Postkoloniale Theorien als Werkzeug zur Beschreibung der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen

„Der Überlebende fühlt zum erstenmal einen nationalen Boden unter seinen Füßen. Von diesem Moment an weicht die Nation nicht mehr von ihm: man findet sie dort, wohin er geht, wo er ist, niemals weiter weg – sie wird eins mit seiner Freiheit.“ 1

Bohdan-Chmelnyzkyj-Denkmal in Kiew, @gerhardreus

Bereits Sartre beschrieb es mit seinen Worten treffend und zurzeit passender denn je, dass ein nationaler Boden dem Menschen auch das Gefühl von Zugehörigkeit gibt – ein Nationalgefühl. Im Hinblick auf die Geschichte der Ukraine kann dieses Zitat gut verwendet werden, um die erste Frage des Essays zu formulieren: welchen Einfluss hatte die Fremdherrschaft durch Polen und Russland auf das Nationalgefühl der Ukraine?

Die Auseinandersetzung mit den Perspektiven auf die Geschichte der Ukraine ist ausschlaggebend in der heutigen Zeit. Es sind verschiedene Erzählweisen dieser Geschichte vorhanden und als der gegenwärtige Krieg am 24.02.22 begann, wurde die kritische Betrachtung dieser Erzählungen außerdem zur Aufgabe von HistorikerInnen. Hieraus ergibt sich auch die Frage, ob die postkoloniale Sichtweise auf die Geschichte der Ukraine anwendbar ist. Postkoloniale Theorien tragen dazu bei, dass koloniale Machtstrukturen analysiert und dekonstruiert werden können. Auf der Grundlage der Forschungsergebnisse von Kappeler und Sproede/Lecke soll die Essayfrage beantwortet werden. Der Fokus des Essays liegt auf der Betrachtung der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen durch die Linse postkolonialer Theorien. Hierbei werden die Kriterien von postkolonialen Theorien angepasst und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet.

Postkoloniale Theorien legen den Fokus darauf, wie globale Machthierarchien, von (post)kolonialen Einflüssen und Strukturen geprägt sind. Dabei beschreibt der Begriff „postkolonial“ die Kolonialisierung als einen fortwährenden Prozess. Die kritische Auseinandersetzung mit den Folgen des Kolonialismus bis in die Gegenwart gehört zu der Hauptaufgabe der postkolonialen Studien. Es werden insbesondere die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse betrachtet. Die postkolonialen Theorien dienen in der vorliegenden Arbeit, der kritischen Betrachtung und Analyse der Geschichte der postkolonialen Ukraine. Gleichzeitig bietet es auch den notwendigen Diskurs. Das der Begriff Postkolonial häufig mit den vergangenen Kolonien des globalen Südens assoziiert wird, zeigt deutlich, dass hier noch eine offene Frage bezüglich des Osteuropäischem Raums besteht. Wo befindet sich Osteuropa auf der postkolonialen Weltkarte?

Im Laufe ihrer Geschichte wurde die Ukraine vom polnisch-litauischen Staat, sowie dem russischen Reich politisch unterworfen. Die verschwommenen Grenzen der Nachbarländer ermöglichten den Großmächten Polen und Russland durch koloniale Herrschaft ihre Autorität zu festigen. Bei der Heranziehung des Kolonialismus-Modells nach dem Literaturwissenschaftler Edward W. Said, wird der europäische Kolonialismus jedoch vom russischen Imperialismus unterschieden. Dabei ist der europäische Kolonialismus gekennzeichnet durch die Aneignung ferner Kontinente. Unter diesem Aspekt wurde der russische Imperialismus als Untersuchungsgegenstand der postkolonialen Studien ausgeschlossen.

