Wer war überhaupt Pan Tadeusz? Jede Polin und jeder Pole wird die Frage im Schlaf beantworten können. Das Meisterwerk gleichen Titels von Adam Mickiewicz gehört zur Pflichtlektüre in Polens Schulen und ist nach der Bibel das meistgelesene Buch Polens.
Ein Museum für ein Buch. Was es damit auf sich hat, erfahrt ihr in diesem Blogeintrag.
Mitten im Stadtzentrum Wrocławs befindet sich das Pan Tadeusz-Museum. Lokalisiert im Haus ,,Zur Goldenen Sonne‘‘ (Pod Złotym Słońcem) auf dem mittelalterlichen Marktplatz ,,Rynek“, dem Mittelpunkt der Fußgängerzone Wrocławs und der Hotspot für Touristen.
Das Museum selbst ist ein Teil der Ossolinski-Nationalbibliothek, die seit 1947 ihren Sitz in Wrocław hat. Das Ossolineum wurde 1817 von Józef Maksymilian Ossoliński als Forschungsinstitut gegründet, um Schriftstücke der polnischen Kultur zu erhalten. Zu der Sammlung gehört auch das letzte erhaltene Manuskript von Pan Tadeusz, welches sich im Pan Tadeusz Museum befindet.
Der Grund, warum das Museum in Wrocław eröffnet wurde ist genau dieses Manuskript. Aufgrund des Zweiten Weltkrieges hat die Familie Tarnowski das Manuskript 1939 dem damals in Lwów (heute L’viv, Ukraine) ansässigen Ossolineum als Depositum zur Verfügung gestellt. 1989 forderte die Familie Tarnowski ihre Leihgabe zurück, aber durch von der Stadt Wrocław zu Verfügung gestellte Mittel konnte das Manuskript gekauft werden und wurde von der Stadt und der Familie als Schenkung der Ossolinski-Nationalbibliothek übergeben.
Die Handlung des 1834 erschienen Buches beschreibt Mickiewicz in einem Brief folgendermaßen:
Ich schreibe jetzt gerade ein ländliches Poem, darin ich die Erinnerung an unsere alten Bräuche festzuhalten und irgendwie ein Bild unseres Landlebens, der Jagden, Lustbarkeiten, Kämpfe und Einritte etc. zu zeichnen versuche. Die Szenerie ist in Litauen um das Jahr 1812, als noch die alten Sagen lebten und noch die Reste des alten ländlichen Lebens zu sehen waren.1
Kurzum: Es ist ein Werk, das die polnische Identität und den Kampf um Freiheit in einer Zeit der politischen Umbrüche verkörpert, die aus einer Adelsherrschaft der Szlachta hervorgegangen ist.
Was erwartet Museumsbesucher:innen in der Ausstellung?
Die Ausstellung ist auf zwei Etagen und neun Räume verteilt. Die einzelnen Räume sollen den Besucher:innen Einblicke in das Leben des Dichters, die Entstehungsgeschichte des Werks sowie seine Bedeutung für die polnische Literatur und Kultur vermitteln.
Darüberhinaus bekommen die Besucher:innen eine umfangreiche Sammlung von historischen Dokumenten, Bildern und anderen Gegenständen, die mit dem Werk und dem Dichter in Verbindung stehen zu sehen.
Jedes einzelne der neun Zimmer zeigt seine ganz eigene Geschichte, in denen die Besucher:innen auch interaktive Elemente zum Mitmachen finden werden.
Einer der Räume nennt sich ,,Der Salon der Romantik“. Dieser Raum zeichnet sich durch seine einzigartige Deckenmalerei aus. Der Salon soll im musealen Kontext die Kunst der Romantik in ihrem Facettenreichtum widerspiegeln. Pan Tadeusz ist ein großes Landschaftsgemälde in Schriftform, weil das Werk durch Verse die unendliche Schönheit der Natur beschreibt.
Natürlich wurde dem Dichter des Epos auch ein Raum gewidmet. Dort wird sein Leben, das auch durch bedeutende historische Ereignisse für Europa geprägt worden ist, gezeigt.
Sein außergewöhnliches Leben, teilweise im Exil, wird mit Hilfe von Animationen in Bildschirmen auf lebendige Art und Weise vermittelt.
Was wäre Pan Tadeusz ohne die Szlachta? dem polnischen Kleinadel wurde auch ein Raum gewidmet.
Vor der Teilung Polens war es die Szlachta, die in der Adelsrepublik die Macht hatte. Die Adelsrepublik existierte ab 1795 nicht mehr, aber Mickiewicz hat die altpolnische Kultur aufgegriffen und die Szlachta als gemeinschaftliche Schlüsselinstitution dargestellt. Pan Tadeusz, eigentlich der fiktive Charakter Tadeusz Soplica, ist so ein junger Adliger, der sich mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen auseinandersetzen muss.
Mein Fazit: Die Ausstellung über Pan Tadeusz ist eine einmalige Erzählung, die die Besucher:innen in die Zeit des Werkes entführen will. Die Ausstellung strahlt eine massive Historizität aus und zeigt auch den Kampf für etwas, das eigentlich schon Vergangenheit war, aber durch den Nationalpatriotismus des ,,polnischen Volkes“ erhalten wurde. Vor allem sind es die Exponate, die die Anwesenden spüren lassen, dass Pan Tadeusz als ,,Nationalepos“ Polens gilt. Auch die Menschen, die das Epos vorher nur ansatzweise kannten, sind durch die Ausstellung nicht nur dem Werk, sondern auch Polens Geschichte näher gekommen.
Besucht das Museum und überzeugt euch selbst von diesem einmaligen Erlebnis, damit ihr auch im Schlaf wisst, wer Pan Tadeusz war!
Was als große Enttäuschung begann, entpuppte sich als eine unvergessliche Erfahrung.
Kurz vor unserer Exkursion nach Wrocław schauten wir uns im Seminar einen Ausschnitt aus der Roadtrip-Dokumentation „Polen für Anfänger“1 an, in der die Komiker Kurt Krömer und Steffen Möller durch Polen reisen. Für Krömer ist es die erste Reise durch das Nachbarland im Osten, doch zum Glück ist sein Reisegefährte mit dem Land und seinen Gepflogenheiten bereits vertraut und steht ihm in der einen oder anderen befremdlichen Situation bei. So fahren die beiden Touristen unter anderem zu einem Museum in Wrocław, nur um festzustellen, dass der Museumsdirektor nicht zur vereinbarten Zeit vor Ort ist. Die Unsicherheit darüber, wann er erscheinen wird, führt vorerst zu Empörung bei Krömer. Doch Möller ermahnt ihn, er solle nicht so „deutsch denken“. Irgendwann taucht der Direktor dann auch auf und nutzt die Gelegenheit, um den deutschen Gästen eine exklusive Führung durch die Ausstellung zu geben. Dabei enthüllt er ihnen interessante Details über die ausgestellten Exponate, welche teilweise aus seinem eigenen Familienbesitz stammen, die sie sonst nie erfahren hätten. Eine einmalige Erfahrung, mit der wohl keiner der beiden gerechnet hatte.
Ein paar Tage später waren auch wir in Wrocław. Der gesamte Kurs befand sich auf dem Weg zur Galeria Entropia, wo eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst stattfinden sollte. Schon das Auffinden der Galerie gestaltete sich schwieriger als erwartet. Sie befand sich in einem Wohngebäude – womit wir nicht gerechnet hatten – und nur ein kleines, unscheinbares Schild wies darauf hin. Natürlich haben wir es übersehen und sind zunächst an der Galerie vorbeigelaufen, verwirrt auf unsere Handybildschirme starrend. Laut Google Maps sollte sie doch hier sein… „Schaut mal! Ein Schild! Aber das ist doch ein Wohnhaus… sollen wir wirklich klingeln?“ Nicht ganz überzeugt entschlossen wir uns, es trotzdem zu tun, und tatsächlich waren wir am richtigen Ort. Ein Mitarbeiter der Galerie begrüßte uns (wenn auch etwas verwirrt) und teilte uns mit, dass die Ausstellung noch nicht eröffnet, geschweige aufgebaut war.
Unsere Enttäuschung hielt sich in Grenzen, uns war ja klar, dass nicht alles unbedingt nach Plan verlaufen wird. Der Mitarbeiter der Galerie entschuldigte sich mehrmals bei uns, und man merkte, dass es ihm wirklich leidtat. Doch als wir gerade gehen wollten und wortwörtlich schon in der Tür standen, fing der nette ältere Herr etwas verunsichert an, nicht über ein Kunstwerk oder eine Ausstellung, sondern über den kleinen Raum der Galerie selbst zu sprechen. Es stellte sich schnell heraus, dass diese (augenscheinlich) leere Räumlichkeit gefüllt war mit Überresten vergangener Ausstellungen und Zeiten. Eine mit Blumen bemalte Decke, im Originalzustand aus dem 12. Jahrhundert, eine Säule aus dem 14. Jahrhundert und ihre originalgetreue Kopie, 700 Jahre später geschaffen. Zeichnungen und verbogene Drahtkonstruktionen an den Wänden sowie in den PVC-Boden eingekerbte Gestalten. Eine kleine Kammer, die – anders als das in ihr angebrachte Sanitär vermuten ließe – nicht als WC fungiert, sondern eine eigene kleine Galerie in der Galerie selbst ist, gefüllt mit Exponaten, die von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern gestiftet wurden, wie zum Beispiel Kamila Wolszczak, Marcin Harlender, Alicja Jodko oder Bożena Grzyb-Jarodzka.
Ähnlich wie die Stadt Wrocław selbst erinnert die Galeria Entropia an ein Palimpsest, bei dem das Vergangene erst auf den zweiten Blick zum Vorschein kommt, wodurch sie auch ohne eine aktuelle Ausstellung mit Kunst und Geschichte gefüllt ist. Die Atmosphäre, die in diesem Moment in der Galeria Entropia herrschte, lässt sich, wenn auch nur annähernd, mit einzelnen Adjektiven beschreiben: faszinierend, überraschend, berührend, inspirierend und (meiner Meinung nach am zutreffendsten) einzigartig. Und so kam es dazu, dass wir etwas mehr Zeit in der Galerie verbrachten als vorerst angenommen, fasziniert von dem, was wir schlussendlich vorgefunden haben.
Die Moral der Geschichte: Manchmal verläuft nicht alles nach Plan (so auch oder vielleicht vor allem in Polen), aber was man stattdessen erlebt, kann sich als noch besser herausstellen. Mit dieser Einstellung sollten wir die Reise antreten, und es stellte sich heraus, dass wir zurecht vorgewarnt worden waren. Ob es eine amüsante Fügung des Schicksals war oder sorgfältig geplant wurde, kann nur Frau Prof. Dr. Pörzgen beantworten.
