Postkolonialismus und die Entwicklung des ukrainischen Nationalstaates

In diesem Essay werde ich mich mit der Frage beschäftigen, wie sich die koloniale Vergangenheit der Ukraine auf den Prozess der Bildung und Entwicklung eines eigenständigen Nationalstaates auswirkte und ihn bis heute beeinflusst.

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Zunächst soll diese Frage in einen breiteren Kontext eingeordnet werden. Sie steht deutlich im Bezug zu den Postcolonial Studies und ist im Rahmen der Frage, inwiefern postkoloniale Theorien zur Beschreibung der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen passen, entwickelt worden. Bei den Postcolonial Studies handelt es sich nach Lindner und Fischer-Tiné um ein interdisziplinäres Feld von Perspektiven, Theorien und Methoden. Das Ziel dieser ist es, die nicht-materiellen Dimensionen kolonialer Herrschaft zu analysieren und koloniale Diskurse sowie Denkmuster, die bis in die Gegenwart wirken, zu dekonstruieren. Dabei stehen Überlegungen zu verflochtenen, transkulturellen und hybriden Identitäten und Gesellschaftsformationen im Vordergrund.

Ich orientiere mich zudem an aktuellen Debatten in Osteuropastudien, welche nach Robert Kindler u.a. beispielsweise darüber geführt werden, ob die Ukraine aus einer Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts hervorging oder ein Kind der sowjetischen Nationalitätenpolitik war. Ein weiteres Thema, das zur Debatte steht, ist, ob die Ukraine eher eine Kolonie oder die Wiege der russischen Zivilisation war. Hierbei möchte ich zum einen auf die Standpunkte von deutschen Historikern wie z.B. Jörg Baberwoski eingehen. Zum anderen werde ich mich mit Putins Essay über die historischen Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern beschäftigen und gegen seinen Standpunkt argumentieren, der nach Schulze-Wessel eigenständige nationale Entwicklungen der Ukrainer nicht zulässt. Gerade hier bietet der Ansatz der Postcolonial Studies meiner Meinung nach große Chancen. Denn indem die Geschichte der Ukraine und ihre Verflechtung mit Russland untersucht wird, kann gegen die Standpunkte von Baberowski und Putin argumentiert und diese entkräftet werden. Der Essay orientiert sich strukturell daran, im ersten Teil gegen Putins Position zu argumentieren, wobei ich auf die Kiewer Rus, das russische Imperium und dessen durch Kolonialismus etablierten Narrative eingehe. Im zweiten Teil geht es um die ukrainische Revolution und die Ukraine in der Sowjetunion, wodurch Baberowskis These entkräftet werden soll. Durch die folgende Argumentation und Behandlung meiner zu Anfang gestellten Frage gedenke ich zeigen zu können, dass durch den Kolonialismus Russlands Narrative und Denkmuster bis heute verbreitet sind, die der Ukraine ihre Eigenständigkeit absprechen sollen. Gerade in diesem aktuellen, angespannten Diskurs, ist es für mich wichtig, die historischen Ereignisse zu untersuchen, um diese Narrative dekonstruieren zu können.

