Das postkoloniale Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland

Wie Andrzej Szeptycki postuliert, konzentriert sich die (post-)koloniale Forschung klassischerweise auf die westeuropäische Herrschaft über überseeische Gebiete, deren Bevölkerung von den Kolonisatoren als different aufgefasst wird. María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan (2015: 31) lassen in ihrem Einführungswerk über postkoloniale Theorie das „Zeitalter des europäischen Kolonialismus“ mit dem Griff nach der Karibik und den Amerikas beginnen, auch wenn sie auf schon früher auftretende Phänomene der Okkupation und Herrschaft verweisen. Andrzej Szeptycki (2011: 5) plädiert für eine Ausweitung des Begriffs: „Colonialism should be described as a protracted rule over another racial/ethnic group, coupled with a policy of economic exploitation and forced acculturation.“

Wie aus Andreas Kappelers Kleine Geschichte der Ukraine anschaulich hervorgeht, stand die Ukraine im Laufe ihrer Geschichte unter verschiedensten Herrschaften. Als Konsequenz des am Ende des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts tobenden Bürgerkriegs, fand sich die Ukraine auf Sowjetrussland, Polen, Rumänien und die Tschechoslowakei aufgeteilt – unter der Sowjetbesatzung wurde die Ukraine zu einer eigenen Republik. In Folge des Nichtangriffspaktes zwischen Hitler und Stalin fielen bis auf die Karpaten-Ukraine alle Regionen mit bedeutenden ukrainischen Bevölkerungsanteilen unter sowjetische Herrschaft. Mit der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 endete diese Periode. Folgt man der Terminologie Timothy Snyders, so war die Ukraine Teil der Bloodlands. Vor allem die Phase, in der Hitler und Stalin zeitgleich an der Herrschaft waren, war für die Ukraine besonders blutig – auf diesem Gebiet starben zu dieser Zeit weltweit die meisten Menschen.

Die postkoloniale Herangehensweise bietet – wie bereits Ulrike Lindner postuliert hat – die Möglichkeit, die vergangenen Auswirkungen solcher Geschehnisse auf das jeweilige Land sowie deren Gesellschaft und Kultur zu untersuchen und bis heute wirkmächtige Konsequenzen aufzudecken. Darüber hinaus eignet sie sich Harald Fischer-Tiné folgend hervorragend, um asymmetrische Machtverhältnisse zu untersuchen, mit denen wir es im Fall der Ukraine – wie sich zeigen wird – zu tun haben. Wie auch schon Andrzej Szeptycki beobachtet hat, werden postkoloniale Theorien immer öfter zur Untersuchung der UdSSR und ihrer Nachfolgestaaten genutzt. Ziel dieses Essays ist es, zu demonstrieren, dass der postkoloniale Ansatz eine geeignete Methode bietet, um das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland seit der Gründung der Sowjetunion zu beschreiben.

An Aktualität ist dieses Thema wohl kaum zu überbieten – es wird sich nämlich zeigen, dass so manche damaligen Strukturen bis heute wirkmächtig geblieben sind und die Politik beider Staaten bis in die Gegenwart bestimmen. Die Abhängigkeit der Ukraine von Russland soll im Folgenden auf der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ebene untersucht werden.

Die Statute „Die Mutter Ukraine“ (ukrainisch Україна-мати, bis 2023 „Mutter Heimat“) in Kiev. Vorschlag des ukrainischen DIAM (Staatliche Inspektion für Architektur und Stadtplanung) zur Entfernung und Ersetzung des ursprünglichen sowjetischen Staatswappens. (Wikimedia commons)