Die Wirkung des Königreichs Polen auf das historische Erbe der Ukraine wird von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis ins 17. Jahrhundert datiert. Hierbei sind zwei zentrale Elemente der Herrschaft aufzuzeigen. Zum einen war es die Zuwendung zu Mittel- und Westeuropa und somit der Unabhängigkeit von Russland, zum anderen jedoch die politische Abhängigkeit vom Königreich Polen. Die soziale Unterdrückung durch die Polonisierung, insbesondere im Kresy (Grenzland zwischen Polen und der Ukraine) als auch die religiöse Diskriminierung stellen das Machtgefälle dar. In den Augen der polnischen Gesellschaft galten die Ukrainer als Wild, bedingt durch die Mehrheit der ukrainischen Bauern. Der polnische Kulturtransfer war somit nur auf eine kleine Gruppe, die ukrainische Elite reduziert. Solche Ausgrenzungen und Hierarchien befeuerten die ukrainisch-polnischen Auseinandersetzungen, welchen die ukrainische Nationalbewegung entsprang. Zwar hat sich die Beziehungen in den letzten zwei Jahrhunderten zu einem gutnachbarschaftlichen Verhältnis gewandt, aber das kollektive Gedächtnis an die Zeit unter der Herrschaft des Königreichs Polen bleibt insbesondere in der Bevölkerung der Westukraine und der Polen bestehen. Aus der postkolonialen Perspektive lässt sich jedoch nicht eindeutig erschließen, wie Polens Rolle in den postkolonialen Theorien einordnen lässt.

Die Fremdherrschaft durch das russische Reich löste im 17. Jahrhundert allmählich den polnischen Einfluss auf die Ukraine ab. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befand sich ein Großteil der UkrainerInnen unter der Herrschaft Russlands. Von Modernisierungsversuchen bis hin zu Russifizierung auf sprachlicher und kultureller Ebene versteckte sich der gelungene Versuch einer Kolonisierung der Ukraine.

Zum Diskurs der postkolonialen Theorie gehört der Gedanke der Zivilisierungsmission. Wie im Falle Polens gehen Sproede/Lemke davon aus, dass auch Russland die Ukraine als eine Art „kleinen Bruder „und „unzivilisierten Bauern“ sah, welchem geholfen werden muss. Die in beiden Fällen stattfindende Betonung der Andersartigkeit des kolonisierten ist charakteristisch für den Kolonialismus. Ebenfalls wurde die Integration der bäuerlichen Gesellschaft der Ukraine in beiden Fällen verhindert. Währenddessen erhielt der geringe Anteil der ukrainischen Elite, welche sich als loyal erwiesen hat, die Belohnung, Einfluss ausüben zu dürfen. Dieser Einfluss war jedoch begrenzt, da die Machtverteilung weiterhin eindeutig sein musste.

Versuche seitens der Ukraine eine Nation zu erbauen, wurden durch das russische Reich und Königreich Polen verhindert. Trotz bewaffnetem Widerstand der Unterworfenen, welcher die wechselhaften und komplexen Beziehungen verdeutlicht, gelang es den UkrainerInnen nicht dauerhaft die Unterdrückung zu beenden. Die Auswirkungen der Kolonialisierung der Ukraine hatten nicht nur politische und wirtschaftliche Folgen, sondern auch kulturelle, da die eigenständige kulturelle Entwicklung unterbunden wurde. Die Unterdrücker legten dem Unterdrückten ein Selbstbild auf und ermöglichten somit die Verschmelzung des kollektiven Gedächtnisses. Daher ist es zweifellos, dass viele Generationen durch das Bewusstsein und Denken der imperialen Politik beeinflusst wurden.

Ein wichtiger Aspekt in der postkolonialen Analyse ist das historische Gedächtnis. Es stellt ein soziokulturelles Phänomen dar, bei dem die Menschen eines Landes kollektiv über die Vergangenheit ihres Landes nachdenken, wichtige Daten und historische Ereignisse ins Gedächtnis rufen und nationale Symbole ehren. Dieses wurde jedoch durch die Kontrolle anderer Länder, insbesondere des russischen Reichs, unterdrückt. Erst nach der Unabhängigkeit 1991 wurde das Postkoloniale Denken für die UkrainerInnen möglich. Dass zuerst der Zustand von Unsicherheit eintritt, ist charakteristisch für postkoloniales Denken. Der dabei stattfindende Prozess der Nationsbildung bedarf einer Distanz von der zuvor herrschenden Macht. Während dieser Phase des permanenten Staatsaufbaus durchlief die Ukraine einige politische und wirtschaftliche Krisen, welche bis heute fortbestehen. Hierbei entsteht die Frage, ob diese Krisen durch den Dekolonisationprozess verstärkt wurden.