Rothe, Katrin (2010): Polen für Anfänger, Deutschland, 3sat/ RBB[↩]
Offen homosexuell zu leben ist in Russland gefährlich: Nach der Verschärfung des sogenannten Propagandagesetzes im Dezember 2022 und dem Verbot der „internationalen LGBTQ-Bewegung“ im Lande im November 2023 sind mehrere Organisationen, Vereine, Massenmedien und Einzelpersonen gefährdet. Gleichgeschlechtliche Paare, Transgender-Menschen oder Männer in Frauenkleidung – selbst die Markierung „18+“ hilft vor den Strafen in diesen Fällen nicht mehr. Aber es war nicht immer so. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war Russland eines der ersten Länder, die das Gesetz zur Verfolgung von Homosexuellen aufhob. Die 1990er und frühen 2000er Jahre wurden zu einer Zeit der freien Äußerungen im kulturellen Bereich, im Showbusiness, in der Zivilgesellschaft und im Alltag. Jedoch schrumpfte der Käfig um die queere Community nach und nach und scheint sich nun vollständig geschlossen zu haben. Etwa seit Mitte der 2010er nutzt der Kreml jede Möglichkeit, den Westen – oder „Gayropa“ – mit seinen „liberalen Freiheiten“ und „Gender-Perversionen“ als Feind zu inszenieren. Mit dem Ziel, im Gegensatz dazu „traditionelle Werte“ und „Moralnormen“ zu verteidigen und das Land im Inneren zusammenzuhalten.
In diesem Bericht wird der Versuch unternommen, die Ereignisse der letzten Jahre abzudecken, die (massen)mediale Darstellung queerer Menschen im Lande zu analysieren und einen Überblick über die aktuelle Situation der LGBTQ-Gemeinschaft in Russland zu verschaffen.
Das neue freie Land?
Homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen wurden in Russland 1993 legalisiert, seit 1999 steht Homosexualität nicht mehr auf der Liste der Geisteskrankheiten. Die 1990er und der Anfang der 2000er Jahre war in Russland von relativer Freiheit für Medien, zivilgesellschaftliche Organisationen, kulturelle Einrichtungen, Künstler:innen und die queere Community geprägt. Heute ist es kaum vorstellbar, aber 1997 stand das Lied „Golubaja luna“ („Blauer Mond“)1 von Boris Moiseev und Nikolaj Trubač, das das Thema Homosexualität berührte, an der Spitze der russischen Charts; Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre erfreute sich die ukrainische Drag Queen Verka Serdjučka2 im Lande großer Beliebtheit; und 2003 schickte Russland das Frauenduett t.A.T.u., das das Image der „Lolita-Lesben“ prägte, zum Eurovision Song Contest.3 Und das sind nur die markantesten Beispiele aus dieser Zeit. Neben der Vielfalt im Showbusiness, einer lebendigen Drag-Szene nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in anderen Städten, zahlreicher thematischer Clubs und Bars, begannen viele Aufklärungsorganisationen und Beratungsstellen ihre Arbeit. Zudem erschienen mit der Entwicklung des Internets und sozialer Netzwerke unzählige themenbezogene Online-Foren, Selbsthilfegruppen und Informationsseiten.4
Heutzutage kann behauptet werden, dass eine solche Entwicklung damals sehr vielversprechend war: Russland war eines der ersten Länder der ehemaligen Sowjetunion, das Gesetzesänderungen vornahm, war offen für eine Zusammenarbeit mit ausländischen Organisationen und bot privaten Unternehmen die Möglichkeit, den Telekommunikationssektor zu entwickeln. Die ersten postsowjetischen Länder, die die Gesetzgebung änderten und die Kriminalisierung von Homosexualität abschafften, waren die Ukraine (1991), Estland (1992), Lettland (1992), Moldau (1992), Litauen (1993) und Russland (1993). Eines der letzten war Armenien (2003). In zwei Ländern des postsowjetischen Raums gelten homosexuelle Beziehungen bis heute als illegal – in Usbekistan und Turkmenistan.
Homophobie als Politik des Staates
Allerdings führten seit ungefähr Mitte der 2000er Jahre das erneut gestiegene Interesse an Religionen (zunehmender Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche und in einigen Regionen muslimischer Organisationen), die sowjetische Vergangenheit mit ihrer aus dem Gulag stammenden kriminellen Kultur und Einstellung zu Homosexualität als „Erniedrigung“ und „Entmenschlichung“ sowie die staatliche „Propaganda traditioneller Werte“ und der Widerstand der Regierung gegen „liberale und westliche Freiheiten“ zu einer neuen Welle von Homophobie.
Viele Forschende erklären diese Entwicklung hauptsächlich mit externen Faktoren. Der britische Politikwissenschaftler Andrew Foxall führt diese Wende vor allem auf die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union nach einer Reihe liberalisierter „Farbrevolutionen“ im postsowjetischen Raum zurück: Die Rosenrevolution in Georgien 2003, die Orangene Revolution in der Ukraine 2004 und die Tulpenrevolution in Kirgisistan 2005. Laut Foxall änderte sich der ideologische Vektor Russlands am Ende der zweiten Amtszeit Vladimir Putins (2004–2008) und nahm in seiner dritten Amtszeit (2012–2018) volle Fahrt auf.5 In den späten 2000er Jahren war das Wort „Gayropa“ (ernst oder ironisch gemeint) bereits im alltäglichen Sprachgebrauch der russischen Medien und der Online-Community verankert. „Gender-Freiheiten“ und die „homosexuelle Bedrohung“ werden im Lande zum Symbol des westlichen „Kulturimperialismus“, und Russland spiele in diesem Prozess eine „besondere Rolle“. Die Forschenden Tatiana Riabova und Oleg Riabov schreiben:
Russian anti-Western discource represents European civilization as currently undergoing a process of degeneration. „Perversion of the normal gender order“ is cited as obvious proof in support of this claim. With ist negative evaluation of Europe, the concept of „Gayrope“ carries out a compensatory function for Russian identity, not only helping to rehabilitate the notion of Russianness but also engendering a new version of the messianic idea of Russia as the bulwark of Christianity and bastion of traditional values called upon to save Europe and the world. In addition, „Gayrope“ is involved in the legitimation of the political order, since the changes in the European gender order are depicted as representing a threat to Russia, which enables the current authorities to position themselves as the rightful custodians of the country’s „normality“.6
Im Jahr 2014 belegte das Wort „Gayropa“ den 9. Platz in der Kategorie „Anti-Sprache“ des Wettbewerbs „Slovo goda“ („Wort des Jahres“), der von 2007 (und bis 2022) jährlich von der russischen oppositionellen Zeitung Novaja Gazeta durchgeführt wurde.7
Darüber hinaus kann man sagen, dass Homophobie in Russland ihre „regionalen Besonderheiten“ hat. 2017 veröffentlichte Novaja Gazeta die ersten Berichte zu Verschleppungen, Foltern und Ermordungen von schwulen Männer in Tschetschenien.8 Diese Publikationen stießen nicht nur im Lande, sondern auch in weltweiten Medien auf große Resonanz, woraufhin eine ganze Reihe von Publikationen, multimedialen Projekten und Filmen zu diesem Thema folgte.9 Obwohl zahlreiche Menschenrechtsorganisationen wie Rossijskaja LGBT-Set’ (Russisches LGBT-Netzwerk)10 davor schon darauf hingewiesen haben, dass es in der Region Gefängnisse gibt, in denen schwule Männer, lesbische Frauen und Transpersonen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität außergesetzlich festgehalten werden, kann die Reaktion des Staates auf die Publikationen eher als bescheiden und vorsichtig bezeichnet werden. Die tschetschenische Regierung – der Präsident der Republik Ramzan Kadyrov und der Regierungssprecher Al’vi Karimov – behaupten nach wie vor, dass es „in der tschetschenischen Republik keine ,Schwuchteln‘“ gibt und „man niemanden festnehmen oder unterdrücken [muss], den es in [der] Republik gar nicht gibt“.11 Bisher gilt Tschetschenien als die schwierigste Region in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte, die Einstellung gegenüber der LGBTQ-Gemeinschaft und die Zugänglichkeit für Menschenrechtsverteidiger:innen. Wiederkehrendes Sujet der letzten Jahre: Die durch die tschetschenische Polizei gezwungene Rückkehr in die Republik, in die Elternhäuser entlaufener junger Menschen (nicht nur Homosexueller, sondern beispielsweise auch Mädchen und Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden), ihre „Umerziehung“ und Reue vor laufender Kamera und Anerkennung eigener „Fehler“.12 Das Ziel dieser brutalen Praxis ist nichts anderes als Angsterzeugung, moralisches Niederhalten und Herrschaftssicherung. Beunruhigende Nachrichten über Verfolgungen und „Schauprozesse“ kommen jedoch nicht nur aus Tschetschenien, sondern auch aus anderen Regionen: Dagestan, Inguschetien, dem Fernen Osten usw.13
„Wählst du ein solches Russland?“: Mediale Darstellung
Die (massen)mediale Darstellung queerer Menschen in Russland hat in den letzten Jahren in mehrere Richtungen stattgefunden. Eine Richtung stellte queere Menschen als einen gewöhnlichen Teil der Gesellschaft dar, etwa in populären Fernsehserien, Filmen und auf der Theaterbühne. Die Regisseur:innen machten sich nicht über sie lustig oder verurteilten sie. Im Gegenteil, es wurde versucht, reale Situationen widerzuspiegeln, mit denen offen lebende LGBTQ-Menschen auf die eine oder andere Weise im Laufe ihres Lebens konfrontiert sind. Manchmal, so die Handlung, werden sie allein aufgrund ihrer „nicht-traditionellen“ Orientierung zu Opfern (z.B. Film „Vesel’čaki“/„Jolly Fellows“, 2009; Theaterstück „Vse ottenki golubogo“/„Alle Blautöne“, Satirikon-Theater, 2015; Serie „Nulevoj pacient“/„Patient Null“, 2022), manchmal zeigen andere Protagonist:innen eine zweideutige Haltung gegenüber ihnen – von Hass und Verurteilung bis hin zu Mitleid und Akzeptanz (z.B. Serien „Ottepel’“/„Tauwetter“, 2013; „Ėpidemija“/„Epidemie“, 2019; „Fišer“/„Fischer“, 2023), manchmal wird die Existenz queerer Menschen als etwas ganz Natürliches dargestellt („Aktrisy“/„Schauspielerinnen“, 2023).
