„Vilcha – The Resettled Village“. Divergierende Perspektiven auf die Chernobyl-Katastrophe

Heute ist die Ruine des Chernobyl-Atomkraftwerks ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen – vor allem aus Westeuropa und den USA. Die HBO-Miniserie des gleichen Namens sorgte 2019 weltweit für Aufsehen und neues Interesse an Ort und Geschichte des Unglücks. Unberührt bleiben bei beiden Phänomenen die Spätfolgen des Unglücks und die Erfahrungen unzähliger Menschen aus der ehemaligen UdSSR (vor allem aus der Ukrainischen SSR und der Belarusischen SSR) und deren Nachkommen. In einem von der Bundesstiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) finanziertem Projekt, versuchten wir einen kleinen Teil des Erlebten dieser Menschen sichtbar zu machen. Zusammen mit vom Chernobyl History Workshop in Charkiv ausgewählten Studierenden und Journalist*innen (Projektleitung Dr. Viktoria Naumenko) führten wir als Gruppe Studierender aus Bochum und Köln (Co-Leitung Dr. Olena Petrenko, Sebastian Döpp) ein Oral-History-Projekt im ostukrainischen Dorf Vilcha durch. Das ursprüngliche Dorf Vilcha (von vielen stets als Old Vilcha bezeichnet) befindet sich in der Sperrzone von Chernobyl und ist heute verlassen. Erst 1993, also sieben Jahre nach dem Reaktorunfall, wurde das Dorf umgesiedelt – in eine Neugründung mit dem gleichen Namen in der Oblast Charkiv, über 700km entfernt unweit der russischen Grenze.

Denkmal der Opfer von Chernobyl

Die meisten der Einwohner*innen folgten dem Angebot in das Neue Vilcha umzusiedeln, ihnen wurde großzügige Flächen Land und eine moderne Infrastruktur versprochen. Viele der Bewohner*innen waren sogenannte Liquidatoren, also Arbeiter*innen verschiedener Berufsstände die unmittelbar an der Bekämpfung der Folgen des explodierten Kraftwerks geholfen haben. Vielen von ihnen haben gravierende Krankheiten und gesundheitliche Einschränkungen davongetragen.

Straße in Vilcha

Untergebracht waren wir zu zweit oder zu dritt bei Gastfamilien, die uns freiwillig aufnahmen und verpflegten. Tagsüber führten wir Interviews mit Bewohner*innen des Dorfes durch, um ein besseres Verständnis für ihre Erfahrungen mit dem Prozess einer Umsiedlung zu bekommen. Hier offenbarten sich das erste Mal Differenzen über den Ablauf und das Ziel der Forschungsarbeit der deutschen Seite und der ukrainischen. Erst später erfuhren wir von Bewohner*innen, mit denen wir eigentlich nicht sprechen sollten, dass unsere Interviewpartner*innen akribisch ausgewählt wurden und Leute, die uns ein etwas negativeres Bild der Situation des Dorfes und der Umsiedlung geben könnten, nicht mit uns sprechen sollten. Uns wurde relativ schnell klar, dass die Probleme der Menschen vor Ort, wie marode Infrastruktur, eine deutlich höhere Sterblichkeit im Vergleich zu anderen Orten der Region, mangelnde Arbeitsplätze und Zukunftsperspektiven, nicht thematisiert werden sollten.

Marodes Schulgebäude in Vilcha

Im Fokus stand unserer Ansicht nach, die Umsiedlung und die Erfahrungen der Menschen in den 80er und 90er Jahren. Nicht aber die aktuelle Lebenswelt der Menschen oder etwaige Schwierigkeiten mit Versorgung, Kranken- und Altenpflege oder Arbeitsplätzen. Diese Informationen wurden uns nicht vor der Kamera offenbart, sondern wenn nur privat in den Familien oder vermehrt noch von anderen Bewohner*innen, mit denen wir uns in unserer Freizeit unterhielten.

Interviewszene und Gespräch mit dem Bürgermeister des Ortes

Diese Erkenntnisse sorgten für einen unschönen Beigeschmack der ansonsten doch sehr interessanten, bewegenden und sicherloch auch genuinen Geschichten der interviewten Menschen. Das Ergebnis oder vielmehr Produkt unserer Reise ist ein sehr „spezieller“ 60-minütiger Dokumentarfilm (auf Youtube zu finden), an dem wir als deutsche Gruppe wenig bis kein Mitspracherecht hatten und ein Buch, das nur auf Ukrainisch in der Ukraine erschienen ist und auch nicht in der finalen Form der deutschen Projektleitung vorliegt. Ein kurzer Bericht in englischer Sprache ist zu dem auf der Seite des Chernobyl Workshops zu finden.

Sebastian Döpp

Sebastian Döpp studiert seit 2015 Geschichte, Anglistik/Amerikanistik und Public History an der Ruhr Universität. Seit April 2018 arbeitet er als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte (Prof. Stefan Plaggenborg). Sebastian Döpp beschäftigt sich hauptsächlich mit Erinnerungskulturen in Osteuropa sowie mit Geschichtskultur, Geschichtspolitik und Gewaltgeschichte. Im Rahmen seiner Tätigkeit am Lehrstuhl nahm er an mehreren Projekten und Studienfahrten in Polen, Rumänien, der Republik Moldau und der Ukraine teil. Zuletzt betreute er mit Dr. Olena Petrenko ein Forschungsprojekt zu den Erfahrungen von Displaced Persons in der Ostukraine. Ehrenamtlich engagiert er sich neben dem Fachschaftsrat Geschichte auch in der Initiative Nordbahnhof e.V. und bei Gegen Vergessen - für Demokratie e.V.

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