Eine Besonderheit des ukrainischen postkolonialen Denkens ist die tragische Wahrnehmung der eigenen Geschichte. Die bisherige Forschung konzentriert sich auf die gescheiterten Revolutionen, Verlust der Unabhängigkeit und das „othering“ durch die westeuropäische Sichtweise auf den Osten. Befreiung und Neufindung der eigenen Kultur und Geschichte ist bisher auf die wenigen Forschungsergebnissen der postkolonialen Studien in Bezug auf Osteuropa und insbesondere Ukraine begrenzt. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung des eigenen Volkes und Landes, welches bis heute um die Anerkennung der eigenen Kultur und Sprache kämpft.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass UkrainerInnen in einem politisch-imperialen System eingebunden waren, welches die nationale Identität einschränkte und die Eigenständigkeit der ukrainischen Kultur zerstörte. Postkoloniale Theorien können hier als Werkzeug eine nützliche Perspektive bieten, um der Analyse der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen nachzugehen. Die Darstellung der komplexen Beziehungen zwischen diesen Ländern und dessen Auswirkungen durch die politische und kulturelle Hegemonie auf die ukrainische Gesellschaft trägt zu einem besseren Verständnis bei. Hierbei bieten die postkolonialen Theorien der Ukraine die Möglichkeit des Gegendiskurses. Durch die Analyse kolonialer Strukturen und der dahintersteckenden Prozesse kann der Prozess der De-Kolonisierung besser vollzogen werden. Die zu betrachtenden Auswirkungen von Machtstrukturen, Imperialismus und Kolonialismus auf die ukrainische Gesellschaft und Kultur lässt sich in Kategorien unterteilen: koloniale Strukturen, Identitätsbildung, Widerstand und Machtbeziehungen. Diese Kategorien können mit Hilfe von postkolonialen Theorien als Werkzeug besser rekonstruktiv untersucht werden.

Die durch imperiale Mächte auferlegten kolonialen Herrschaftsmuster auf die Ukraine müssen in der heutigen Zeit gelöst werden. Dabei kann die durch postkoloniale Theorien abgeleitete Kulturkritik helfen und ein postkoloniales politisches Programm ermöglichen. Das Identitätsgefühl des ukrainischen Volkes muss vom subalternen Status gegenüber Russland befreit werden. Erst mit dieser Befreiung würde die ursprüngliche ukrainische Kultur zum Vorschein kommen. Die postkolonialen Theorien schaffen Verständnis für die autochthone Stellung der Kultur und Gesellschaft der UkrainerInnen. Der Wille vieler UkrainerInnen, ihre Sprache und Kultur auszuleben und der Drang zum Beitritt zu „Europa“ ist das Emanzipieren der kolonialen Unterwerfung.

Die dargestellten Ergebnisse rechtfertigen die Aussage, dass postkoloniale Theorien als Werkzeug zur Beschreibung der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen verwendet werden kann, jedoch muss dabei bedacht werden, dass die Gegenwart nicht in die Vergangenheit reininterpretiert wird. Daraus ergibt sich für die Forschung eine Aufgabe, die komplex ist und eine globale postkoloniale Betrachtung und Kritik bedarf.

Literaturverzeichnis:
do Mar Castro Varela, Maria/Dhawan, Nikita (Hrsg.): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 3.Aufl., Bielefeld 2020.
Hüchtker, Dietlind/ Kliems, Alfrun (Hrsg.): Überbringen-Überformen-Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert, Köln 2011.
Sartre, Jean-Paul: Vorwort, in: Frantz, Fanon (Hg.): Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt am Main 1966, S. 20.
Frysztacka, Clara Maddalena: Zeitliche Tiefe und Begegnungsgeschichten: Die imperial-kolonialen Werkzeuge des polnischen historischen Wissens über den Osten, in: Geschichte und Gesellschaft 47.4 (2021), S.648-670.
Sproede, Alfred/ Lecke, Mirja: Der Weg der postcolonial studies nach und in Osteuropa. Polen, Litauen, Russland, in: Hüchtker, Dietrich/ Kliems Alfrun (Hrsg.): Überbringen – Überformen – Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert, Köln 2011, S.27-66.
von Hagen, Mark: Does Ukraine have a History?, in: Slavic Review Vol. 54 No.3 (1995), S. 658-673.
Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, München 1994.


  1. Sartre, Jean-Paul: Vorwort, in: Frantz, Fanon (Hg.): Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt am Main 1966, S.20.[]

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