Mutige und vielversprechende Versuche, die Einstellung gegenüber LGBTQ zu normalisieren, enden jedoch manchmal in Skandalen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Werbekampagne der russischen Supermarktkette VkusVill aus dem Jahr 2021 mit dem Titel „Rezepte des Familienglücks“. In dieser Werbung wurden neben glücklich lächelnden heterosexuellen Paaren, Familien mit und ohne Kinder, alleinziehenden Müttern und älteren Menschen auch zwei junge Frauen abgebildet, die offen lesbisch sind. Die Botschaft der Kampagne war klar: Die Kunden von VkusVill sind zwar unterschiedlich, aber sie alle sind mit den von VkusVill verkauften Lebensmitteln zufrieden und in ihrem Leben glücklich. Die Firma, die sich von den Unternehmensgiganten durch die Bio-Qualität ihrer regionalen Produkte absetzt, wollte sich auch beim Thema LGBTQ als fortschrittlich und tolerant darstellen. Um Gefahren aufgrund des Verbots der „LGBTQ-Propaganda unter Minderjährigen“ zu vermeiden, haben die Autor:innen der Kampagne das entsprechende Bild mit dem Vermerk „18+“ versehen. Das Netz reagierte rasch mit zahlreichen Kommentaren – von Begeisterung und Lob bis hin zu Hass und Boykottaufrufen. Ein Teil der Kund:innen feierte die Kette und die beiden Frauen aus der Werbung für ihren Mut. Der andere Teil reagierte mit wütender Kritik, Hasskommentaren und direkten Drohungen gegen die beiden Protagonistinnen und die Verantwortlichen bei VkusVill. Als Folge zog das Unternehmen drei Tage nach der Veröffentlichung der Werbung die umstrittenen Bilder zurück. Die Geschäftsleitung wandte sich mit einem Brief an die Kundschaft und bedauerte darin, „die Gefühle einer großen Zahl von Kunden, Mitarbeitern und Partnern verletzt zu haben“. Die Publikation sei ein Fehler gewesen, der auf die „Unprofessionalität einiger Mitarbeiter“ zurückzuführen sei.14 Dadurch geriet das Unternehmen sowohl in der konservativen Öffentlichkeit als auch bei liberal gesinnten Bürger:innen in Verruf.
Eine andere Richtung der Darstellung von queeren Menschen ist sehr eng mit der Politik des Staates verbunden und nutzt ein sehr stereotypes Bild von Homosexuellen aus, verspottet sie, stellt sie als eine Art Narren dar, als fremdartige Elemente der Gesellschaft. Beispiele hierfür sind mehrere Werbespots, die entweder im föderalen Fernsehen ausgestrahlt oder von staatsnahen Strukturen erstellt wurden und in sozialen Netzwerken viral geworden sind. Das erste Beispiel ist die im Jahr 2021 im Staatsfernsehen verbreitete Werbung vom Speiseeis „Vologodskij plombir“ mit dem Slogan „Natural’no!“ (kann mit „Natürlich“ und „Naturelles [Eis]“ übersetzt werden).15 Die Werbung hat mehrere Bedeutungsebenen: eine visuelle, symbolische und sprachliche. Die visuelle Gestaltung betont Gegensätze: ein Protagonist ist blond, groß, in Weiß angezogen, maskulin aussehend – ein „typischer Russe“. Ein anderer dagegen wird lächerlich dargestellt: er hat ein buntes Wams, ist geschminkt und gekünstelt – vermutlich ein „Franzose“. Dies ist ein klassisches dichotomes Bild von „Freund/unser Mensch“ und „Feind/Ausländer/Fremder“. Der „Russe“ hat ein „normales“ weißes Pferd, neben dem „Franzosen“ steht ein kleines regenbogenfarbenes (wie aus einem fremden Märchen erschienenes) Einhornpony. Es wird eine weiße Speiseeissorte aus natürlichen Zutaten beworben und im Gegenzug ein regenbogenfarbenes Eis zweifelhafter Herstellung gezeigt. Die Regenbogenfarbe und das Einhorn werden hier als allgemein bekannte Symbole der LGBTQ-Community verwendet. Außerdem kann dies auch als eine Anspielung an ein anderes in Russland hergestelltes Eis – „Raduga“ („Regenbogen“ der Firma Čistaja linija) – gesehen werden. Dieses Eis ist im Jahr 2020 berühmt geworden, als die Duma-Abgeordnete Ekaterina Lachova in einer Videokonferenz mit dem Präsidenten Putin die knallbunte Werbung dieser Eismarke als „Homo-Propaganda“ kritisiert hat.16 Das in der Werbung mehrmals verwendete Wort „natural’no“/„natural’noe“ betont die „traditionelle“ Orientierung des „Russen“: Als „Natural“ wird im Russischen umgangssprachlich ein Heterosexueller bezeichnet. Die Botschaft ist damit klar: Diese Eismarke ist für „unsere Leute“, für „Naturals“, für diejenigen, die die „traditionellen“ Werte teilen.
Ein anderes Beispiel ist ein anonymer Werbespot, der während des Präsidentschaftswahlkampfes im März 2018 im Netz verbreitet wurde.17 Der Spot betonte, wie wichtig es sei, wählen zu gehen. Was passiert, wenn man nicht ins Wahllokal geht, zeigt das Video: Hyperinflation, Erhöhung des Wehrdienstalters, Beschränkung der Zahl von Toilettenbesuchen am Tag. Diskriminierend werden dabei zwei Gruppen dargestellt, die der Protagonist in seinem Alptraum sieht: Ein Schwarzer Soldat, der zusammen mit einem Offizier kommt, um den Protagonisten in die Armee einzuziehen, und ein Homosexueller, der nun in der Wohnung des Protagonisten wohnt. Beim letzten Fall geht es im Video um ein Gesetz, das jede Familie verpflichtet, einen Schwulen „in ihre Obhut“ zu nehmen.18 Das Ganze motiviert den Protagonisten ins Wahllokal zu gehen. Obwohl, wie bereits erwähnt, die Autor:innen des Videos nicht bekannt sind, ist es offensichtlich, dass es durch die Ausnutzung der lebhaftesten Stereotypen (und die Teilnahme des bekannten russischen Serienschauspielers Sergej Burunov) die Aufmerksamkeit der Wähler:innen auf sich ziehen und sie motivieren soll, für eine Zukunft ohne „liberale Werte“ und „Gender-Freiheiten“ zu stimmen.
Ein weiteres Beispiel ist ein wiederum im Netz verbreitetes Video, das im Juni 2020 für die Teilnahme an der Abstimmung über die Verfassungsänderungen werben sollte. Diese Änderungen (für die dann tatsächlich abgestimmt wurde) sollten u.a. dem Präsidenten Putin zwei weitere Amtszeiten ermöglichen und die Ehe als „Vereinigung von Mann und Frau“ in der Verfassung verankern. Die Autor:innen dieses Videos sind bekannt: die Föderale Nachrichtenagentur und die Mediengruppe „Patriot“ (unter der Leitung vom russischen Oligarchen Evgenij Prigožin).19 Das Video zeigt, wie schwule Paare Kinder in Russland adoptieren könnten, wenn die Verfassungsänderungen vom Volk nicht unterstützt werden: Ein Junge im Grundschulalter wird von einem freundlichen Adoptivvater aus dem Kinderheim abgeholt, auf die Frage des Kleinen, wo seine neue Mama sei, zeigt der neue Papa auf einen anderen Mann, der sich feminin bewegt, geschminkt ist und dem Kind ein Kleidchen schenkt. Die Mitarbeiterin des Kinderheims spuckt vor Wut auf den Boden, kann aber anscheinend nichts ändern. Eine Stimme im Hintergrund fragt: „Wählst du ein solches Russland?“. Die Botschaft des Videos soll auch direkt betonen: Es sind „Fremde“ unter uns, ein russisches Kind bleibt lieber in einem staatlichen Kinderheim, als dass es von so einer „Familie“ adoptiert wird. Die Werbung ist sehr schnell viral gegangen und löste u.a. Empörung unter zahlreichen liberal gesinnten russischen Netznutzer:innen aus. Viele haben mit dem Hashtag #давыберу („ja, wähle ich“) ihre kritischen Äußerungen markiert.20 Andere haben mit dem ironischen Argument reagiert: Viele russische Kinder wachsen in „gleichgeschlechtlichen Familien“ – und zwar nur mit einer (alleinerziehenden) Mutter und Oma auf.21
Zusammenfassend kann behauptet werden: Alle Versuche liberaler Journalist:innen, Blogger:innen, Aktivist:innen und unabhängiger Filmemacher:innen, die Themen der queeren Community in ihren Werken und Publikationen anzusprechen, werden durch das primitive, übertriebene und stigmatisierende Bild von Menschen mit „nicht-traditioneller Orientierung“ in den russischen Massenmedien zunichte gemacht.
Gesetzliche Regulierung
Zahlreiche erst vor kurzem verabschiede Gesetze regulieren – beschränken oder gar blockieren – die Tätigkeit von LGBTQ-Organisationen und Aufklärungsinitiativen sowie die Forschung im Bereich Gender Studies und Geschichte der queeren Community in Russland. Das Gesetz über „ausländische Agenten“ ist eine der wichtigsten und strengsten Regelungen. Als „ausländische Agenten“ können seit 2012 NGOs, seit 2017 Massenmedien und seit 2020 Privatpersonen in Russland genannt werden, die politisch und gesellschaftlich tätig sind und finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten. Organisationen, Medien und Personen, die unter das Gesetz fallen, müssen sich beim Justizministerium registrieren und die entsprechende Markierung überall verwenden. Das stigmatisierte, aus der Sowjetzeit stammende „Agenten“-Label ist nicht das einzige Problem: Für die betroffenen Organisationen oder Personen bedeutet dies eine erhebliche Einschränkung ihrer Tätigkeit, strengere Kontrollen und Überwachung von Arbeitsabläufen, Verlust von Sponsor:innen und Geschäftspartner:innen. Viele in Russland tätige LGBTQ-Organisationen sind bereits als „ausländische Agenten“ eingestuft worden: das Russische LGBT-Netzwerk, die LGBT-Gruppe Vychod in St. Petersburg, die LGBT+-Initiative Revers in Krasnodar, das Moskauer Gemeindezentrum für LGBT+-Initiativen, das Ressourcenzentrum für LGBT in Ekaterinburg, die Trans-Initiativgruppe T-Action in St. Petersburg, die öffentliche LGBT-Organisation Irida in Samara, die autonome gemeinnützige Organisation sozialer und sportlicher Programme Sportivnoe LGBT-soobščestvo, das Internationale LGBT-Filmfestival Bok-o-Bok in St. Petersburg, die Hetero- und LGBT-Allianz für Gleichberechtigung, die Menschenrechtsorganisation Radužnaja associacija und andere Organisationen sowie auch Privatpersonen, darunter Aktivist:innen, Journalist:innen und Jurist:innen, die sich mit dem Schwerpunkt beschäftigen.22
Ein anderes restriktives Gesetz existiert seit 2013 als „Verbot der Förderung nicht-traditioneller sexueller Beziehungen“ gegenüber Minderjährigen. Die seit Dezember 2022 geltende Verschärfung weitet dieses Verbot auf Erwachsene aus. Die Möglichkeit etwa für Medien oder queere Organisationen, durch eine Kennzeichnung entsprechender Inhalte als „18+“ einer Bestrafung zu entgehen, entfällt somit. Zusätzlich ist es durch die Verschärfung des Gesetzes strafbar, Minderjährige über Geschlechtsangleichungen aufzuklären. So dürfen an sie keinerlei Informationen weitergegeben werden, die sie „zu einem solchen Schritt ermutigen“ könnten.23 Die Gesetzesverschärfung zeigte bereits erste Auswirkungen: Einige kleine Verlage stoppten die Auslieferung russischer Ausgaben von queeren Romanen, einige Organisationen stellten ihre Arbeit ein. Ein Beispiel dafür ist der Verlag Popcorn Books, der in den vergangenen Jahren nicht nur ausländische queere Literatur ins Russische übersetzte, sondern auch russische Romane zur queeren Thematik veröffentlichte. Im Jahr 2021 wurde eine vom Popcorn Books herausgebende schwule Liebesgeschichte „Leto v pionerskom galstuke“ („Ein Sommer im Pionierhalstuch“) von Katerina Silvanova und Elena Malisova in Russland zum Beststeller. Nach Angaben vom Verlag wurden insgesamt über 300.000 Exemplare der romantischen Geschichte zweier junger Männer, die sich im Pionier-Sommerlager kennenlernen, verkauft, was zu einem beispiellosen Erfolg eines solchen Romans geworden ist. Neben diesem Erfolg erreichten die beiden Autorinnen massive Drohungen seitens des konservativ eingestellten Publikums: Sie mussten in Folge Russland verlassen. Mittlerweile wurden sie zu „ausländischen Agentinnen“ erklärt.24 Der Verlag stoppte die Veröffentlichung neuer Bücher mit LGBTQ-Themen, zog alle bereits erschienenen Publikationen aus dem Verkauf und beschränkte sich auf die Herausgabe harmloser Werke im Genre Young Adult.
