Der folgende Essay befasst sich mit der Fragestellung, welcher Begriff die aktuelle polnische Geschichtspolitik am besten beschreibt. Polen ist ein Land, dessen Politik sich – und damit auch der Umgang mit der eignen Geschichte – seit dem Zerfall der UDSSR 1989 vielfach geändert hat. Dies macht die Untersuchung der Fragestellung so interessant.
Die Geschichtspolitik Polens lässt sich nach Borodziej nach 1989 in unterschiedliche Phasen aufteilen. Nachdem Zerfall der UDSSR änderte sich die Geschichtspolitik Polens ab 1990 in der III. Republik drastisch. Allgemein galt die kommunistische Geschichte als falsch und alles, was in der UDSSR als falsch propagiert wurde, war nun richtig und umgekehrt. Dementsprechend wurden kommunistische Festtage, Heldennamen und Rituale demonstrativ gestrichen. In der zweiten Phase der polnischen Geschichtspolitik nach 1989 wurde im Jahr 1999 das Institut für Nationales Gedenken (Insytut Pamięci Narodowej, IPN) gegründet. Das IPN wurde mit staatsanwaltschaftlichen Aufgaben beauftragt, mit dem Ziel kommunistische und nationalsozialistische Verbrechen zwischen 1939 und 1990 aufzuklären. Die dritte Phase der Geschichtspolitik beginnt 2005 mit der an die Regierung kommenden Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS, Recht und Gerechtigkeit) und endete 2007 mit einem Regierungswechsel. Die PiS verfolgt einen Ansatz der Abgrenzung gegenüber dem europäischen Westen und einer Stärkung der nationalen Identität. Diese Abgrenzung gegenüber den anderen schaffte eine deutliche Distanz zu den Grundsätzen und Zielen der Geschichtspolitik der III. Republik. Nach einer Phase, in der die PiS aufgrund eines Regierungswechsels die Abweichung von den Zielen und Idealen der III. Republik nicht weiter vorantreiben konnte, wurde sie 2015 wieder an die Macht gewählt. Seit die PiS im November 2015 die Regierung in Polen allein stellt, haben sich viele Politikfelder grundlegend geändert, so auch die Geschichtspolitik. Die Geschichtspolitik hat ihren aufklärenden Charakter verloren und legt ihren Schwerpunkt von nun an auf eine Stärkung des nationalen Patriotismus.
Aus der aktuellen politischen Lage in Polen ergibt sich für mich folgender Begriff zur Beschreibung der gegenwärtigen Geschichtspolitik des Landes: zentralisiertes und instrumentalisiertes nationalistisches Märtyrertum. Im Folgenden werde ich auf die Herleitung des Terminus‘ eingehen.
Als zentralisiert lässt sich die Geschichtspolitik Polens beschreiben, da sie in der Politik der PiS einen hohen Stellenwert einnimmt und diese ihr Augenmerk darauf legt, die Auslegung und Wahrnehmung der Geschichte zu steuern. Die PiS verfolgt mit Hilfe der Geschichtspolitik verschiedene innen- und außenpolitische Ziele. Um diese Ziele zu erreichen, beeinflusst sie die Geschichtspolitik stark und definiert z.B. über Institute wie dem IPN, wie die Geschichte Polens wahrgenommen werden soll und mit welchem Gegenstand sich die Geschichtswissenschaft Polens befasst. Zu diesem Zweck ist das IPN finanzielle sehr gut aufgestellt und gewinnt durch seine institutseigenen Staatsanwälte großen Handlungsspielraum, um in politische Auseinandersetzungen einzugreifen (siehe Borodziej). Wie bei Leschink nachzulesen, sind die Staatsanwälte des IPN den Staatsanwälten des Staates gleichgestellt und haben somit sogar Weisungsbefugnis gegenüber der Polizei. Von dieser macht das IPN z.B. Gebrauch, um von Polizisten Zeugen zu historischen Ereignissen befragen zu lassen. Hierin lässt sich auch die Instrumentalisierung der Geschichtspolitik durch die PiS gut erkennen.
