Ermutigung zu einer historisch-politischen Reise ins Nachbarland Polen an authentische Orte „Jenseits von Auschwitz“

Im April 1942 fanden die ersten menschenverachtenden Transporte der SS von Juden aus dem Rheinland von Düsseldorf oder Köln und aus Westfalen von Bochum über Dortmund in die Vernichtungslager nach Ostpolen, tausende Kilometer entfernt, statt. Allein in den Vernichtungslagern Belzec und Sobibor wurden ca. 600.000 v.a. jüdische Menschen aus West- und Südosteuropa sowie aus Polen und Weißrussland in nur wenigen Monaten vernichtet.

Was wissen wir aber über diese vergessenen Orte und den Verbleib der Menschen aus dem Umfeld unserer Eltern oder Großeltern, die bis heute verschwunden sind? 

In den aktuellen Schulbüchern spielt mangels Raum und Zeit zur intensiven Befassung mit dem Nationalsozialismus die Geschichte Polens, trotz unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland, kaum eine Rolle. Erst mit der Deportation der Juden in den Osten werden die Orte der Vernichtung allenfalls benannt. Der industrielle Massenmord wird jedoch meist an der symbolhaften Bedeutung von Auschwitz-Birkenau verdeutlicht. Die Bedeutung des Generalplan Ost, der versuchten Germanisierung des osteuropäischen Raums durch die Nazis oder die sog. „Aktion Reinhard“, die systematische Ermordung aller Juden und Roma des Generalgouvernements im von Deutschland besetzten Polen, finden aber kaum Erwähnung.

Neuere Veröffentlichungen wie das umfassende Werk der Bundeszentrale für politische Bildung „Im Schatten von Auschwitz“ (Bonn 2017) suchen die blinden Flecken oder vergessenen Orte nun ins Bewusstsein zu rücken. Inwiefern sich dieser neue Forschungsstand allerdings auch bei den gängigen Schulbuchverlagen niederschlagen wird, bleibt abzuwarten. 

Interessant scheinen in diesem Zusammenhang, die Bemühungen der seit 2010 arbeitenden deutsch-polnischen Kommission zu sein, die ein vierbändiges deutsch-polnisches Geschichtsbuch konzipiert hat, dessen vierter Band zum 20. Jahrhundert für diesen Sommer angekündigt wurde.

Darüber hinaus sind sehr unterschiedliche Narrative zum Zweiten Weltkrieg und den Kriegsgräueln in Ost und West festzustellen, die Ausdruck der erlittenen Erniedrigung und Verletzung der Nation und der polnischen Bevölkerung als Opfer der Aggression Nazideutschlands mit immensen Verlusten und Zerstörungen verständlich sind. Umso dringlicher aber ist die Vertiefung deutsch-polnischer Verständigungsbemühungen und internationaler Begegnungen auch jenseits der offiziellen Regierungsebene, angesichts zunehmender nationaler, rechter Tendenzen und Abgrenzungen in Europa 75 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus.

Statt ritualisierter Erinnerungskultur –
Begegnung und Erfahrung vor Ort

Zeitzeugen wie Felix Lipski, Überlebender des Minsker Ghettos, beklagen immer wieder das geringe Wissen von SchülerInnen zum Holocaust, das ihnen bei Vorträgen in Schulen begegnet. Gute Möglichkeiten aber vor Ort praktische Erfahrung an authentischen Orten zu sammeln und dabei pädagogisch begleitet, forschend zu lernen, bietet zum Beispiel das Staatliche Museum Majdanek bei Lublin, das bei Nachfrage auch Kontakt zu polnischen Schülergruppen herstellen kann. Als Vorreiter und best-practice Beispiele sind hier zwei Schulprojekte aus Nordrhein-Westfalen hervorzuheben, die schon seit mehr als 20 Jahren erfolgreich Gedenkstättenfahrten nach Lublin unternehmen, um dort der Geschichte nachzuspüren, anhand eigener Fragestellungen an der Gedenkstätte Majdanek zu recherchieren und sich mit polnischen Schülergruppen persönlich auszutauschen.

Als Ergebnis der langjährigen Projektarbeit hat die Gesamtschule Waltrop, organisiert über die Humanistische Union Essen, Fahrten zur Gedenkstätte Majdanek durchgeführt und ihre Erfahrungen unter dem Titel: Forschendes Lernen in Majdanek, Erfahrungen aus der Projektarbeit veröffentlicht (Hg. G. Karthaus, B. Weber, J. Zubala, Wochenschau Verlag ,31. Oktober 2016 ,ISBN: 373440374). Aktuelle Informationen zu dem Projektschwerpunkt der Schule sind unter http://www.ge-waltrop.de/majdanek/ nachzulesen.

Um dem permanenten Zeitdruck im Geschichtsunterricht zu entgehen, aber dennoch intensive Recherche betreiben zu können, ist das Bielefelder Gymnasium Bethel im Projekt „Geschichte“ einen anderen Weg gegangen. Facharbeiten werden am Gedenkort selbst erstellt. Mit diesem Konzept wurden sie als erfolgreicher Preisträger im Geschichtswettbewerb der Körber Stiftung 2018/2019 für herausragende Dienste in der deutsch-polnischen Verständigung ausgezeichnet.

