Das Jahrzehnt zwischen 1939 und 1949 kann in einigen Grenzräumen Ostmitteleuropas als ein Jahrzehnt der Extreme betrachtet werden – in Anlehnung an den von Eric Hobsbawm geprägten Begriff des Jahrhunderts der Extreme. Es zeichnet sich durch eine hohe Gewaltbereitschaft und -ausübung verschiedener Akteure aus. Innerhalb dieser Zeitspanne führte die deutsche sowie die sowjetische Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkrieges in den heute polnischen, westukrainischen und rumänischen Grenzregionen Galizien, Wolhynien wie auch der Bukowina ethnische Säuberungen, Zwangsmigrationen sowie die Vertreibung lokaler Gemeinschaften durch. Im Rahmen eines von der Bundesstiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) geförderten Projektes, reisten wir unter der Leitung von Dr. Olena Petrenko und Dr. Andrzej Michalczyk im Herbst 2016 in die Westukraine, um mit Zeitzeug*innen und anderen erinnerungskulturellen Akteur*innen über ihre Erfahrungen und Erinnerungen dieser Zeit zu sprechen. Unterstützt wurden wir dabei von Studierenden und Lehrenden der Ukrainisch-Katholischen-Universität Lviv und der Nationalen Yuriy Fedkovych-Universität Chernivtsi.
Das wesentliche Ziel war es zu untersuchen, wie sich diese ethnischen Säuberungen, Zwangsmigrationen sowie die Vertreibung lokaler Gemeinschaften innerhalb dieser Regionen in verschiedenen Erinnerungsformen widerspiegeln und reproduziert werden. Als wesentliche Erinnerungsträger*innen wurden dabei bereits vor dem Beginn des Forschungsaufenthalts Zeitzeug*innen und Lokalhistoriker*innen ausgesucht, deren Erzählungen mithilfe von Audio-, Foto- und Videoaufnahmen fixiert wurden. Die Interviewpartner*innen wurden von den Dozierneden der beteiligten Universitäten sowie einigen Kontaktpersonen innerhalb der einzelnen Orte vermittelt.
Zur methodischen und inhaltlichen Vorbereitung trafen sich alle Teilnehmenden vorab an ihren jeweiligen Instituten um sich mit den historischen Kontexten der Regionen sowie den Grundlagen der Oral-History Forschung und der Durchführung narrativer Interviews vertraut zu machen. Der erste Teil der Exkursion fand zwischen dem 27. September und dem 4. Oktober 2016 statt. Zunächst arbeiteten die Lviver und Bochumer Studierenden und Doziernden zusammen. Innerhalb dieser Zeitspanne forschte die Exkursionsgruppe in den galizischen Dörfern Muzhylovychi (Münchenthal), Halychany (Burgthal) und in den wolhynischen Dörfern Kysylyn und Misoch. In diesen Orten erläuterten zunächst einige Bochumer Studierende und Lokalhistoriker den historischen Kontext der Orte und Regionen. Anschließend führten die Lviver Studierenden mehrere Interviews mit Zeitzeug*innen und deren Nachkommen. Die Interviews wurden von den ukrainischen Studierenden simultan ins Englische übersetzt, sodass die Bochumer Studierenden unmittelbar an den Interviews teilhaben konnten.
Zwischen dem 30. September und dem 4. Oktober 2016 folgte dann die Zusammenarbeit mit dem Team aus Chernivtsi. Während dieses Zeitraumes forschten wir in den bukowinischen Orten Mahala und (im heute rumänischen) Rădăuți. Die Studentinnen aus Chernivtsi übersetzten simultan ins Deutsche, sodass die Bochumer Studierenden auch diesem Interview folgen konnten. Die Interviews in Chernivtsi sowie in der rumänischen Stadt Rădăuți führten Bochumer Studierende auf Deutsch durch. Abgerundet wurde das Programm durch Vorträge und Besuche lokaler Gedenkorte und Museen.
Die zweite Projekthälfte folgte einen Monat später an der Ruhr-Universität in Bochum. Bereits im Vorfeld bereiteten alle Beteiligten die kommende Arbeitsphase vor. Dazu gehörte insbesondere die Transkription und Übersetzung der aufgezeichneten Interviews ins Deutsche bzw. ins Ukrainische. Während der Arbeitsphase musste sich die gesamte Gruppe zunächst darauf verständigen, wie die einzelnen Videoaufnahmen der Interviews auf unserer Website präsentiert werden sollten und auf welchen Hauptthemen der Fokus der Präsentation liegen sollte. Nachdem sich die Gruppe auf eine einheitliche Vorgehensweise bei der Erarbeitung der Präsentation einigen konnte, fanden sich die Studierenden aller beteiligten Universitäten in mehreren Kleingruppen zusammen, um miteinander an der Erstellung der Videos zu arbeiten.
Entstanden ist eine Sammlung der Interviews sowie nützlicher Informationen über die Regionen und ihre Geschichte(n), die auf der Internetseite der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne zu finden ist. Abschließend möchte ich noch einen Mehrwert dieses Projektes hervorheben, der wohl manchmal neben den wissenschaftlichen Ergebnissen in den Hintergrund gerät. Für viele von uns war es der erste Aufenthalt in der Ukraine und damit auch der erste Austausch mit Studierenden aus diesem Land. Die gesammelten Erfahrungen, die mich am meisten geprägt haben, sind eben nicht die Durchführungen der Interviews, sondern der Kontakt mit sämtlichen Menschen vor Ort. Austausch über verschiedene kulturelle Hintergründe, Forschungsmethoden oder Lebenswelten sind meiner Ansicht nach der größte Mehrwert von Exkursionen in andere Länder. Auch für mich war diese Reise der Startpunkt für mein Interesse an der osteuropäischen Geschichte und der Startpunkt, der mich letztendlich auch in das Team der OEG gebracht hat.