Nach den Angaben vom Portal Novaja Gazeta Evropa erstellten die russischen Sicherheitskräfte von April bis Juni 2023 33 Protokolle, in denen Fälle von „Demonstration“ von LGBTQ-Inhalten erfasst wurden (es ist mindestens fünfmal mehr als im Durchschnitt in den vergangenen zehn Jahren).25 Wer also in Werbung, Medien- und Online-Inhalten, Büchern, Filmen und Theateraufführungen LGBTQ und Geschlechtsangleichung thematisiert (oder gar positiv darstellt), riskiert Strafen. Ein Verstoß gegen das Gesetz kann Bürger:innen bis zu 200.000 Rubel (etwa 2.025 Euro) kosten. Unternehmen und Organisationen droht eine Geldstrafe von bis zu 5 Millionen Rubel (50.620 Euro). Ausländer:innen, die gegen das Gesetz verstoßen, droht eine Ausweisung aus Russland oder 15 Tage Haft.
Außerdem richtet sich das neu formulierte Gesetz auch gegen die „Propaganda von Pädophilie“, d.h. Pädophilie wird im Gesetzestext praktisch mit Homosexualität und Transgender gleichgesetzt. Dies dürfte die Stigmatisierung weiter verstärken. Das Gesetz (das wohl als ein „Gummiparagraph“ bezeichnet werden kann) gibt dem Strafverfolgungsamt uneingeschränkte Befugnisse und macht es dem Sicherheitsapparat möglich, schon bei kleinsten Vergehen strafrechtlich vorzugehen. Weil das Gesetz sehr schwammig und nebulös formuliert ist, könnte es auf alle möglichen Handlungen angewendet werden – ob auf schwule und lesbische Liebesgeschichten in Kinofilmen oder auf Fotos auf privaten Seiten in sozialen Netzwerken. Unklar bleibt, ob es zum Verbot einiger russischen Klassiker, z.B. Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ oder Fedor Dostoevskijs Roman „Die Dämonen“, führen kann.
Im Juli 2023 hat Präsident Putin ein Gesetz unterzeichnet, das Geschlechtsangleichungen von Trans-Personen verbietet. Das Gesetz ist damit in Kraft und verbietet alle medizinischen Eingriffe, die darauf abzielen, „das Geschlecht einer Person zu ändern“. D.h. Transmenschen haben keinen Zugang mehr zu Hormonbehandlungen und operativen Eingriffen. Es ist nun nicht mehr möglich, den Geschlechtseintrag im Pass ändern zu lassen. Darüber hinaus wird es Transmenschen verboten, Kinder zu adoptieren, die Vormundschaft für diese zu übernehmen oder Pflegekinder aufzunehmen.26
Am 30. November 2023 hat das Oberste Gericht Russlands die „internationale LGBTQ-Bewegung“ als „extremistisch“ eingestuft und im Lande verboten. Was genau das Verbot für alle Vereine, Verbände, Medien und Privatpersonen bedeuten soll, wird man in näherer Zukunft sehen. Eine weitere Gesetzesinitiative der russischen Regierung zielt darauf ab, den Feminismus als „gefährliche, schädliche, extremistische Ideologie“ anzuerkennen und die „Propaganda von Ideen der Child-Free-Bewegung“ zu verbieten.27
Queere Community in Russland: Hat sie überhaupt eine Zukunft?
Bereits in den vergangenen Jahren sahen sich LGBTQ-Personen in Russland großem Druck ausgesetzt. Mit der Gesetzesverschärfung wird die queere Community weiter in die Unsichtbarkeit gedrängt. Viele prominente Aktivist:innen und Journalist:innen fühlten sich gezwungen, Russland inzwischen zu verlassen. Darüber hinaus erschweren solche Gesetze und Verbote die Arbeit vieler NGOs bei der Prävention und Behandlung sexuell übertragbarer Infektionen, vor allem HIV/AIDS. Statistiken zeigen, dass es im vergangenen Jahr in Russland etwas mehr als 1 Million HIV-infizierte Menschen gab. Die HIV-Neuinfektionsrate ist in Russland besonders hoch (mit rund 40,2 Infektionen je 100.000 Einwohner:innen ist sie die höchste in Europa).28 Auch wenn die Krankheit durch Medikamente längst nicht mehr so ansteckend und tödlich wie früher sein kann, bleiben Diskriminierung der Betroffenen und Tabuisierung des Themas im Lande alltäglich.29
Selbst auf die Gefahr hin, sich den Titel „unerwünschte Organisation“ und ein Tätigkeitsverbot in Russland zuzuziehen, unterstützen viele internationale (und deutsche) Kolleg:innen nach wie vor die Arbeit russischer Menschenrechtler:innen und LGBTQ-Aktivist:innen, und helfen bei der Organisation von Programmen für Geflüchtete. Das Russische LGBT-Netzwerk ist Mitglied der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA); der Quarteera-Verein, eine der größten Organisationen russischsprachiger Lesben, Schwuler, Bisexueller, Trans*-Personen (und ihrer Freunde) in Deutschland, bietet Migrant:innen Rechtsberatung, Übersetzungsdienste, psychologische Unterstützung und vieles mehr; solche Organisationen und Medien wie Amnesty International, Reporter ohne Grenzen, Bundeszentrale für politische Bildung, dekoder, N-Ost u.a. berichten über die Situation in der Region, bringen Journalist:innen und Forschende zusammen, liefern hochwertige und rechtzeitige Expertise.
Homophobe Äußerungen der russischen Regierung, des Präsidenten und der Vertreter der Russischen orthodoxen Kirche begleiten auch den Krieg in der Ukraine. In seiner Rede vom 16.03.2023 „Die Ukraine, die Sanktionen und die Lage“ sagte Putin: „Ich verurteile diese Leute mit ihren Villen in Miami oder an der Côte d’Azur, die auf Foie gras, Austern oder sogenannte Gender-Freiheiten nicht verzichten können, keineswegs. Das ist gar nicht das Problem, aber ich sage es noch einmal, viele dieser Leute leben geistig dort und nicht hier, nicht mit unserem Volk, nicht mit Russland“.30 Auch mit dieser (vorgetäuschten) Toleranz wird es immer wieder betont, dass die „sogenannten Gender-Freiheiten“ fremde Elemente für das Leben in Russland sind und Homosexualität bzw. die queere Community als eine Abart des dekadenten, im Niedergang begriffenen Westens, eine Unterminierung moralischer Normen, im Lande nicht akzeptiert werden kann. Heutzutage wird dieses Thema auch in mehreren Reden des russischen Patriarchen Kirill betont und verschärft: Den Kampf im Donbas stellt das kirchliche Oberhaupt Russlands als „Kampf gegen die Legalisierung von Schwulenparaden in der Region“31 dar. Eine Kontinuität der Rhetorik mit dem „Gayropa“-Narrativ und dem dadurch konstruierten Bild einer Bedrohung kann also im Laufe der letzten 10 oder gar 15 Jahre beobachtet werden. All das sind die Argumentationsversuche, das eigene Vorgehen zu rechtfertigen und die Bevölkerung um sich zu vereinen.
Gleichzeitig kann behauptet werden, dass Russland und seine LGBTQ-Politik lediglich ein Beispiel dafür sind, wie autoritäre Regime und paternalistische Systeme sich in die Tätigkeit der Zivilgesellschaft und ins Privatleben der Menschen einmischen. Versuche einer solchen Überwachung und Kontrolle sind nicht nur in einigen Ländern des postsowjetischen Raums zu beobachten, sondern auch in anderen Regionen der Welt – in Lateinamerika, Afrika, Asien und sogar einigen europäischen Ländern – zu sehen.