Als nationalistisch lässt sich die polnische Geschichtspolitik bezeichnen, da das Hauptaugenmerk der PiS auf der Stärkung der nationalen Identität und Abgrenzung zum Ausland, insbesondere auf der Distanzierung zum europäischen Westen, liegt. In diesem Zusammenhang kann man die polnische Geschichtspolitik auch als nationalistisches Märtyrertum beschreiben. Denn die Erschaffung von nationalen Helden nimmt eine Schlüsselrolle in den Plänen zur Stärkung der nationalen Identität der PiS ein. Wie bei Balcer nachzulesen, ist ein Kernelement der Politik der PiS die Schaffung der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Polen als ein Volk von Opfern und Helden. Diese Ideologie spielt für die PiS sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch eine große Rolle. Deren heroisches Märtyrertum soll ein Bild erschaffen von Polen als Nation, die einen enormen positiven Anteil an der Zivilisation und Geschichte des heutigen Europas hat. Das Vorgehen der PiS in diesem Sinne lässt sich gut durch den Umgang der Regierung mit dem Danziger Museums zum Zweiten Weltkrieg verdeutlichen. Wie bei Vetter nachzulesen, wurde das Museum ursprünglich gegründet, um das Heldentum und das Leid, welches die Polen im Zweiten Weltkrieg erfahren hatten, darzustellen und in einen europäischen und globalen Kontext zu betrachten. Zunächst ließ das Konzept des Museums einen Vergleich unterschiedlicher Völker zu. Dies änderte sich jedoch schlagartig mit dem Regierungswechsel 2015 durch den Austausch der Direktion des Museums durch die PiS. Von nun an war die Ausstellung des Museums reduziert auf eine nationalorientierte Darstellung des polnischen Schicksals, die andere Sichtweisen auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs nicht zulässt.
Auch außenpolitisch ergreift die PiS Maßnahmen, um ihre Außendarstellung zu ändern. So schreibt Bachmann beispielsweise von Anweisungen des Außenministeriums an Kulturinstitute im Ausland, die ihre Zielgruppe neu definieren sollen. So soll im Gastland nicht mehr die Mehrheitsgesellschaft in den Kultureinrichtungen angesprochen werden, sondern die dort ansässigen polnischen Gruppen. So wies der Botschafter in Deutschland z.B. Kulturinstitute dazu an, Künstler, die von der Regierung missbillig werden, aus dem Programm zu streichen und durch regierungsnahe Künstler zu ersetzten. Des Weiteren werden für das polnische Buch-Institut westliche Verlage gesucht, die regierungsnahe Schriftsteller übersetzten und in den Markt einführen sollen. Mit diesen Maßnahmen verfolgt die PiS auch im Ausland das Ziel, die dort ansässigen Polen zu einem starken Nationalbewusstsein zu erziehen.
Ein ähnliches Eingreifen in die Auslegung der polnischen Geschichte zur Schaffung einer nationalen Identität lässt sich auch bei der Beeinflussung des Schulsystems durch die PiS beobachten. Exemplarisch beziehe ich mich hierfür auf einen Ausschnitt einer Regierungserklärung von 2015 der Ministerpräsidentin Beata Szydło die in der PolenAnalysen 173 angeführt wird, in der die Ministerpräsidentin Schule nicht nur als Institution der Wissensvermittlung sieht, sondern auch als eine Institution, die den Heranwachsenden Haltung vermitteln soll. Diese Haltung soll sowohl Patriotismus als auch das Herausbilden eines starken Gefühls von nationaler Identität beinhalten. Seit dem Jahr 2017 entwarf die PiS eine neue Bildungsreform, die seit 2018 umgesetzt wird. Mit dieser Bildungsreform kehrt Polen zur 8-jähirgen Grundschule zurück und damit zu einem Schulsystem aus den Zeiten der UDSSR, dass Dorfschulen stärkt und die neu eingeführten Gymnasien schließt. Im Zentrum dieser Bildungsreform steht für die PiS laut Kaluza ein sogenannter „guter Wandel“, der der Machtsicherung der Partei innerhalb der Gesellschaft dienen soll. Dies möchten sie durch eine Kontrolle des in ihren Augen zu pluralistischen und liberaleren Bildungssystems erreichen. Hierfür legt die PiS ihr Augenmerk auf die Stärkung von Werten, die dem Gesellschaftsbild der Partei entsprechen wie z.B. patriotische Einstellung, nationale Symbolik, Disziplin, polnische Geschichte, Nationalliteratur, Volksmusik usw. Aus diesem Vorgehen der PiS schließt Kaluza, dass die Partei Schule vor allem als staatliche Besserungsanstalten versteht, die der Erziehung möglichst angepasster Individuen ohne eigne Meinung dienen.