Als Republik der Sowjetunion galt in der Ukraine auch das entsprechende sowjetische politische System. Wie in den Ausführungen von Jan Gross deutlich wird, unterlag die Ukraine dem Obersten Sowjet der UdSSR, der in Moskau saß. Er genehmigte den Antrag der Sonderkommission, demzufolge die Westukraine – die sich als Resultat des Nichtangriffspakts mit Hitler unter sowjetischer Besatzung befand – in die Ukrainische Sowjetrepublik aufgenommen werden sollte. Auch in der Westukraine wurde nach nur kurzer Zeit – wie Wanda Krystyna Roman bemerkt – eine administrative Neugliederung nach dem sowjetischen Standard unternommen. Selbst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dauerte es – so konstatiert Steffen Dobbert – noch mehrere Jahre, bis das sowjetische Personal samt seinen Strukturen und Methoden allmählich verschwand – die Eliten blieben in großen Teilen dieselben und zeigten wenig Motivation, die notwendigen Umgestaltungen zu unternehmen. Zudem würden große wirtschaftliche Unterschiede es schwer machen, eine Demokratie aufzubauen. Die Demokratisierung wäre in der Ukraine folglich nur schleppend verlaufen, was dazu geführt hätte, dass eine Reihe von inoffiziellen Machtstrukturen und Banden entstanden. Verschiedenste Oligarchen profitierten laut ihm von diesen Zuständen – Teile von ihnen pflegten weiterhin gute Beziehungen nach Russland. Andrzej Szeptycki beobachtete bei den vier Präsidenten, die bis 2014 in der unabhängigen Ukraine im Amt waren, verschiedene Vorgehensweisen. Während Leonid Kutschma (1994-2005) und Viktor Janukowitsch (2010-2014) auf eine größtenteils pro-russische Politik und enge Beziehungen zu Russland gesetzt hätten, hätte bei der Politik von Leonid Krawtschuk (1991-1994) und Viktor Juschtschenko (2005-2010) – trotz teilweise enger Beziehungen zu Russland – die Idee der Stärkung der Unabhängigkeit überwogen. Einigen Parteien wie der Partei der Regionen und der Kommunistischen Partei der Ukraine kann ihm zufolge eine pro-russische Haltung attestiert werden. Auch ukrainische Eliten würden unter anderem aufgrund von Wählererwartungen, wirtschaftlichen Profit sowie dem Aufwachsen in der Zeit der Sowjetunion zu einer Kooperation mit Russland neigen. Die hier zu beobachtende Abhängigkeit der Ukraine würde von Russland politisch ausgenutzt, um innenpolitisch mitwirken zu können. So unterstützte Russland Viktor Janukowitsch bei seiner Kandidatur für den Präsidentenposten, indem es mit ihm bereits vor der Wahl Gaslieferverträge abschloss. Gleichzeitig begleiten – wie auch Steffen Dobbert hervorhebt – politische Spannungen das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland seit Beginn an.  

Die Wirtschaft zeichnet sich laut Andrzej Szeptycki zu der Zeit der Sowjetunion durch ihre starke Zentralisierung, Ineffizienz und Autarkie aus. Timothy Snyder beschreibt in seiner Monographie Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin anschaulich, welchen Beitrag Stalins erster Fünfjahresplan (1928-1932) an dieser Situation hatte. In diesem Zeitraum führte Stalin eine rigorose Politik der Kollektivierung und Industrialisierung. Für den von ihm angestrebten Kommunismus – so die Überlegung – benötige die Sowjetunion Schwerindustrie, welche wiederum eine kollektivierte Landwirtschaft brauche, zu deren Erreichung eine Kontrolle über die sowjetischen Bauern von Nöten wäre. Die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR) war hiervon nicht ausgenommen und so war Ende 1931 bereits ca. 70% der ukrainischen Ackerfläche kollektiviert. Für die Erreichung seiner politischen Ziele hatte Stalin zehntausende Bürger erschießen, Hunderttausende deportieren und mehr als fünf Millionen verhungern lassen – die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik traf es am stärksten. Folgt man Snyder (2022: 172) so war „[d]as Geheimnis der Kollektivierung (wie Stalin schon lange erfahren hatte) […], dass sie eine Alternative zur expansiven Kolonierung darstellte, d. h. sie war eine Form interner Kolonisierung“. Wanda Krystyna Roman beschreibt, wie die Kollektivierung (wenn auch weniger effektiv) ebenfalls in der später annektierten Westukraine umgesetzt wurde.

Darüber hinaus – so hebt Andrzej Szeptycki hervor – entstanden zu der Zeit der Sowjetunion ausgeprägte Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Diese blieben laut ihm auch nach dem Niedergang der Sowjetunion noch erhalten. Russland war dementsprechend noch lange Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Haupthandelspartner der Ukraine. Eine Ursache liegt laut Szeptycki in der Schwierigkeit für Nachfolgestaaten der UdSSR, neue wirtschaftliche Partner außerhalb ihrer Gemeinschaft zu finden. Im Energiesektor ist die Abhängigkeit der Ukraine von Russland am stärksten. Auch hierfür lägen die Gründe in der Vergangenheit: Im Rahmen der zentralen Planung während der Sowjetzeit, hätte es nur wenig Anlass gegeben, sparsam mit zugeteilten Produktionsmitteln zu verfahren, weshalb die Wirtschaft der Ukraine nicht sonderlich energieeffizient sei. Diese Abhängigkeit der Ukraine von russischem Gas und Öl habe Russland in der näheren Vergangenheit häufig als Mittel der Destabilisierung, Diskreditierung und Erpressung ausgenutzt – ein Beispiel hierfür markieren die 2006 und 2009 herrschenden Gaskrisen. Zwar waren russische Gaslieferungen für die Ukraine lange deutlich günstiger, als für andere Länder, sie wären aber stets mit dem impliziten Drohpotenzial verbunden gewesen, die ukrainische Wirtschaft durch eine erhebliche Erhöhung der Preise zu schädigen, sollte Russland sich dazu genötigt sehen. Zu erwähnen ist in diesem Kontext außerdem die Intransparenz institutioneller Regelungen des Gassektors.