Das Wort „goluboi“ (übersetzt „helles blau“) ist der russische Slang-Ausdruck für schwul. Im Text des Lieds geht es um zwei Brüder, einer hat der Liebe zu Frauen abgeschworen, um sich „in der Einsamkeit des Himmels zu verlieren“. Dabei war der Sänger und Tänzer Boris Moiseev (04.03.1954-27.09.2022) einer der ersten schwulen Sänger in Russland, der sich outete. Mehr zum Thema siehe: Clarke, Kevin: Russlands Wettstreit zwischen Homophobie und Homophilie, in: Queer.de, 02.11.2014[↩]
Unter dem Künstlernamen Verka Serdjučka, einer grell geschminkten, kitschig angezogen und beleibten Travestiefigur, versteckt sich der ukrainische Sänger, Komödiant und Komponist Andrij Danylko. International bekannt wurde er durch seinen Auftritt beim Eurovision Song Contest 2007, wo er die Ukraine vertrat und den zweiten Platz belegte.[↩]
Die aktivste Phase des Duetts t.A.T.u. (Julia Volkova und Elena Katina) fiel in die Jahre 1999–2004. Es war ein Projekt des russischen Produzenten Ivan Šapovalov. Die bekanntesten Lieder des Duetts waren „Ja sošla s uma“ (englische Version: „All the Things She Said“), „Nas ne dogonjat“ (englische Version: „Not Gonna Get Us“), „30 minut“ (englische Version: „30 Minutes“). Mehr zum Thema siehe: Pylypchuk, Inga: Homophobie? Russland kann auch anders, in: Welt.de, 18.08.2013[↩]
Siehe z.B. folgende Quellen: Buyantueva, Radzhana: LGBT-Bewegung und Homophobie in Russland, in: Russland-Analysen, Nr. 349, 16.02.2018, S. 2-5; Andreevskikh, Olga: Social Networking Sites as Platforms for Transgression: Two Case Studies of Russian Women Involved in Bisexual and Transgender Rights Activism, in: Digital Icons. Studies in Russian, Eurasian and Central European New Media, No 19 (2018), pp. 11-39.[↩]
Vgl. Foxall, Andrew: From Evropa to Gayropa: A Critical Geopolitics of the European Union as Seen from Russia, in: Geopolitics, 24/1, 2017, pp. 174-193.[↩]
Riabova, Tatiana; Riabov, Oleg: „Gayromaidan“: Gendered Aspects of the Hegemonic Russian Media Discourse on the Ukrainian Crisis, in: Journal of Soviet and Post-Soviet Politics and Society, Vol. 1 (2015), pp. 83-108.[↩]
Vgl. Archangel’skij, Andrej: Mirozlobie pobedilo. Ob itogach konkursa „Slovo goda“, in: Novaja gazeta, Nr. 143, 2014, S. 18-19.[↩]
Siehe: Milašina, Elena: Ubijstvo česti, in: Novaja gazeta, 01.04.2017; Gordienko, Irina; Milašina, Elena: Raspravy nad čečenskimi gejami, in: Novaja gazeta, 04.04.2017. Am 04.07.2023 ist die Investigativreporterin Elena Milašina in Tschetschenien zusammengeschlagen und schwer verletzt worden. Seit Jahren gehen die tschetschenischen Behörden mit einer Verleumdungs- und Einschüchterungskampagne gegen Elena Milašina und die Novaja Gazeta vor.[↩]
Der russische Ausdruck „gej na perederžke“ („Schwuler in Obhut“) bezieht sich auf die ehrenamtliche Praxis, obdachlose Haustiere, meist Katzen und Hunde, während der Suche nach einem dauerhaften Zuhause für sie zu herbergen.[↩]
Siehe den Film vom Blogger Jurij Dud’ „HIV in Russia“, 2020. Mit seinem YouTube-Video hat Dud’ ein Bewusstsein für das Problem geschaffen, das Russland mit HIV und AIDS hat: In drei Jahren haben den Film über 24 Millionen Menschen geguckt und über 108.000 Kommentare gelassen (Stand: Juli 2023).[↩]
Putin, Vladimir: Die Ukraine, die Sanktionen und die Lage. Einführende Worte zur Online-Sitzung am 16.3.2022, in: Osteuropa, 72. Jg., 1-3/2022, S. 157-166, hier: S. 162.[↩]
„Wenn man in einer Suchmaschine die Worte ‚osteuropäische‘1Frau eingibt, wird man mit einer Fülle von Stereotypen im Gewand von Sexismus und Antislawismus konfrontiert. Datingportale, Katalogfrauen, Pornokategorien, Jobangebote für Putzkräfte und andere prekäre Arbeitsverhältnisse. Welche Stereotype gibt es und woher kommt diese ‚westliche‘ Machtphantasie eigentlich?“2
Mit dieser Frage trifft die Aktivistin und Kulturwissenschaftlerin Lisa Jarzynski in ihrem Vortrag im Rahmen der Feministischen Aktionswochen Bochum 2023 einen wunden Punkt. Es scheint offensichtlich, dass die Assoziation einer geschlechtlich und lokal eingegrenzten Gruppe von Menschen mit Einkaufskatalogen hoch problematisch ist. (Zum Vergleich, gibt man „Deutsche Frauen“ in die Suchmaschine ein, dann wird von Google im Standort Deutschland automatisch mit Begriffen wie „Fußball-nationalmannschaft“, „Comedians“, „Biathlon“ oder „Krimiserien“ ergänzt.) Neben Heiratsvermittlungen und Dating-Tipps finden sich aber auch einige ausführliche Erfahrungsberichte von Frauen mit familiärem Bezug zu „Osteuropa“. So erzählt zum Beispiel die Journalistin Britta Rybicki von immer wiederkehrenden diskriminierenden Begegnungen: „Osteuropäische Frauen erfüllen für diese Männer sämtliche normative Schönheitsideale. Wir werden dadurch aber lediglich zum Objekt der Begierde.“3 Und die Redakteurin Anastasia Tikhomirova reagiert in einem Artikel auf misogyne Debatten um die Ankunft ukrainischer Geflüchteter im Sommer 2022: „Männer berichten dort ganz offen von ihren sexuellen Fantasien und missglückten Annäherungsversuchen an geflüchtete Ukrainerinnen.“4 Auch Jarzynski zeigt in ihrem Vortrag grenzüberschreitende und menschenverachtende Kommentare aus deutschsprachigen Freierforen, welche einen unmittelbaren Anstieg des Menschenhandels5 entlang der Fluchtroute Ukraine-Polen-Deutschland nach sich zogen. Ebenso erhöhte sich die Anzahl ukrainischer Sexarbeiter*innen in Deutschland massiv, in Berlin habe sie sich laut Meldestellen verfünffacht.6 Dabei sind diese neuen Arbeitsverhältnisse meist von Geldnot und Abhängigkeit geprägt.
Diese erschütternden Berichte von Gewalt, Missbrauch und Gefahr scheinen die letzte Konsequenz der symptomatischen Google-Suche und allen damit verbundenen Stereotypen zu sein. Für Tikhomirova handelt es sich hier um ein vernachlässigtes Politikum:
„Deutschland hat ein Problem mit antislawischem Rassismus. Dieser differenziert nicht zwischen Ukrainer:innen, Russ:innen und anderen slawischen Völkern, sondern homogenisiert sie zu einer einheitlichen Masse. Gepaart mit Sexismus ergibt sich eine bisher wenig beachtete Diskriminierungsform – der nun auch viele geflüchtete Ukrainerinnen ausgesetzt sind.“7
Denn hinter den Projektionen auf „osteuropäische Frauen“ verbergen sich gewaltige, transnationale Strukturen, die Gesellschaftshierarchien, Migrationsströme und Zugänge zum kapitalistischen Arbeitsmarkt prägen. Warum gibt es keinen Begriff, um genau diese Marginalisierung zu bezeichnen und zu analysieren?
Ein derartiges Vorhaben würde wohl vornehmlich im wissenschaftlichen Kontext der Osteuropa- und Geschlechterforschung verortet werden. Da Diskriminierungs- und Machtstrukturen historisch gewachsen und geformt sind, braucht es vor allem eine geschichtswissenschaftliche Dimension. Dementsprechend gilt das besondere Interesse dieser Arbeit den kritischen Analysen des Fachs Osteuropäische Geschichte zum „osteuropäischen“ Frauenbild.
Eine überblicksartige Recherche soll dabei helfen den ungefähren Forschungsstand zu ermitteln. Die Eingabe des Begriffspaares „Osteuropäische Frau“ auf wissenschaftlichen Plattformen fördert zunächst einige Beiträge zu Migration und Care-Arbeit (Spindler 20118, Friese 19959), dann zum Verhältnis Osteuropa-EU (Regulska 200310), zu osteuropäischen Mediengeschichten (Kandioler 202211) und schließlich zur Konstruktion „osteuropäischer“ (und anderer „nicht-deutscher“) Frauen in deutschen Medien (Farrokhzad 200612) zutrage. Es fällt jedoch auf, dass es sich hier vorrangig um Arbeiten von Kultur-, Sozial- und Medienwissenschaftler*innen13, Geschlechterforscher*innen oder Politolog*innen handelt.
Die erweiterte Suche auf einschlägigen Forschungsportalen zu Ost-, Südosteuropa und Zentralasien wie Länder-Analysen und Osmikon öffnet drei Ergebnisfelder: Einerseits erscheinen viele politische (und geschichtswissenschaftliche) Analysen zu tagesaktuellen Ereignissen in „Osteuropa“, zum Beispiel über die feministischen Kämpfe zum 8. März in der Ukraine14 oder jahrelanger Aktivismus von Frauen in Belarus15. Des Weiteren finden sich Artikel oder Monografien, die sich mit historischer „osteuropäischer“ Geschlechterpolitik und -geschichte beschäftigen (Jancar 197616, Goehrke, Haumann 200417, Petrenko 201818). Drittens – und für Jarzynskis und Tikhomirovas Fragestellung am interessantesten – gibt es innerfachliche Kritik von Historikerinnen, die auf problematische Strukturen und Leerstellen im Fach Osteuropäische Geschichte und dessen Forschung hinweisen. So stellten zum Beispiel Susanne Kraatz, Dorothée de Nève, Silvia von Steinsdorff vor knapp zwanzig Jahren im Titel ihres Beitrags die Frage: „Osteuropaforschung ohne Frauen?“19 Diese Frage klingt wie ein Echo der Jubiläumsrede von Beate Fieseler im Jahr 1992, die bereits deutlich auf die Missstände in ihrem Fach hingewiesen hat.20 Mitte der 2010er thematisierten dann die Historikerinnen Natali Stegmann21 und Claudia Kraft22 die Notwendigkeit einer geschlechtersensiblen Osteuropaforschung.
Dieses letzte Feld bildet ein gutes Fundament, um sich den Fragen Jarzynskis und Tikhomirovas zu nähern. Es soll demnach nicht um Geschlechterpolitik in den einzelnen Ländern „Osteuropas“ oder um Geschlechterforschung an osteuropäischen Universitäten gehen, sondern vielmehr um die Machtdynamiken, die hinter dem Bild der „osteuropäischen Frau“ stecken und vor allem im gesellschaftlichen und akademischen Diskurs Mitteleuropas wirkmächtig sind. Aus einer nicht-geschichtswissenschaftlichen Perspektive wird untersucht, inwieweit das homogenisierende Bild der „osteuropäischen Frau“ an der Intersektion von Antislawismus, Klassismus und Sexismus in den Geschichtswissenschaften behandelt wird.
Zu Beginn wird auf inhaltlicher Ebene mithilfe von Jarzynskis Vortrag die Konstruktion der „osteuropäischen Frau“ und die Funktionsweise dieser Figur erläutert. Anschließend soll eine wissenschaftskritische Perspektive eingenommen werden und damit die Marginalisierung der Geschlechterperspektive in der allgemeinen Geschichtsschreibung untersucht werden, die sich auch im Fach Osteuropäische Geschichte wiederfindet. Interessanterweise werden bei der Betrachtung der Entstehung der geschlechtlichen Binarität und der ideologischen Trennung in Ost-Westeuropa Parallelen sichtbar, wie Stegmann und Kraft ausführen. Schließlich soll diskutiert werden, inwiefern die Geschlechterforschung und die Osteuropäische Geschichte die Erfahrung des akademischen Abseits teilen und warum ein Zusammenwirken beider Perspektiven eine wissenschaftliche Bereicherung wäre.
