Das Kronland „Galizien und Lodomerien“ als österreichische Kolonie und postkoloniale Ansätze zur Erklärung der ukrainischen Identität im Habsburgerreich

Österreich ist in der heutigen Wahrnehmung keine klassische Kolonialmacht wie Frankreich, das vereinte Königreich oder das deutsche Kaiserreich. Jedoch gibt es neuerdings Meinungsverschiedenheiten in der Geschichtswissenschaft darüber, ob Österreich wirklich keine Kolonialmacht sei. Der Historiker Sauer hebt auf den S. 7f. und 17f. hervor, dass die Donaumonarchie zwar kolonisatorische Ambitionen und Ziele hatte, allerdings keine Überseegebiete langfristig etablierte und daher keine Kolonialmacht sei. Auf diese Meinung antwortet Ruthner, welcher stattdessen auf S. 37 hervorhebt, dass die Donaumonarchie heutzutage als imperialistische „(Pseudo-)Kolonialmacht“ aufgrund dessen imperialistischer Bemächtigung anderer Volksgruppen bewertet werde. Darunter fielen dann auch die Ukrainer im sogenannten Kronland „Galizien und Lodomerien“. Sollte es sich um eine Kolonie handeln, dann müsste die Identitätsbildung der ukrainischen Bevölkerung im Kronland von der Kolonialmacht beeinflusst worden sein, was im Rahmen eines Kolonialdiskurs geschehe, und mithilfe postkolonialer Theorien erforscht werden kann. Es wäre dann wichtig die Identitätsbildung der Ukrainer zu betrachten, da diese Bildung die heutige Identität der Ukrainer zumindest mitbestimmte. Diese wurde nun erneut mit der Invasion durch Russland im Jahr 2022 herausgefordert. In diesem Essay soll gezeigt werden, wieso Galizien eine Kolonie Österreichs war anhand der Untersuchungen diverser heutiger Historiker und anhand postkolonialer Theorien werden die Argumente der ukrainophilen ukrainischen Historiker für eine eigene ukrainische Identität gegen Ende der Habsburgerherrschaft erklärt. Dazu sollen zuerst die kolonialen Ambitionen und Strategien Österreichs in Galizien anhand von Sekundärliteratur aufgezeigt werden, während dann im Anschluss die Konzepte des Othering und der Travelling Theory für die Erklärung der ukrainischen Identität bei den ukrainophilen Historikern verwendet werden.

Zuerst müssen die kolonisatorischen Ambitionen Österreichs in Galizien festgehalten werden. Die Gebiete des Kronlandes waren, wie Mark auf S. 1 hervorhebt, für circa 400 Jahre unter polnischer Kontrolle, bis 1772 diese dann von Österreich erobert wurden. Dieses Gebiet wurde, wie Maner auf S. 28ff. anhand Aussagen Maria Theresias und Metternichs zeigt, zur Stärkung der eigenen Position gegenüber Russland und Preußen erobert. Danach entwickeln sich jedoch Siedlungsintentionen bei den Eroberern. Rosdolsky hebt auf die S. 25f. hervor, dass Joseph II. und Maria Theresia das Ansiedeln als wirtschaftlichen Motor sahen. Daher sieht Maner auf den S. 49f. im Ansiedlungspatent Maria Theresias und am Toleranzpatent Josephs II den Versuch in diesem Gebiet Bevölkerungsgruppen von anderen Erbländern anzusiedeln. Deshalb muss hier nach Osterhammels Definition auf S. 11 zumindest von einer Grenzkolonisation, welche die Ansiedlung im Grenzland aus wirtschaftlichen Gründen beinhaltet, und damit auch von einer Kolonie gesprochen werden. Wolff zeigt auf den S. 80 und 97, dass Metternich 1815 nun eine neue Strategie plante, nämlich die Schaffung einer „galizischen“ Kultur aus der polnischen, und diese solle schließlich in eine deutsche münden, um aus dem „unzivilisierten Orient“, welches seines Erachtens bereits mit den Landstraßen östlich Wiens beginne, einen „zivilisierten“ zu schaffen. Hier kann also klar von einer Zivilisierungsmission in der österreichischen Betrachtung auf das Kronland gesprochen werden. Und für Pergen und Kaunitz, so Rosdolsky auf den Seiten 51f., gleiche das Leben der Bauern im neuen Kronland „eher dem Vieh“, sodass diese von der „Ausbeutung und Bedrängnis“ durch den polnischen Adel beschützen werden müssen. Damit haben sich die wirtschaftlichen Interessen auch mit einer Zivilisierungs- und Schutzmission kombiniert. In den folgenden Jahren änderte sich jedoch die österreichische Strategie in Galizien. Stattdessen war nun die Strategie Wiens, die ukrainische Bevölkerung und die polnische Bevölkerung gegeneinander auszuspielen, wie Kappeler auf S. 122 bemerkt. Die ukrainischen Bauern und Eliten waren der österreichischen Regierung nämlich äußerst loyal, wie Wendland auf den Seiten 31ff. zeigt. Nach der Änderung der Strategie kann also nicht mehr von Grenzkolonisation geredet werden, da die Ansiedlung ausfällt. Stattdessen zeigen die Bemühungen der Habsburger, die Steuerkraft der Bauern für die zukünftige Besteuerung zu erhöhen, die Rosdolsky auf den Seiten 20f. aufzeigt, dass hier stattdessen von einer Beherrschungskolonie nach Osterhammel auf S. 18 gesprochen werden sollte, welche statt auf Siedlungen nun auf Besteuerung setzt. Es kann also anhand Osterhammels Definitionen immer noch klar von einer Kolonie gesprochen werden.