Aber wie auch Harald Fischer-Tiné betont, ist für postkoloniale Theorien zentral, dass der Kolonialismus als reziprok anzusehen ist. Dementsprechend hat nicht nur der Kolonisator einen Einfluss auf den Kolonisierten, sondern auch andersherum. Dies betreffend hebt Andrzej Szeptycki hervor, dass ein Großteil der russischen Gaslieferungen an die EU über das Gebiet der Ukraine verläuft, wodurch die Ukraine ebenfalls ein Druckmittel habe.

Insgesamt – so Andrzej Szeptycki – unterscheide sich die Konstellation zwischen den beiden ehemaligen Republiken von einem typisch kolonialen Verhältnis. So sei das typische Modell der rückständigen Peripherie und des entwickelten Kernlands zu sowjetischer Zeit nicht beobachtbar, da die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik den Status des entwickelten Kernlandes nicht beanspruchen könne. Zudem wäre die Industrialisierung auf dem ganzen Gebiet der UdSSR angestrebt worden.

Auch das kulturelle Leben wurde – wie von Wanda Krystyna Roman beschrieben – in der sowjetischen Zeit streng kontrolliert, beengt und sowjetisiert. Dieser Umstand wirkt laut Andrzej Szeptycki bis in die postsowjetische Zeit hinein. Demnach hätten Ukrainer keine Einheitlichkeit in ihrem Geschichtsbild. Stattdessen würde es einen Konflikt zwischen nationalen ukrainischen und postsowjetischen Geschichtsverständnissen geben. Wie different diese Sichtweisen sein können, zeigt sich zum Beispiel in der uneinheitlichen Bewertung der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die in der Ostukraine als Verbrecher und in der Westukraine als Helden gesehen wird.

Zudem zeigt sich – so Andrzej Szeptycki – auch noch in postsowjetischer Zeit eine große Relevanz von russischen Schriftstellern, Künstlern, Verlegern und Medien. Dies sei in vielerlei Hinsicht für Russland relevant, denn es sorge für die weiterhin präsente Rolle der russischen Sprache, die Stärkung des Bildes der Brudernationen und die Verbreitung russischer Interessen in der Ukraine. Auch die relevante Stellung der prorussischen ukrainisch-orthodoxen Kirche in der Ukraine ist ihm folgend für den kulturellen Aspekt nur schwer zu überschätzen.

Insgesamt zeigt sich also, dass der postkoloniale Ansatz auch für die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Russland und der Ukraine geeignet ist. Er eröffnet den Blick auf die wechselseitigen Einflüsse, die beide Nationen während der sowjetischen Zeit aufeinander hatten. Gleichzeitig macht er bis heute relevante Konsequenzen des Kontaktes sichtbar. Es hat sich gezeigt, dass russische Einflüsse in dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich bis heute erhalten geblieben sind – eine Analyse weiterer Aspekte wäre lohnend. Russland scheut sich dabei nicht davor, seine Einflüsse gewinnbringend für sich selbst zu nutzen. Nichtsdestotrotz wäre es falsch, den Einfluss als einseitig darzustellen, da auch Russland als ehemaliges Kernland von der Ukraine beeinflusst wurde und immer noch wird. Dennoch ist das Machtverhältnis zwischen den beiden Nationen asymmetrischer Natur. Auch wenn sich der postkoloniale Ansatz nicht immer problemlos auf die Ukraine anwenden lässt, so eröffnet er doch eine neue Sicht sowohl auf die Geschichte als auch auf die Gegenwart. 

Literaturverzeichnis

Castro Varela, María do Mar / Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 20203.
Fischer-Tiné, Harald: Postkoloniale Studien, in: Europäische Geschichte Online (EGO) (2010), URL: http://ieg-ego.eu/de/threads/theorien-und-methoden/postkoloniale-studien, abgerufen am 16.04.2023.
Gross, Jan Tomasz: Und wehe du hoffst…. Die Sowjetisierung Ostpolens nach dem Hitler-Stalin Pakt 1939-1941, Freiburg im Breisgau u.a. 1988.
Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, 5. überarb. u. aktual. Aufl., München 2019.
Lindner, Ulrike: Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies, in: Docupedia-Zeitgeschichte (2011), URL: https://docupedia.de/zg/Neuere_Kolonialgeschichte_und_Postcolonial_Studies, abgerufen am 16.04.2023.
Roman, Wanda Krystyna: Die sowjetische Okkupation der polnischen Ostgebiete 1939 bis 1941, in: Chiari, Bernhard (Hg.): Die polnische Heimatarmee (Beiträge zur Militärgeschichte 57), München 2003, S. 87-110.
Snyder, Timothy: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2022.
Szeptycki, Andrzej: Ukraine as a Postcolonial State, in: Polish Quarterly of International Affairs 20 (1) (2011), S. 5-29.

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