Betrachtet man die gegenwärtige Politik der PiS als Ganzes, wird der zentralisierte Charakter der Geschichtspolitik als Instrument zur Schaffung eines nationalistischen Märtyrertums zum Zwecke der Ideologie der Partei schnell deutlich. Die Etablierung dieser Ideologie innerhalb der Gesellschaft und die Erziehung der Polen zum nationalistischen Märtyrertum soll der Machtsicherung der PiS Partei dienen. Um dieses Ziel zu erreichen, greift die PiS in verschiede Gesellschaftsbereich ein und bedient sich hierbei vor allem der Geschichtspolitik, um die Auslegung der polnischen Geschichte nach ihren Vorstellungen festzulegen. Dies erreicht sie durch Eingriffe in das Schulsystem und damit in den Geschichtsunterricht und die Erziehung der Kinder. Durch Eingriffe in die innenpolitische Darstellung der Geschichte sowie durch Beeinflussung und Steuerung von beispielsweise Museen und Instituten. Hierbei schreckt die PiS auch nicht vor Maßnahmen wie Personalaustausch zurück. Zusätzlich steuert die PiS den Gegenstand der Geschichtsforschung innerhalb Polens, indem sie Historikern den Gegenstandsbereich ihrer Forschung vorschreibt.
Auch das IPN hat seinen aufklärenden Charakter verloren und dient nun nur noch der Kreation eines nationalistischen Märtyrertums polnischer Geschichte. Auch außenpolitisch greif die PiS in die Darstellung der polnischen Geschichte ein, um auch bei im Ausland lebenden Polen die polnische Identität im Sinne eins nationalistischen Märtyrertums zu stärken. Somit wird deutlich, dass die PiS sowohl innerpolitisch, als auch außenpolitisch das Bewusstsein der Polen ihrer polnischen Identität an ihrer nationalistischen Parteiideologie, die sich als polnische Helden versteht, anzupassen, um so die Macht der Partei innerhalb Polens zu sichern. Um dieses Bild der Polen als nationalistische Märtyrer zu stärken und sich vom Westen abzugrenzen, bedient sie sich vor allem der einseitigen Auslegung der polnischen Geschichte zu ihren Gunsten und lehnt andere Betrachtungsweisen komplett ab.
Aus der Vorgehensweise der PiS zur zentralgesteuerten Instrumentalisierung der Geschichtspolitik zur Schaffung eines nationalistischen Märtyrertums als Ideologie zur Machtsicherung der Partei ergibt sich für mich folglich der Begriff: zentralisiertes und instrumentalisiertes nationalistisches Märtyrertum zur Beschreibung der aktuellen Geschichtspolitik Polens.
Literaturverzeichnis:
Bachmann, Klaus: Viel Feind, viel Ehr. Geschichtspolitik und Außenpolitik in Polen, in: Osteuropa 3-5 (2018), S. 413-434.
Balcer, Adam: Nationale Geschichtspolitik, restriktive Sicherheit und illiberale De- mokratie – die polnische Ostpolitik unter der PiS-Regierung, in: POLEN-ANALYSEN 237 (2019), S. 2-16.
Borodziej, Włodzimierz: Geschichtspolitik in Polen, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2011), S. 269-274.
Kaluza, Andrzej: Die Reform des Schulsystems in Polen, in: POLEN-ANALYSEN 224 (2018), S. 2-17.
Leschnik, Hubert: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik von 1998 bis 2010, Marburg, 2018.
Vetter, Reinhold: Von Kaczyńskis Gnaden. Die neue nationalkonservative Regierung, in: POLEN-ANALYSEN 173 (2015), S. 2-24.
Wissenschaftlicher Dienste des Deutschen Bundestag: Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Polen, https://www.bundestag.de/resource/blob/42573/61f87ea5d0075e2eb9d0096c66ccef7d/WD-1-018-16-pdf- data.pdf, April 2016, 15.04.2020.