Um die Ukrainer gegen die Polen auszuspielen, müssen erstere zunächst definiert werden, was im Rahmen eines Diskurses geschieht, welcher unter anderem von Historikern, Politikern und Zeitungen geführt werden kann. Wichtig für den Diskurs stellt das sogenannte Othering dar. Dieses, so Saids „The Text, The World, The Critic“ auf den Seiten 12f., hebt die Unterschiede der anderen zu der eigenen Kultur hervor, wodurch die Herrschaft legitimiert werden soll. Jedoch sind die Darstellungen zu den Ukrainern bei den Österreichern höchst unterschiedlich. Das fängt bereits bei der Namensgebung an. Die Ukrainer erhielten diverse Namen, wie beispielsweise „Malorussen“ bei von Gretzmillern, „Rußniaken“ in einem Artikel der Vaterländischen Blätter oder auch „Ruthenen“ innerhalb der österreichischen Verwaltung, wie Mark auf S. 78 hervorhebt. Auffallend ist hier, dass für Franz von Gretzmillern deren Sprache einem polnischen Dialekt ähnele und für die Vaterländischen Blätter deren Sprache dagegen einem russischen Dialekt ähnele. Denn es bestand der Vorwurf, welcher ursprünglich aus polnischer Seite gekommen sei, dass die ukrainische Sprache lediglich ein polnischer, beziehungsweise ein russischer Dialekt sei und dass die Ruthenen vom österreichischen Statthalter Galiziens Graf Stadion erfunden worden seien, wie der zeitgenössische ukrainische Domherr Malynovs’kyj 1861 auf den S. 544f. darstellt. Dieser Vorwurf lässt sich auch in deutschsprachigen Magazinen und Memoiren finden. So behauptet der ins Exil verbannte österreichische Revolutionär Violand auf S. 246, dass diese erfunden worden seien, um Galizien zu spalten und das Magazin für Pädagogik behauptet auf den S. 53f. „Stadion hat die Ruthenen erfunden“, weil diese keine eigene Sprache hätten und damit kein eigenes Volk sein könnten. Die ukrainische Sprache wurde lange ignoriert, sodass diese, wie Wöller auf S. 65 hervorhebt, erst 1868 Subventionen für „ruthenische“ Lehrbücher an Schulen eingeführt wurden und dennoch spielte Deutsch die wichtigere Rolle in der höheren Bildung, da viele Unterrichtstexte nur auf Deutsch waren, wie Woldan auf S. 146 anmerkt. Dadurch lernten viele Ukrainer Deutsch und setzten sich dementsprechend mit deutschen Quellen auseinander. Hier zeigt sich, dass im deutschsprachigen Raume so wenige Kenntnisse über die Ukrainer existierten, dass manche davon ausgingen, dass diese erfunden seien. Hruschewskyj hebt auch die geringen Kenntnisse 1916 in seiner Einleitung mit seiner Feststellung hervor, dass es nur drei westeuropäische Gesamtdarstellungen der ukrainischen Geschichte gäbe. Jedoch ist der Diskurs auch nicht einheitlich, da beispielsweise der von 1840-46 amtierende Gubernialrath Moritz von Sala auf den Seiten 102 und der zeitgenössische Historiker Anton Springer auf S. 581 den Vorwurf einer Erfindung der Ruthenen ablehnen. Der Kolonialdiskurs bei Saids Orientalism auf S. 70 benötigt eine kontinuierliche Selbstbestätigung seiner Inhalte, um jemand anderes zu definieren und als unveränderlich darzustellen, doch dieser war, wie hier gezeigt wurde, nicht vorhanden aufgrund der wenigen und auch widersprüchlichen Darstellungen im deutschsprachigen Raum. Dadurch konnten ukrainophile ukrainische Historiker den deutschsprachigen Diskurs selbst mitbestimmen, da der seitens den Österreichern geführte Diskurs sich nicht selbstbestätigte.