In Putins Essay über die historische Beziehung zwischen Russen und Ukrainern vom 12. Juni 2021 geht er auf die mittelalterlichen Kiewer Rus ein, auf die sich sowohl die russische als auch die ukrainische Geschichte zurück beziehen. Daraus leitet Putin eine gemeinsame Geschichte der beiden Völker ab, nach welcher sie bis heute ein Volk bilden. Schulze-Wessel stellt in seinem Artikel, „Putins bedrohliche alternative Geschichtsschreibung“, überzeugend dar, dass sich Putin, in den Worten Schulze-Wessels, einer Deutungsfigur der imperialen russischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts bedient, derzufolge der mittelalterliche Herrschaftsverbund der Kiewer Rus die Wiege der ostslawischen orthodoxen Völker sei. Ukrainische Historiker hingegen verbinden die Kiewer Rus jedoch mit Staaten, die sie als Vorläufer der heutigen Ukraine sehen wie das Großfürstentum Litauen und das Hetmanat der Kosaken in der frühen Neuzeit. Zudem hat Kappeler am Beispiel von Mychajlo Hruschewskyj gezeigt, dass in der ukrainischen Geschichtsschreibung nicht von einer Kopplung des Moskauer und Kiewer Reiches ausgegangen wird und die Russen keinen exklusiven Anspruch auf das Reich der Kiewer Rus haben. Dass solche Stimmen Gehör finden ist wichtig, da nur auf diese Weise koloniale Aspekte aus der Vergangenheit aufgearbeitet werden können. Dies wird durch den Ansatz der Postcolonial Studies unterstützt. Putin nutzt jedoch auch dieses alte imperiale-russische Narrativ, da es durch den Kolonialismus besser etabliert ist und er somit seine aggressive Ukraine-Politik rechtfertigen kann. Für Putin sind alle ukrainischen Positionen, die ihn dahingehend kritisieren, nationalistisch und faschistisch. Generell sind für ihn eigenständige nationale Entwicklungen in der Ukraine nicht möglich, sondern immer westliche Interventionen gegen Russland. Florin macht darauf aufmerksam, dass der Krieg in der Ukraine als Folge einer nicht verarbeiteten kolonialen Vergangenheit und als Angriff auf ein postkoloniales emanzipatorisches Projekt gesehen werden kann.

In seiner Argumentation lässt Putin jedoch außer Acht, dass die Russen und Ukrainer nach dem Untergang des Kiewer Reiches eine divergierende Entwicklung vollzogen. Schulze-Wessel stellt fest, dass die Wege Russlands und der Ukraine in ihren Verbindungen mit Europa verschieden waren und dies weitreichende Folgen für die jeweiligen kollektiven Identitäten hatte. Eine eigenständige ukrainische politische und sprachliche Identität wurde über Jahrhunderte beibehalten. So zeigt Mankoff in seinem Artikel, dass trotz Polonisierung und Russifizierung in der Sowjetunion unter Stalin immer auch ukrainischer Widerstand vorhanden war. Putin schätzt zudem die Bevölkerung der heutigen Ukraine falsch ein. Das liegt nach Fürst vor allem daran, dass es hinsichtlich der Sowjet-Zeit eine falsche Wahrnehmung der „joyful Union“ gibt. Es sprachen zwar viele Menschen in der Ukraine beispielsweise Russisch als ihre Muttersprache und abgesehen von Russland kamen die meisten sowjetischen Beamten aus der Ukraine, aber die vorhandene Opposition wurde kaum wahrgenommen, da der KGB diese unterdrückte. Die Ablehnung des sowjetischen Imperiums zeigte sich jedoch im Referendum 1991, indem 92% der Ukrainer für die Unabhängigkeit stimmten. Besonders die Erfahrung der jüngeren Generation, die von einer unabhängigen Ukraine geprägt ist, kann Putin nicht nachvollziehen. Durch sein Wirken unterstützt er sogar die Entwicklung der Ukraine als unabhängige Nation, da neue Traditionen entstehen wie z.B. Schreine für die gefallenen Soldaten, die als Opfer für die Nation gesehen werden oder die Gründung einer unabhängigen ukrainischen orthodoxen Kirche. Diese Aspekte tragen, wie Wanner zeigt, dazu bei, dass es zu Abgrenzungen von „uns“ und „ihnen“ kommt. Auch der Anteil von ukrainischen Muttersprachlern nahm in den letzten 30 Jahren deutlich zu.