Konstruktion der „osteuropäischen Frau“
Wie in der Einleitung bereits erwähnt, bezieht sich diese Analyse auf den Vortrag „Antislawismus und Sexismus“ der Kulturwissenschaftlerin Lisa Jarzynski, welche im März über die Konstruktion und Sexualisierung der Figur der „osteuropäischen Frau“ referiert hat. Den Begriff „Figur“ habe sie gewählt, weil eine Figur immer konstruiert, fiktiv und fremdbestimmt sei – eine Projektionsfläche eben.2 Die konkreten Projektionen, mit denen polnische, russische, ukrainische, rumänische und viele andere Frauen und weiblich gelesene Personen konfrontiert sind, müssen „benannt werden, damit sie dekonstruiert werden können.“23
Stereotype von „osteuropäische Frauen“ beziehen sich oft auf ihr Äußeres (schön, blond, jung, weiß) und die Dienstleistungen, die sie anbieten. So zum Beispiel ihre Käuflichkeit, sowohl als Sexarbeiterin, als auch als Reinigungs- oder Pflegekraft. Der „osteuropäischen Frau“ werden aber auch Attribute nahegelegt, die christlich-patriarchale Sehnsüchte bedienen, so wird sie als religiöse, reine Madonna imaginiert, die gleichzeitig sehr fürsorgend und familienbezogen ist.23 Glücklicherweise (Ironie!) nicht familienbezogen genug, um nicht ihr engstes Umfeld zu verlassen und als Care-Arbeitsmigrantin für höhere Löhne gen Westen zu ziehen. Interessanterweise sind „osteuropäische Frauen“ nur solange Projektionsfläche für Schönheit, Reinheit und Erotik, solange sie jung sind. Im Zuge des Alterungsprozesses verwandeln sie sich in „Babuschkas“, die fast genau die gegenteiligen Zuschreibungen erhalten.23 Diese Bewertung ordnet sich allerdings in den größeren Zusammenhang der allgemeinen patriarchalen Logik des weiblichen Alterungsprozesses als Wertverlust einer Frau ein.
Jarzynski erwähnt der Vollständigkeit halber auch den Antislawismus, der „osteuropäische“ Männer betrifft. Auch hier existieren zahlreiche Vorurteile, die sich teilweise immer wieder in kapitalistischen Strukturen niederschlagen. So ist das Äquivalent zu „Pflege/Prostitution“ als Berufsaussicht für „osteuropäische“ Männer „Gemüseernte/Baustelle“.23 Hier zeigt sich, wie prekäre Berufe in Europa gegendert und entlang kapitalistischer Hierarchien weitergegeben werden.
Diese anti-osteuropäischen und sexistischen Stereotype wirken in alle gesellschaftlichen Richtungen, führt Jarzynski aus. So gibt es beispielsweise gesamte Fernsehformate, die sich um die „Vermittlung osteuropäischer Frauen“ an deutsche Männer drehen, wie die Sendung „Traumfrau gesucht – das Geschäft mit der Liebe“24 von RTL+ und auch in berühmten Fernsehserien wie den Simpsons tauchen „putz- und heiratsfreudige Russinnen“25 auf. Auf einschlägigen Websites finden sich zudem „Tipps im Umgang mit slawischen Frauen“, die an Bedienungsanleitungen erinnern26 und so manche Werbung im öffentlichen Raum bedient antislawische und reduzierende Klischees, beispielsweise die Buswerbung von Procura24 Pflegevermittlung27 im Jahr 2020. Schließlich zeigt sich die klare transnationale Verteilung von Care-Arbeit auch in der Ausgabe des PONS Bildwörterbuch „Deutsch für Pflegekräfte“28, welches lediglich auf den Sprachen rumänisch, polnisch und bulgarisch erhältlich ist.23
All diese Beispiele ergeben ein Bild, welches eine gewissen Funktion erfüllt, erklärt der Osteuropahistoriker Christian Petersen im Interview mit Tikhomirova: „Der abwertende, westliche Blick auf Osteuropa und Osteuropäer:innen wird noch mal verstärkt, indem osteuropäischen Frauen bestimmte sexistische Klischees zugeschrieben werden.“29 Insbesondere aus deutscher männlicher Perspektive wird die „osteuropäische Frau“ als die „exotische Andere“ imaginiert, die das Bedürfnis nach Umsorgt-werden und Begehrt-werden zu erfüllen verspricht. In der Logik dieses Narrativs, so Petersen, wollen sich slawische Frauen des „rüpelhaften, groben, gewalttätigen, ungebildeten und alkoholsüchtigen russischen Mannes“ entledigen und sehnen sich stattdessen nach einem „westlichen, fürsorglichen Mann“.30 Die misogynen Züge des Patriarchats kommen auch dadurch zum Tragen, dass sich in der „osteuropäischen Frau“ ein „vermeintliche[r] Gegensatz zur westlichen, emanzipierten Frau“ manifestiert, denn westliche Frauen verkörpern nicht mehr uneingeschränkt „traditionelle Werte wie Familie, Religion und Küche“.30 Die Suche nach der Frau, die alle ihr im Patriarchat zugedachten Rollen erfüllt, wird also im Osten fündig, ohne jedoch zwischen nationalen Zugehörigkeiten differenzieren zu müssen. Die „osteuropäische Frau“ ist feminin, normschön, christlich, fürsorglich, familiär und vor allem leicht zu kontrollieren und zu dominieren. Mit einem derartigen Stereotyp „markiert der deutsche Mann seine eigene westliche Überlegenheit und Männlichkeit, während er zugleich alles Nichtmännliche und Nichtwestliche durch rassifizierte und sexistische Zuschreibungen seinerseits abwertet“, legt Petersen dar.30 Gleichzeitig kritisiert auch er, dass das „Zusammenwirken von Sexismus und Antislawismus“ bislang kaum Gegenstand von Forschung und systematischen Auseinandersetzungen ist.30 Dieser Beobachtung folgend, wird in den folgenden Kapiteln nach möglichen Ursachen für diese wissenschaftliche Lücke gesucht.
Ideologischer Ausschluss der Geschlechterperspektive
Zunächst scheint ein Stereotyp nur eine rhetorische Figur zu sein, die in der Philologie, der Psychologie oder in den Sozialwissenschaften verortet ist. Doch bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass hinter sämtlichen diskriminierenden Annahmen historisch geformte Strukturen stecken. Diese Strukturen sind in der Regel auf Wirtschafts- und Machtsysteme zurückzuführen, die im Fall der „osteuropäischen Frau“ beispielsweise Kapitalismus, Nationalismus, Sexismus und (Mittel-)Eurozentrismus sein könnten. Geschichtswissenschaftliche Analysen können daher viel dazu beitragen, die Genealogie, Funktion und Aktualität einer diskriminierenden Figur zu verstehen.
Die vergebliche Suche nach ebenjenen Arbeiten zur Diskriminierung von „osteuropäischen Frauen“ im Fach Osteuropäische Geschichte, ist auch auf grundlegendere Leerstellen in der institutionalisierten westlichen Geschichtswissenschaft zurückzuführen. Feministische Historiker*innen problematisieren schon lange den ideologischen Ausschluss einer vielfältigen Geschlechterperspektive zugunsten einer allgemeinen männlichen Geschichtsschreibung. Die Historikerin Natali Stegmann spitzt die Situation in ihrem Aufsatz Die osteuropäische Frau im Korsett westlicher Denkmuster folgendermaßen zu: „Die allgemeine Geschichtsauffassung ist traditionell geschlechterblind. Frauen fehlen hier als Forschende wie auch als Gegenstand der Forschung.“31 Diese Zustände führten auch zur Gründung der Disziplin der Geschlechtergeschichte, welche, laut Pionierin Karen Hausen, die bisherige Geschichtsschreibung aus der Perspektive der „Menschen weißer Rasse [sic!], abendländisch-christlicher Zivilisation und männlichen Geschlechts“ dekonstruieren sollte.32
Gerade die moderne europäische Geschichtswissenschaft begann „als Projekt der Selbstvergewisserung ‚bürgerlicher‘ Nationalstaaten im 19. Jh.“ und funktionierte, indem sie „den Mann als den Menschen oder das Allgemeine, und die Frau als das Besondere“ definierte, so Stegmann.33 Dies machte es möglich „dem weiblichen Geschlecht eine spezifische Naturhaftigkeit und damit Sonderstellung in der Kultur zuzuweisen“.34 Die biologistische und binäre Unterscheidung der Menschen in ihre vorhandene oder nicht vorhandene Gebärfähigkeit band „die Frau“ fest an ihren Körper und damit an ihr Geschlecht. Potentiell gebärfähig zu sein wurde in der bürgerlichen Ideologie zu einer Lebensaufgabe, die sämtliche Pflege-, Sorge-, Haushalts- und Reproduktionsarbeit umfasste und Frauen damit ins Private verbannte. Auf diese Weise verschwanden sie aus dem öffentlichen gesellschaftlichen Raum, also dem Ort, an dem sich die (vermeintlich) wichtigsten historischen Ereignisse abspielten. Laut Hausen wurde noch im 20. Jahrhundert fest daran geglaubt, „daß [sic!] in den Geschlechtskörper des männlichen Geschlechts der öffentliche Bereich mit der ihm zugesprochenen Geschichtsmächtigkeit und in den des weiblichen Geschlechts der familiale Bereich […] eingeschrieben sei.“35 So wurde die Öffentlichkeit – und damit auch die Geschichte – männlich und „der historischen Erforschung der Geschlechterordnungen und Geschlechterverhältnisse“ lange Zeit die „Wissenschaftlichkeit und Relevanz“ verwehrt.36
Aus geschlechterhistorischer Sicht muss die „allgemeine“ Geschichtsschreibung in diesem Kontext selbst als einseitig und unwissenschaftlich entlarvt und mit ihrer Tradition der Marginalisierung nicht-dominanter Perspektiven gebrochen werden. Karin Hausen hält fest, dass bei der Etablierung der universitären Geschichtswissenschaft „Frauen als Geschichtsschreiberinnen überhaupt nicht und als Gegenstand des historischen Interesses nur selten“ vorkamen.35 Stegmann beschreibt, wie unterschiedlich die Beforschung gesellschaftlicher Phänomene bewertet wurde: Frauen „bevölkerte[n]“ aus geschichtswissenschaftlicher Sicht häufig die „gesellschaftlichen Ränder und die sozialen Abgründe, die einer historischen Rezeption unwürdig erschienen.“33 Natali Stegmann verweist mit Karin Hausen auf die von Geschichtsschreibern angestrebte „Einheit der Geschichte“, welche komplexere oder widersprüchliche historische Darstellungen verhinderte.33 In ihrer Programmatik der Geschlechtergeschichte fordert Hausen dazu auf „der sogenannten allgemeinen Geschichte ihren bisherigen Platz streitig zu machen und deren jahrzehntelang eingeübte konsequente Fixierung auf männerdominierte Öffentlichkeit zu kritisieren und auszuhebeln.“37 Dieser Parole folgend, versuchen Geschlechterhistoriker*innen ebenso wie rassismuskritische und postkoloniale Historiker*innen38 eine diversere, widersprüchlichere und mehrdimensionale Geschichtsschreibung zu entwerfen.