Dies wurde, wie Wöller auf den S. 153ff. zurecht darstellt, mit einem Vergleich zwischen der eigenen Kultur und der polnischen und russischen getan, um sich von diesen zu distanzieren, also Othering aber diesmal durch ukrainische Historiker. Dieses findet dabei auf verschiedenen Ebenen statt. Betrachten wir zuerst die Sprache, dann fällt Kušnir auf. Kušnir behauptet in „Die Ukraine und ihre Bedeutung im gegenwärtigen Kriege mit Russland“ auf S. 7, dass in der ukrainischen Sprache „über 2000 Kilometer, so gut wie gar keine Dialektunterschiede bestehen“ und diese klar etwas Eigenes darstelle. Daher könne Sprache nicht als Argument gegen eine ukrainische Nationalität verwendet werden, da diese einheitlich und klar abgrenzbar sei. Dadurch wird die Sprache ein Argument für die ukrainische Nationalität, wie Woldan auf S. 143 anmerkt. Wöller bemerkt auf den Seiten 347ff., dass ukrainophile Historiker ab dem ersten Weltkrieg Argumente basierend auf „Rasse“ verwendeten, welche zuvor von polnischen Wissenschaftlern gegen Russen und Ukrainern verwendet wurden. So erweiterte Rudnyćkyj 1916 die sprachlichen Argumente, indem er Verbindungen zwischen der Sprache und Rasse zieht. Auf den Seiten 187ff. erklärt dieser, dass aus anthropologischer Sicht die Ukrainer mit anderen Südslawen enger verwandt seien und deshalb Ukrainer es äußerst schwer fiele Russisch zu lernen. Zuvor verwendet er 1916 auf den Seiten 178-184 ukrainische sowie russische durchschnittliche Größen, Augen- und Haarfarben und andere körperliche Charakteristika, um zu argumentieren, dass zum einen die Ukrainer nicht nur einen eigenen Typus bilden würde, der kaum „Beimischungen“ enthielte, sondern auch zum anderen, dass Russen einer „orientalischen finnisch-mongolischen“ Rasse zugehören würden. Damit werden auf Basis der Sprache und „Rasse“ eine ukrainische Eigenheit und Einheitlichkeit geschaffen, die die Differenzen zwischen Ukrainer untereinander minimiert und diese von Russland abgrenzt. Die Trennung der Ukraine und Russland wird hier auch eine zwischen Europa und Asien, wie Wöller zurecht auch auf den S. 347f. hervorhebt. Asien selbst wird dabei als ein Feind wahrgenommen. So beschreiben der „Ukrainischer Klub des Reichsrates“ die Ruthenen als eine „Schutzwehr“ gegen die Tartaren und Türken (S. 3f.), Barwinskyj diese als ein „Schutzwall Europas“ (S. 49) und Hruschewskyj diese als ein „Bollwerk“ (S. 31). Dieses Bild findet sich bereits bei Johann Christians Engels Geschichtswerk zur Ukraine im Jahr 1792, zum welchen Wöller auf den S. 130 und 290f. hervorhebt, dass das zur Legitimierung der Habsburger Herrschaft in Galizien geschriebene Werk von ukrainischen Historikern übernommen wurde. Engel beschreibt in diesem Werk auf S. 2 und 19f. die Ukraine als „Scheidewand“ zwischen Europa und Asien, woher er auch den Ursprung des Namens „U Krajne“ (Grenzland) zog und die Kosaken als Schutzengel der Polen gegen Russen und Tartaren charakterisiert. Das Werk Engels 1796 wird von Kušnir auf S. 3 seines Buches zur Bedeutung der Ukraine im Krieg gegen Russland besonders hervorgehoben und es ist eines der drei von Hruschewskyj in seiner Einleitung genannten westeuropäischen Werke zur ukrainischen Gesamtgeschichte.

