädophilie wird im Gesetzestext praktisch mit Homosexualität und Transgender gleichgesetzt. Dies dürfte die Stigmatisierung weiter verstärken. Das Gesetz (das wohl als ein „Gummiparagraph“ bezeichnet werden kann) gibt dem Strafverfolgungsamt uneingeschränkte Befugnisse und macht es dem Sicherheitsapparat möglich, schon bei kleinsten Vergehen strafrechtlich vorzugehen. Weil das Gesetz sehr schwammig und nebulös formuliert ist, könnte es auf alle möglichen Handlungen angewendet werden – ob auf schwule und lesbische Liebesgeschichten in Kinofilmen oder auf Fotos auf privaten Seiten in sozialen Netzwerken. Unklar bleibt, ob es zum Verbot einiger russischen Klassiker, z.B. Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ oder Fedor Dostoevskijs Roman „Die Dämonen“, führen kann.
Im Juli 2023 hat Präsident Putin ein Gesetz unterzeichnet, das Geschlechtsangleichungen von Trans-Personen verbietet. Das Gesetz ist damit in Kraft und verbietet alle medizinischen Eingriffe, die darauf abzielen, „das Geschlecht einer Person zu ändern“. D.h. Transmenschen haben keinen Zugang mehr zu Hormonbehandlungen und operativen Eingriffen. Es ist nun nicht mehr möglich, den Geschlechtseintrag im Pass ändern zu lassen. Darüber hinaus wird es Transmenschen verboten, Kinder zu adoptieren, die Vormundschaft für diese zu übernehmen oder Pflegekinder aufzunehmen.
Am 30. November 2023 hat das Oberste Gericht Russlands die „internationale LGBTQ-Bewegung“ als „extremistisch“ eingestuft und im Lande verboten. Was genau das Verbot für alle Vereine, Verbände, Medien und Privatpersonen bedeuten soll, wird man in näherer Zukunft sehen. Eine weitere Gesetzesinitiative der russischen Regierung zielt darauf ab, den Feminismus als „gefährliche, schädliche, extremistische Ideologie“ anzuerkennen und die „Propaganda von Ideen der Child-Free-Bewegung“ zu verbieten.
Queere Community in Russland: Hat sie überhaupt eine Zukunft?
Bereits in den vergangenen Jahren sahen sich LGBTQ-Personen in Russland großem Druck ausgesetzt. Mit der Gesetzesverschärfung wird die queere Community weiter in die Unsichtbarkeit gedrängt. Viele prominente Aktivist:innen und Journalist:innen fühlten sich gezwungen, Russland inzwischen zu verlassen. Darüber hinaus erschweren solche Gesetze und Verbote die Arbeit vieler NGOs bei der Prävention und Behandlung sexuell übertragbarer Infektionen, vor allem HIV/AIDS. Statistiken zeigen, dass es im vergangenen Jahr in Russland etwas mehr als 1 Million HIV-infizierte Menschen gab. Die HIV-Neuinfektionsrate ist in Russland besonders hoch (mit rund 40,2 Infektionen je 100.000 Einwohner:innen ist sie die höchste in Europa). Auch wenn die Krankheit durch Medikamente längst nicht mehr so ansteckend und tödlich wie früher sein kann, bleiben Diskriminierung der Betroffenen und Tabuisierung des Themas im Lande alltäglich.
Selbst auf die Gefahr hin, sich den Titel „unerwünschte Organisation“ und ein Tätigkeitsverbot in Russland zuzuziehen, unterstützen viele internationale (und deutsche) Kolleg:innen nach wie vor die Arbeit russischer Menschenrechtler:innen und LGBTQ-Aktivist:innen, und helfen bei der Organisation von Programmen für Geflüchtete. Das Russische LGBT-Netzwerk ist Mitglied der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA); der Quarteera-Verein, eine der größten Organisationen russischsprachiger Lesben, Schwuler, Bisexueller, Trans*-Personen (und ihrer Freunde) in Deutschland, bietet Migrant:innen Rechtsberatung, Übersetzungsdienste, psychologische Unterstützung und vieles mehr; solche Organisationen und Medien wie Amnesty International, Reporter ohne Grenzen, Bundeszentrale für politische Bildung, dekoder, N-Ost u.a. berichten über die Situation in der Region, bringen Journalist:innen und Forschende zusammen, liefern hochwertige und rechtzeitige Expertise.
Homophobe Äußerungen der russischen Regierung, des Präsidenten und der Vertreter der Russischen orthodoxen Kirche begleiten auch den Krieg in der Ukraine. In seiner Rede vom 16.03.2023 „Die Ukraine, die Sanktionen und die Lage“ sagte Putin: „Ich verurteile diese Leute mit ihren Villen in Miami oder an der Côte d’Azur, die auf Foie gras, Austern oder sogenannte Gender-Freiheiten nicht verzichten können, keineswegs. Das ist gar nicht das Problem, aber ich sage es noch einmal, viele dieser Leute leben geistig dort und nicht hier, nicht mit unserem Volk, nicht mit Russland“. Auch mit dieser (vorgetäuschten) Toleranz wird es immer wieder betont, dass die „sogenannten Gender-Freiheiten“ fremde Elemente für das Leben in Russland sind und Homosexualität bzw. die queere Community als eine Abart des dekadenten, im Niedergang begriffenen Westens, eine Unterminierung moralischer Normen, im Lande nicht akzeptiert werden kann. Heutzutage wird dieses Thema auch in mehreren Reden des russischen Patriarchen Kirill betont und verschärft: Den Kampf im Donbas stellt das kirchliche Oberhaupt Russlands als „Kampf gegen die Legalisierung von Schwulenparaden in der Region“ dar. Eine Kontinuität der Rhetorik mit dem „Gayropa“-Narrativ und dem dadurch konstruierten Bild einer Bedrohung kann also im Laufe der letzten 10 oder gar 15 Jahre beobachtet werden. All das sind die Argumentationsversuche, das eigene Vorgehen zu rechtfertigen und die Bevölkerung um sich zu vereinen.
Gleichzeitig kann behauptet werden, dass Russland und seine LGBTQ-Politik lediglich ein Beispiel dafür sind, wie autoritäre Regime und paternalistische Systeme sich in die Tätigkeit der Zivilgesellschaft und ins Privatleben der Menschen einmischen. Versuche einer solchen Überwachung und Kontrolle sind nicht nur in einigen Ländern des postsowjetischen Raums zu beobachten, sondern auch in anderen Regionen der Welt – in Lateinamerika, Afrika, Asien und sogar einigen europäischen Ländern – zu sehen.