Dennoch steht die aktuelle Geschichtswissenschaft an deutschen Universitäten nach wie vor im Erbe ihrer euro- und androzentrischen Einheitserzählung. Stegmann konstatiert (noch) 2002 auch für die Osteuropäische Geschichte eine „allgemeine, unter dem Fokus der männlichen Menschheitsgeschichte arbeitende, Frauen nur am Rande wahrnehmende Geschichtsauffassung“.39 Auch wenn dies zunächst als logische Folge des größeren, binären Geschichtsparadigmas erscheint, macht dieser Befund stutzig, denn der hierarchische Dualismus „Allgemein – Besonders“ betrifft das Fach selbst. Vielmehr befindet sich die Osteuropäische Geschichte in einer ähnlichen Abseitsposition wie die Geschlechterforschung. Auch die Osteuropäische Geschichte wurde im universitären Kontext als das Besondere zum Allgemeinen angelegt. Wäre es nicht naheliegend, sich dem Programm der Geschlechterhistoriker*innen anzuschließen und mit dem dualistischen Denken von Allgemeinem und Besonderem auch die „Aus- und Einschlußmechanismen in der Geschichte Osteuropas, im westlichen Denken und im Wissenschaftsbetrieb“40 zu durchbrechen?
Die Frau und Osteuropa
Nicht nur Natali Stegmann ist überzeugt, dass sowohl die Osteuropäische Geschichte als auch die nicht-männliche Position in der Geschichte institutionelle Marginalisierungen erfahren. Auch die Historikerinnen Claudia Kraft und Beate Fieseler unterstellen dem Fach Osteuropäische Geschichte aufgrund seines Sonderstatus das Potential, die Geschlechterperspektive mitzudenken.
Was haben die beiden Begriffe „Frau“ und „Osteuropa“ gemeinsam? Zunächst einmal sind sie Konstrukte, das heißt sie wurden erschaffen und mit Bedeutung versehen. Und daraus folgt die zweite große Gemeinsamkeit: Sie wurden als das Besondere, als das Andere entworfen. Denn die Autor*innenschaft dieser Begriffe liegt nicht bei den Bezeichneten selbst. Die binären Geschlechtskategorien setzen maßgeblich die männliche Perspektive als Ausgangspunkt, sodass der Mann, das Subjekt der Geschichte, also der Mensch an sich ist und als Gegenstück dazu die Frau das Objekt, der andere Mensch sein muss. Ebenso wird „Osteuropa“ im deutsch-akademischen Kontext aus dem Bewusstsein heraus betrachtet, als ein anderes Europa in Beziehung zum eigentlichen Europa zu stehen. Es fällt nicht schwer auch hier eine Art Subjekt-Objekt-Verhältnis aus west- und mitteleuropäischem Standpunkt zu unterstellen. Europa brauche das „Andere“, um „sich selbst als ‚Zivilisation‘ zu beschreiben“ – ebenso wie der Mann nur durch „das andere Geschlecht“ zur Norm, zum Allgemeinen werden kann, analysiert Claudia Kraft.22 In dieser Parallele sieht die Historikerin vor allem subversive Kapazitäten. Sowohl die osteuropäische als auch die Geschlechtergeschichte könne es schaffen „einer essentialistischen Sichtweise“ entgegenzuwirken, indem sowohl Europa/Osteuropa als auch Mann/Frau als relationale Kategorien entlarvt würden.41 Diesen Optimismus kann Stegmann 2002 noch nicht teilen, denn anders als die Geschlechtergeschichte reflektiere „die Osteuropäische Geschichte bislang kaum den ihrer Arbeit zugrundeliegenden Dualismus.“42 Folgt man dieser Diagnose, bleibt die Frage, warum sich die Osteuropäische Geschichte nicht mit der Geschlechtergeschichte verbündet hat, um ihre Position(en) im akademischen Feld zu stärken?
Stegmanns Kritik steht zum einen im Kontext der ungleichen personellen Besetzung von Forschung und inhaltlicher Lehre. Zum 100jährigen Jubiläum des Fachs Osteuropäische Geschichte weist die Historikerin Beate Fieseler in ihrer Rede auf die „auffällige Unterrepräsentanz von Frauen vor allem auf den höheren hierarchischen Ebenen“ hin, vielmehr würden sie „völlig überqualifiziert“ auf schlechtbezahlten Stellen sitzen.43 Zudem kritisiert sie die Konsequenzen, die die „fast totale Vermännlichung der akademischen Disziplin“ für die Lehre hatte: Erst ab Mitte der achtziger Jahre wurden auf weibliche Initiative hin einige geschlechterhistorische Kurse angeboten.44 Daran schließt Stegmann zehn Jahre später an: „Die Osteuropäische Frauen- und Geschlechtergeschichte ist eine Initiative des weiblichen Mittelbaus.“39 Der Nachholbedarf der Osteuropäischen Geschichte, konstatiert Stegmann, werde vor allem von““Doktortöchtern“ bearbeitet, die in ihrer Forschung „nur selten an einschlägige Vorarbeiten anknüpfen“ können und sich mit ihrer Themenwahl möglicherweise sogar Karrieren verbauen.45 Zwischen den Zeilen klingt hier das überwiegende Desinteresse der Doktorväter heraus, welches ursächlich im Privileg des Nichtbetroffenseins von strukturellem Sexismus zu finden sein könnte. Schließlich beschreibt auch Kraft den „universitären Alltag“ so, dass „diskursive Zuschreibungen in ganz realen Formen der Macht- und Ressourcenverteilung münden: Die Stellung der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der Osteuropäischen Geschichte an deutschen Universitäten ist trotz ihres jeweiligen heuristischen Potentials keineswegs komfortabel.“41 Die Zeugnisse dieser drei Historikerinnen zeigen ein Ungleichgewicht der Besetzungen, der Förderung und der Berufsbedingungen auf, welches faktisch und materiell eine intensive Zusammenarbeit mit der Geschlechtergeschichte und –forschung verhindert haben könnte.
Ein möglicher zweiter Grund findet sich in den inhaltlichen Herausforderungen dieser Allianz, denn ein einfaches Übertragen der Erkenntnisse westeuropäischer oder US-amerikanischer Frauen- und Geschlechterforschung auf die Osteuropäische Geschichte kann es laut Stegmann nicht geben: „Die grundlegenden und wichtigen Einsichten der westlichen Frauen- und Geschlechterforschung in die Funktionsweisen bürgerlicher Ausschlußmechanismen bleiben, auf Osteuropa übertragen, merkwürdig hohl.“46 Beispielhaft verweist sie auf die unterschiedliche Geschichte der Einführung des Stimmrechts für Frauen, welches in westeuropäischen Ländern separat zum allgemeinen Stimmrecht, in vielen osteuropäischen Ländern jedoch zeitgleich geschah.47 Allein dieser historische Prozess legt eine differenzierte Betrachtung nahe. Auch Kraft führt anschaulich vor Augen wie grundlegend die Kategorie ‚Geschlecht‘ für die Schaffung von Gesellschaftssystemen ist und wie „unterschiedliche Gleichheitsvorstellungen in Ost und West“ die Differenzen von Ost- und Westeuropa geprägt haben, so weisen zum Beispiel Diskurse über den Staatssozialismus als „Fürsorgediktatur“ eindeutige geschlechtliche Konnotationen auf.41 Hier fordern Kraft und Stegmann zum Weiterdenken auf. Anstatt „westliche Erfahrungsmuster und Denkschemata auf Osteuropa“ zu beziehen, brauche es eine eigene Osteuropäische Geschlechtergeschichte, die ihrer doppelten Marginalisierung entgegentritt.48 Stegmann betont, dass die geschlechtliche Perspektive ebenso notwendig wie bereichernd für die Geschichte im Allgemeinen und die Osteuropäische Geschichte im Besonderen sei, weil die „Orientierung am Geschlechterdualismus als grundlegend für die Ausgestaltung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und kultureller Deutungsmuster“ gilt.49 Sie ist also grundlegend, um mehrdimensionale Forschung zu betreiben, Quellen kritisch einzuordnen und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. Und umgekehrt: „Von der Geschichtswissenschaft lernte die Frauenbewegung – und nicht nur die – vor allem, daß Geschlechterzuschreibungen historisch und eben nicht naturgegeben sind“.50 Das gegenseitige Mitdenken würde demnach beide Fächer bereichern und gemeinsame Motive weiterentwickeln können. Beispielsweise hebt Kraft das Potential, das „einer kritischen Reflexion impliziter Raumvorstellungen inne wohnt“ aus der Osteuropäischen Geschichte hervor, welches, mit der Analysekategorie Geschlecht verknüpft, „ebenfalls geeignet ist, die ‚allgemeine Geschichte‘ zu dezentrieren, um deren unhinterfragte forschungsleitende Prämissen offenzulegen“.41 Indem Kritiken zur Deutungshoheit von Raum und Geschlecht zusammengedacht werden, könne „Ostmitteleuropa-Forschung ihren Beitrag zur doppelten Dezentrierung des europäischen Zentrums leisten“.41 Dabei verweist Kraft auch auf die Notwendigkeit einer intersektionalen Betrachtungsweise angesichts der „ethnisch, kulturell und konfessionell fragmentierte[n] Landschaft Mittel- und Osteuropas“ – als Gegenentwurf zu homogen gedachten Narrativen und Begriffen.41 Eine Osteuropäische Geschlechtergeschichte könnte als politisches Projekt künftig also mehrere Zentren der hegemonialen Geschichtsschreibung angreifen und dafür eine eigene machtkritische und intersektionale Perspektive entwickeln.
Lücken und Möglichkeiten
Der wunde Punkt, den Jarzynski mit ihrer Eingangsfrage getroffen hat, scheint also zusätzlich auch namenlos und weitgehend unerforscht zu sein, zumindest aus historiographischer Perspektive. Dies ist laut Petersen, Stegmann und Kraft kein Zufall, denn die Leerstelle der „osteuropäischen Frau“ in der allgemeinen und konkreten geschichtswissenschaftlichen Forschung ist die logische Konsequenz eines männlichen, westeuropäischen und institutionalisierten Blickes auf Geschichte. Seit Beate Fieseler dieses Problem in ihrer Rede 1992 erstmalig angesprochen hat, ist einiges im Fach Osteuropäische Geschichte geschehen. Doch es mangelt immer noch an Lehrstühlen, Vernetzungen, Forschungsprojekten und Seminaren zu geschlechtersensibler Osteuropaforschung und –geschichte. Dort, wo die Entstehung und Funktionsweise des Bildes „osteuropäische Frau“ ausgiebig erforscht und sichtbar gemacht werden könnte. Solange diese Lücke nicht geschlossen wird, bleibt das Bild wirkmächtig – als institutionalisierte Struktur, die antislawische und sexistische Stereotype vermischt und auf gesellschaftlicher Ebene bedient – und als konkrete Betroffenheit und Fremdzuschreibung im (akademischen) Alltag. Der Kreislauf schließt sich an der Stelle, an der alle Osteuropaforscher*innen, die weiblich und „osteuropäisch“ gelesen werden, im deutschsprachigen Raum diese namenlose Diskriminierung erfahren müssen. Nicht nur in privaten Gesprächen oder unwissenschaftlichen Fragen nach Vorträgen oder auf Tagungen, sondern auch in ihrer Forschung. Wie sollen diese Wissenschaftler*innen über den westlichen Blick auf „osteuropäische Frauen“ schreiben, wenn sie keine Worte für ihre eigenen Erfahrungen haben? Wie sollen sie über etwas Unbenanntes sprechen?