Bei den vereinheitlichenden Darstellungen der Ukrainer durch die ukrainophilen Autoren kann von einer Fixierung ersterer gesprochen werden. Im Kolonialdiskurs stellt die Fixierung des anderen diesen als unveränderlich dar. Somit wird den anderen ein natürliches Wesen zugesprochen, wobei dies auch vom kolonisierten Volk selbst ausgehen kann, wie Bhabha auf den S. 74ff. hervorhebt. So werden Stereotypen zum eigenen Volk geschaffen, die dann auch zur Abgrenzung der eigenen Gruppe zu den anderen bildet. Hier wird das natürliche Wesen der Ukrainer durch die Historiker anhand einer eigenen einheitlichen Sprache und „Rasse“ definiert und Rudnyćkyj fügt dem 1916 eine natürliche europäische Kultur auf den Seiten 195, 203-206 hinzu, denn diese im Bewusstsein des „analphabeten“ Bauern seit ein Jahrtausend lebenden Traditionen, entsprächen nun den demokratischen und freiheitlichen Werten der „zivilisierten Welt“. Damit wird die Ukraine durch diese ukrainischen Historiker als permanenter und natürlicher Teil Europas anhand der Sprache, der „Rasse“ und Kultur bewertet. Mithilfe der Travelling Theory bei Said können wir uns erklären, von wo diese Argumente kommen. Die Travelling Theory bei Saids „The Text, The World, The Critic“ auf den S.226f. sieht für jede Theorie einen Ursprung, eine zeitliche und räumliche Distanz, Widerstände und schließlich die Annahme der Theorie beim Kolonisierten, wobei die Theorie selbst sich signifikant verändern kann. Der Ursprung der Theorie, dass Sprache eine Voraussetzung für ein eigenes Volk sei, findet sich, wie auf S. 3 im Essay dargestellt, bei den Gegnern einer ukrainischen Eigenständigkeit. Der Widerstand findet hier bei der Gleichsetzung der ukrainischen Sprache mit einer anderen statt, wobei die Konzeption, dass Sprachen ein Volk definieren können, angenommen wurde. Die Rolle der Ukraine als „Schutzwall“ Europas wurde, wie Wöller auf den S. 290f. zeigt, von Engel übernommen, wobei diese mit Rassetheorien erweitert wurde. Dieser deutschsprachige Text konnte durch die Präsenz der deutschen Sprache in der höheren Bildung in Galizien gelesen werden und überquerte somit eine zeitliche Distanz von über einhundert Jahren. Interessanterweise wird auch die Zivilisierungs- und Schutzmission des Kolonisators Österreichs übernommen, da Rudnyckyj 1915 auf S. 31 die Ukraine bei einer „low stage of culture“ sieht und auf den Seiten 21ff. in Kušnirs Werk über Galizien, unterstützt dieser sogar einen Verbleib der Ukraine in Österreich, da er den Schutz durch die Habsburger vor anderen Staaten als notwendig erachtet. Damit wurden die Argumente der Kolonisatoren aus den Zeiten des Versuchs der Etablierung einer Siedlungskolonie von den kolonisierten selbst Jahrhunderte später zur Legitimierung einer anhaltenden österreichischen Präsenz noch verwendet.

Es wurde anhand von Sekundärliteratur gezeigt, wieso Galizien als eine österreichische Kolonie betrachtet werden sollte, wobei diese als Grenzkolonisation anfing und durch eine Beherrschungskolonie ersetzt wurde. Auch wurde anhand zeitgenössischer Quellen gezeigt, dass der Kolonialdiskurs der Österreicher widersprüchlich verlief und diese kaum Kenntnisse zu den Ukrainern hatten. Dadurch entstand eine selbstbewusste ukrainische Geschichtswissenschaft, die die ukrainische Identität basierend auf den sprachlichen Theorien der Gegner einer ukrainischen Eigenständigkeit, den polnischen Argumentationen von Rasse und einem österreichischen Geschichtswerk zur Legitimierung der österreichischen Herrschaft in Galizien, im deutschsprachigen Kolonialdiskurs selbst definierte, wobei weiterhin die österreichischen Schutz- und Zivilisierungsmissionen beibehalten werden. Dabei wurden Theorien verwendet, die entweder die Ukrainer aus Europa ausgrenzen sollten oder diesen ihre Eigenständigkeit absprechen sollten. Diese Theorien wurden nun entgegen ihrem ursprünglichen Sinn verwendet. Mithilfe der Travelling Theory Saids wurde erklärt, wie die Theorien für ihren neuen Zweck angepasst worden sind. Die Frage, wer die Ukrainer sind und wie diese definiert werden können, spielt bis heute eine große Bedeutung, da diese Frage mit der jüngsten Invasion der Ukraine durch Russland auch heute noch mit geopolitischen Folgen gestellt wird. Daher sollte bereits früh die Bildung einer selbstbewussten ukrainischen Identität betrachtet werden.

Literaturverzeichnis

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