Im zweiten Teil dieses Essays wird es um Positionen deutscher Historiker gehen. Florin erklärt in seinem Artikel, dass der neuen Imperialgeschichte zuletzt vorgeworfen wurde, ein idealisierendes Bild des russischen Reiches entworfen zu haben. Im Fokus stehen dabei Texte von Jörg Baberowski, in denen er das Imperium als Raum der Multikulturalität idealisierte. Die ukrainischen Nationalisten würden trennen wollen, was der sowjetische Mythos integrieren wollte. Er spricht von einer Ost-West Spaltung der ukrainischen Gesellschaft, der zufolge die Menschen im Osten der Ukraine sich mit dem russischen Imperium identifizieren würden und sich dies mit Putins Ambitionen decke. Die Sowjetunion sei eine verlorene Heimat und im Westen würde ausschließlich der Opferkult der ukrainischen Nationalisten als Wahrheit anerkannt. Letztendlich ist die Ukraine nach seiner These lediglich ein Kind der sowjetischen Nationalitätenpolitik.

Baberowski beachtet dabei verschiedene Aspekte nicht. Dazu zählt nach der Kritik von Schmid und Kappeler die ukrainische Nationalbewegung, die ihre Anfänge im 19. Jahrhundert hat und im Verlauf des russischen Bürgerkrieges eine eigene ukrainische Revolution führte und schließlich 1917 das erste Mal einen autonomen ukrainischen Staat ausrief . Die ukrainischen Nationalisten wurden zwar von den Bolschewiki besiegt, aber nach Yekelchyk zeigt die Revolution, wie wichtig die nationalen Besonderheiten bei der Betrachtung der Ereignisse sind. Es handle sich bei der Gründung der Ukraine als Sowjetrepublik 1922 nicht um eine pro-bolschewistische Arbeiterrevolution, da die Menschen zuvor die ukrainische Republik unterstützten. Die Frage nach nationaler Befreiung habe eine große Rolle gespielt, nicht nur der Kampf der ukrainischen Nationalisten, der provisorischen Regierung und der Weißen. Die ukrainische Revolution scheiterte letztendlich, was unter anderem daran lag, dass die Ukraine isoliert war und keine Partner hatte. Dennoch blieben die Ideen gegen Krieg und gegen russische Eliten. Zudem wurde die erneut aufkommende Erinnerung an die Tradition der Kosaken mit der Vorstellung von sozialer und nationaler Befreiung verknüpft.

Ob die Sowjetunion als integrierende Heimat zu sehen ist, ist fraglich. Denn obwohl, wie Veser sagt, die Unterstützung der Nationalbewegung wichtig für den Erfolg der Roten war, kritisierte die ukrainische Linke schnell, dass die Bolschewiki die kolonialen Praktiken des russischen Reiches weiterführten. Auch wenn aus der russischen Sicht die Ukraine nicht als unterdrückt wahrgenommen wird, sprechen Ereignisse wie die Hungerkatastrophe und die Russifizierung unter Stalin dagegen. Grazlost spricht dahingehend vom bolschewistischen Krieg gegen die ukrainischen Bauern, der mit der ukrainischen Revolution begann. Trotz der Unterdrückung überlebte die ukrainische Sprache und die Ukraine selbst spielte eine wichtige Rolle beim Ende der Sowjetunion. Wichtig ist auch, dass es beim Referendum 1991 keine Ost-West Trennung gab. Seit den Konflikten mit Russland in den letzten Jahren stieg auch die Zustimmung für einen unabhängigen ukrainischen Staat weiter. Dennoch bildet der aktuelle Krieg die Bedrohung einer Rekolonisierung Osteuropas durch Putin. Ich stimme Schulze-Wessel dahingehend zu, dass die Forschung darauf reagieren kann, indem wir versuchen, unsere Denkmuster zu dekolonisieren und beispielsweise in der Geschichtswissenschaft das Schema der „Russischen Geschichte“ überwunden wird. Allerdings muss dabei auch darauf geachtet werden, wie Kindler u.a. aufzeigen, dass die postkoloniale Perspektive nicht zu einem nationalen Tunnelblick oder einer Moralisierung der Vergangenheit führt.