Auch in der Jugendarbeit gibt es ermutigende Beispiele zur Arbeit an Gedenkstätten, so ist u.a. das Fan-Projekt vom BVB zu nennen, das unterstützt durch das Stadtarchiv Dortmund im Rahmen ihrer Antirassismus-Arbeit sowohl Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz-Birkenau als auch nach Majdanek bei Lublin unternimmt: https://www.schwatzgelb.de/artikel/2020/report/eine-reise-in-die-vergangenheit-mit-weggefaehrten-gegen-das-vergessen. Das Projekt der „HeRoes“ aus Duisburg mit ihrem Gruppenleiter Burak Yilmaz, der „Junge Muslime gegen Antisemitismus“ betreut, ist ebenso hervorzuheben. Er findet allerdings auch kritische Worte und stellt sich die Frage, ob „Gedenkstättenfahrten als „Integrationshelfer“?“ geeignet sind. So warnt er vor einer Ethnisierung der Antisemitismusfrage ( Burak Yilmaz, DISS-Journal 34 (2017). Zur kritischen Gedenkstättenpädagogik in Migrationsgesellschaften ist die Forschung von Frau Prof. Dr. Astrid Messerschmidt an der Bergischen Universität Wuppertal sehr hilfreich.

Hilfestellung für die Realisierung von Gedenkstättenfahrten an „vergessene Orte“

Der IBB e.V. in Dortmund führt seit vielen Jahren Gedenkstättenfahrten nach Polen durch und begleitet mit einem pädagogischen Programm SchülerInnen und Jugendgruppen an Orten des Gedenkens. Hier ein Bericht von Bartholomäus Fujak von einer Reise im November 2016, an der auch die Autorin teilnahm, zur Erweiterung des Angebotes von Gedenkstättenfahrten um Lublin /Majdanek mit Anreise über Warschau. Die IBB gGmbH, Dortmund, verwaltet seit 2019 im Rahmen des Bundesprogramms „Jugend erinnert“ aus Mitteln des BMFSFJ und des Auswärtigen Amts die Bundesmittel für nicht-schulische Gedenkstättenfahrten von Jugendlichen. Dort sind auch die lokalen/regionalen Kooperationspartner aufgelistet.

Eine Handreichung mit Materialien und Informationen können zur „Vor- und Nachbereitung einer Gedenkstättenfahrt nach Majdanek, Bełżec und Sobibor“ hilfreich sein (IBB gGmbh / S. Wycisk, Januar 2018).

Da angesichts der derzeitigen coronabedingten Reisebeschränkungen Gruppenfahrten ins Ausland noch nicht möglich sind, seien die angeführten Links zunächst eine Anregung zu einer virtuellen Reise und möglichen intensiven Vorbereitung auf die Zeit der Öffnung. Darüber hinaus sei auf das weite Netzwerk der NS-Gedenkstätten in NRW verwiesen, die über ein großes Repertoir an Angeboten vor Ort verfügen und selbst wie die Villa`ten Hompel als „Täterort“ in Münster, der Partnerstadt Lublins, Gedenkstättenfahrten zur Fortbildung organisieren. 

Susanne Wycisk

Nach über 20 Jahren Tätigkeit als Geschichtslehrerin für die Sekundarstufe I/II an der Willy-Brandt-Gesamtschule in Bochum hatte ich 2016 bis 2018 die Möglichkeit, als abgeordnete Lehrkraft des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes NRW, das Projekt “Erinnern Ermöglichen” beim Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk (IBB gGmbH) in Dortmund zu begleiten. Im Rahmen dieser Tätigkeit, die neben der Netzwerkarbeit in NRW v.a. auch den Kontakt zu Schulen beinhaltete, konnte ich als Referentin für Gedenkstättenfahrten, mehrere Fortbildungen für Lehrende in enger Kooperation mit Partnern an Gedenkstätten in Polen organisieren und durchführen. Die Erfahrungen an den Orten der Erinnerung aber auch der Kontakt und Austausch mit engagierten Menschen vor Ort waren für mich ein bleibendes Erlebnis, das die Notwendigkeit für internationalen Austausch und gegenseitige Verständigung in Europa eindrücklich vor Augen führt und bis auf Weiteres nachwirken wird.

Ein Gedanke zu „Ermutigung zu einer historisch-politischen Reise ins Nachbarland Polen an authentische Orte „Jenseits von Auschwitz“

  • 26. Januar 2022 um 7:17 Uhr
    Permalink

    Danke Susanne
    Ich als alte/82/ Oberschlesier der 10 km vor dem Lager als kleiner Bub gelebt hat und den Totenmarsch Auschwitz- Gleiwitz gesehen habe, weiß ich wie schwer das zu verstehen ist, wie könnte man sich so unmenschlich und barbarisch verhalten. Ich habe X-Bücher von überlebenden gelesen und bin immer wieder erstaunt wie die gefangenen das verarbeiten haben, und keine Haß gegen die deutschen zeigen.

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