Die Osteuropäische Geschichte sollte nicht länger die Augen vor den Mechanismen verschließen, die sie kleinhalten. Denn die Dominanz der Norm (sei es der westliche oder der männliche Blick), die die Marginalisierung aller „anderen“ Positionen zur Folge hat, muss benannt werden. Wenn wir eine Sprache finden, um zu benennen, welche Diskriminierung weiblich gelesene Menschen mit polnischen, bosnischen, tschechischen, russischen usf. Namen erfahren, dann finden wir vielleicht auch Begriffe für den Rassismus gegen „osteuropäische“ Menschen, die nicht-slawisch sind. Dann wird es möglich, geschichtsträchtige Phänomene und Narrative in all ihrer Komplexität zu analysieren und besser zu verstehen. Und damit würde die Osteuropäische Geschichte, zumindest Stegmann und Kraft zufolge, ihrer Aufgabe und ihrem Potential gerecht.
Von besonderem Nutzen kann dabei ebenfalls das Aufeinandertreffen von „Ost“ und „West“ in der deutschen Geschichte sein. Denn die biographische und gesellschaftliche sozialistische Prägung ehemaliger DDR-Bürger*innen hatte nach dem Fall der Mauer eine weitreichende Stigmatisierung des „Ostens“ und der „Ossis“ zur Folge. Gerade dieser Post-Wende-Diskurs, der sich ebenfalls in Machstrukturen und somit Forschungsinteressen niederschlägt, bietet gute Anschlussmöglichkeiten, um die innerdeutschen Perspektive(n) zu vervielfältigen und sich hegemonialen „westlichen“ Erzählungen zu verweigern.
Die interdisziplinäre Allianz, die die Osteuropäische Geschichte (teilweise schon jetzt) mit der Geschlechtergeschichte und aktuellen feministischen Analysen eingeht, verspricht sehr bereichernd zu werden. Sie könnte bei einer Genealogie der „osteuropäischen Frau“ beginnen und schließlich zu einem Begriff werden, der – ähnlich wie misogynoir51 – ebenjene geschlechtsspezifische und rassistische/antislawische Diskriminierung bezeichnet und sie im akademischen und gesellschaftlichen Kontext sichtbarer macht.
Jarzynskis Empfehlung folgend, soll das Attribut „osteuropäisch“ auch in der vorliegenden Arbeit in Anführungszeichen gesetzt werden. Damit soll die Unwissenschaftlichkeit und Konstruiertheit dieses Begriffs markiert werden. Gerade die Gruppierung „osteuropäische Frauen“ unterliegt einer künstlichen Homogenisierung, welche regionale, nationale, historische oder klassenspezifische Differenzen verschleiert.[↩]
Jarzynski, Lisa: Antislawismus und Sexismus. Die Figur der „osteuropäischen Frau“. Bochum 2023.[↩][↩]
Rybicki, Britta (2018): Ich bin nicht deine Traumfrau aus dem Ostblock! In: Supernova, 10.12.2018[↩]
Spindler, Susanne: Feminisierung von Migration – Formen und Folgen weiblicher Wanderungsprozesse. In: Hentges, G., Platzer, HW. (Hg.) Europa – quo vadis? Wiesbaden 2011, S. 171-186.[↩]
Friese, Marianne: „Die osteuropäische Akademikerin, die im westeuropäischen Haushalt dient“. Neue soziale Ungleichheiten und Arbeitsteilungen zwischen Frauen. In: Modelmog I., Gräßel U. (Hg.) Konkurrenz & Kooperation. Frauen im Zwiespalt? Münster 1995, S. 171–191.[↩]
Regulska, Joanna: Der Gleichstellungsdiskurs der Europäischen Union und seine Folgen für Frauen in Polen. In: Dittmer, S., Jörs, I., Ruge, U. (Hg.) EU-Beitritt: Verheißung oder Bedrohung? Wiesbaden 2003. S. 121-151.[↩]
Kandioler, Nicole; Kaiser, Christian: Widerständige Nostalgie: Osteuropäische Film- und Fernsehkulturen, 1965-2013. In: MEDIENwissenschaft: Rezensionen, Reviews, Jg. 39 (2022), Nr. 4, S. 396-371.[↩]
Farrokhzad, Schahrzad: Exotin, Unterdrückte und Fundamentalistin: Konstruktion der „fremden Frau“ in deutschen Medien, In: Butterwegge C., Hentges G. (Hg.) Massenmedien, Migration und Integration. Wiesbaden 2006, S. 55-86.[↩]
Um alle geschlechtlichen Identitäten einzuschließen, wird in dieser Arbeit durchgehend auf das generische Maskulinum verzichtet und stattdessen die inklusive und geschlechtergerechte Asterisk (*) Schreibweise genutzt, auch wenn die Autor*innenschaft von Beiträgen über die Diskriminierung „osteuropäischer“ Frauen zu einem auffällig hohen Anteil bei weiblich gelesenen Namen liegt. Anmerkung der Autorin.[↩]
Jancar, Barbara: Zur Rolle der Frau in der kommunistischen Gesellschaft: Ergebnisse einiger persönlicher Beobachtungen, Osteuropa, Vol. 26, No. 7 (1976), S. 528-548.[↩]
Goehrke, Carsten; Haumann, Heiko: Osteuropäische Geschichte: Konstruktionen – Geschichtsbilder -Aufgaben. Ein Beitrag aus Schweizer Sicht, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Bd. 52, H. 4, Themenschwerpunkt: Stalinismus und Religion (2004), S. 585-596.[↩]
Petrenko Olena: Unter Männern. Frauen im ukrainischen nationalistischen Untergrund 1929-1954, Paderborn 2018.[↩]
Kraatz, Susanne; von Steinsdorf, Silvia; de Nève, Dorothée: Osteuropaforschung ohne Frauen? Osteuropa, Vol 53, No. 5 (2003), S. 635-646.[↩]
Fieseler, Beate: 100 Jahre „Osteuropäische Geschichte“. Versuch einer ersten Bestandsaufnahme aus Frauensicht. In: Eine neue Sicht auf Europa. Feministische Perspektiven in der Osteuropakunde. Wiesbaden 1992.[↩]
Stegmann, Natali: Die osteuropäische Frau im Korsett westlicher Denkmuster. Zum Verhältnis von Osteuropäischer Geschichte und Geschlechtergeschichte. In: Osteuropa Vol. 52 (Nr. 7) 2002, S. 932-944.[↩]
Kraft, Claudia: Die Geschlechtergeschichte Osteuropas als doppelte Herausforderung für die „allgemeine“ Geschichte. Themenportal Europäische Geschichte 2006.[↩][↩]
Beschreibungstext: „Sie suchen seit Jahren vergeblich nach einer passenden Partnerin und haben den Traum von der großen Liebe noch nicht aufgegeben: Drei deutsche Männer im besten Alter versuchen ihr Glück in Russland, Rumänien und der Ukraine.“ https://www.tvnow.de/shows/traumfrau-gesucht-1737[↩]
Stegmann, Natali: Die osteuropäische Frau im Korsett westlicher Denkmuster. Zum Verhältnis von Osteuropäischer Geschichte und Geschlechtergeschichte. In: Osteuropa Vol. 52 (Nr. 7) 2002, S. 932.[↩]
Hausen, Karin: Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte. In: Hans Medick und Anne-Charlott Trepp (Hg.): Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen 1998, S. 21.[↩]
Herzlich willkommen zu unserer zweiteiligen Podcast-Reihe! Im Rahmen der Summerschool „Geschichtsvermittlung in und über Osteuropa – Polen und Russland im Vergleich“ haben wir es uns als Ziel gesetzt, im Rahmen eines Podcast, einen persönlichen Vergleich der Erinnerungskultur innerhalb unserer Familien zu ziehen. Wir, das sind Klaudia Krawczynski und Lara Backhaus, eine Studentin der Sozialen Arbeit, die andere der Geschichtswissenschaft. Angeregt durch unseren familiären Hintergrund, der eine polnisch, der andere deutsch, haben wir uns innerhalb eines offenen Dialogs mit der eigenen, persönlichen Geschichte auseinandergesetzt und dabei exemplarisch an unseren Familien deutsche und polnische Erinnerungskultur in Vergleich zueinander gestellt.
Die Moderatorinnen
Ich bin Klaudia Krawczynski, 21 Jahre alt und Studentin der Sozialen Arbeit an der Universität Duisburg-Essen. Im Rahmen des „Studium liberale“, eines überfachlichen Angebots, habe ich an der Summer School teilgenommen und viele für mich neue Eindrücke sammeln können. Diese habe ich zusammen mit Lara Backhaus im Rahmen einer kleinen Podcast-Reihe festgehalten. In dieser Reihe arbeiten wir zudem gemeinsam die Erinnerungskulturen unserer Familien auf und gewähren damit einen persönlicheren Einblick in die Historie unserer eigenen Verwandtschaft.
Ich bin Lara Backhaus, 23 Jahre alt und Studentin der Geschichte und der Germanistik an der Ruhr-Universität Bochum. Durch die Summerschool des Lehrstuhls Osteuropäische Geschichte der RUB „Geschichtsvermittlung in und über Osteuropa – Polen und Russland im Vergleich“ habe ich mich näher mit dem Themenschwerpunkt befasst. Das Ergebnis: Eine Mini-Podcast-Reihe mit Klaudia Krwaczynski, bei der wir gemeinsam die Erinnerungskulturen unserer Familien im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg untersuchen.
Herzlich willkommen zum Podcast zur Summerschool 2020 an der Ruhr-Universität Bochum aus dem Seminar „Geschichtsvermittlung in und über Osteuropa (Polen und Russland im Vergleich), aus dem uns Gäste und Teilnehmende Einblicke in ihre Expertise und Erfahrungen geben werden.
In dieser Folge sind Isabelle Sarther, Susanne Teschner und Aljoscha Sengstmann zu Gast, Kommiliton:innen aus der Summer School, die uns von ihren Erfahrungen berichten. Was war ihre Motivation, sich an der Summerschool zu beteiligen? Welche Themen waren für sie persönlich besonders bereichernd und inspirierend? Welche Erkenntnisse und Erfahrungen nehmen sie mit und welche Impulse für eine weitere Auseinandersetzung mit der osteuropäischen Geschichte wurden ihnen gegeben? Diese und weitere Fragen werden sie uns in diesem Gespräch beantworten.
Vielen lieben herzlichen Dank für ein sehr nettes und sehr spannendes Gespräch!
Susanne Teschner
Studentin der Kunstgeschichte, Komparatistik, Geschichte und Philosophie
Aljoscha Sengstmann
Student der Geschichte und Kunstgeschichte
Isabelle Sarther
Studiert im Master Sozialwissenschaft mit dem Schwerpunkt Soziologie und Sozial- und Kulturpsychologie