Abschließend kann ich sagen, dass die koloniale Vergangenheit der Ukraine die Gründung eines eigenständigen Staates zu einer herausfordernden Aufgabe und einem langjährigen Prozess machte. Über viele Jahre wurden nationale Bestrebungen und Identitäten unterdrückt. Trotzdem verschwanden diese nationalen Identitäten nie und die Gründung einer eigenständigen Ukraine war letztendlich erfolgreich. Auch wenn sie durch den aktuellen Krieg erneut herausgefordert wird, bestärkt dies nur den Prozess der Nationsbildung. Für die Aufarbeitung dieses Prozesses bieten postkoloniale Theorien meiner Meinung nach große Chancen. Es muss jedoch auch darauf geachtet werden, dass es nicht zu der angesprochenen Moralisierung der Vergangenheit kommt.

Literaturverzeichnis
– Baberowski, Jörg: Der Westen kapiert es nicht, in: Die Zeit Online 2015, URL: https://www.zeit.de/2015/11/ukraine-krieg-fehler-usa-europa-putin-treue-russland, abgerufen am 17.03.2023.
– Fischer-Tiné, Harald: Postkoloniale Studien, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG) 2010, URL: http://www.ieg-ego.eu/fischertineh-2010-de, abgerufen am 17.03.2023.
– Florin, Moritz: Zentralasien und die Dekolonisierung der Osteuropaforschung. Gedanken anlässlich des russischen Überfalls auf die Ukraine, in: Zeitgeschichte-online 2022, URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/zentralasien-und-die-dekolonisierung-der-osteuropaforschung, abgerufen am 17.03.2023.
– Fürst, Juliane: The Imperial Imagination of Russians. … and its limits, in: Zeitgeschichte online, 2022 URL: https://zeitgeschichte-online.de/kommentar/imperial-imagination-russians, abgerufen am 17.03.2023.
– Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, 5. Auflage, München 2019.
– Kindler, Robert; Rupprecht, Tobias; Urbansky, Sören: Osteuropas Geschichte dekolonisieren, aber wie?, in: Karenia Petersburger Dialog Online 2022, URL: https://www.karenina.de/russland/wissenschaft/osteuropas-geschichte-dekolonisieren-aber-wie/, abgerufen am 19.03.2023.
– Lindner, Ulrike: Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies, in: Docupedia-Zeitgeschichte 2011, URL: https://docupedia.de/zg/Neuere_Kolonialgeschichte_und_Postcolonial_Studies, abgerufen am 17.03.2023.
– Mankoff, Jeffrey: Russia’s War in Ukraine Identity, History, and Conflict, in: Center for Strategic and International Studies (CSIS) 19 (2022), S. 7-12.
– Penter, Tanja: Sprache als Waffe. „Neonazis“, „Genozid“, „Entnazifizierung“ und „Sondereinsatz“ in der Kriegspropaganda Putins, in: Zeitgeschichte online 2022, URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/sprache-als-waffe, abgerufen am 17.03.2023.
– Schulze-Wessel, Martin: Die Ukraine ist längst eine Nation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-ukraine-ist-laengst-eine-nation-deutsche-irrtuemer-ueber-russland-17888278.html, abgerufen am 17.03.2023
– Schulze-Wessel, Martin: Putins bedrohliche alternative Geschichtsschreibung, in: Ukraine verstehen, URL: https://ukraineverstehen.de/schulze-wessel-putins-bedrohliche-alternative-geschichtsschreibung/, abgerufen am 17.03.2023.
– Veser, Reinhard: Russland unter anderem Namen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.12.2022.
– Wanner, Catherine: Commemoration and the New Frontiers of War in Ukraine, in: Slavic Review 78 No. 2 (2019), S. 328-335.
– Yekelchyk, Serhy: Searching for the Ukrainian Revolution, in: Slavic Review 78 No. 4 (2019), S. 942-948.

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