Pan Tadeusz-Museum

2016 wurde in Wrocław das Pan Tadeusz-Museum (Muzeum Pana Tadeusza) eröffnet .

Wer war überhaupt Pan Tadeusz? Jede Polin und jeder Pole wird die Frage im Schlaf beantworten können. Das Meisterwerk gleichen Titels von Adam Mickiewicz gehört zur Pflichtlektüre in Polens Schulen und ist nach der Bibel das meistgelesene Buch Polens.

Abbildung des Autors

Ein Museum für ein Buch. Was es damit auf sich hat, erfahrt ihr in diesem Blogeintrag.

Mitten im Stadtzentrum Wrocławs befindet sich das Pan Tadeusz-Museum. Lokalisiert im Haus ,,Zur Goldenen Sonne‘‘ (Pod Złotym Słońcem) auf dem mittelalterlichen Marktplatz ,,Rynek“, dem Mittelpunkt der Fußgängerzone Wrocławs und der Hotspot für Touristen.

Das Museum selbst ist ein Teil  der Ossolinski-Nationalbibliothek, die seit 1947 ihren Sitz in Wrocław hat. Das Ossolineum wurde 1817 von Józef Maksymilian Ossoliński als Forschungsinstitut gegründet, um Schriftstücke der polnischen Kultur zu erhalten. Zu der Sammlung gehört auch das letzte erhaltene Manuskript von Pan Tadeusz, welches sich im Pan Tadeusz Museum befindet.

Der Grund, warum das Museum in Wrocław eröffnet wurde ist genau dieses Manuskript. Aufgrund des Zweiten Weltkrieges hat die Familie Tarnowski das Manuskript 1939 dem damals in Lwów (heute L’viv, Ukraine) ansässigen Ossolineum als Depositum zur Verfügung gestellt. 1989 forderte die Familie Tarnowski ihre Leihgabe zurück, aber durch von der Stadt Wrocław zu Verfügung gestellte Mittel konnte das Manuskript gekauft werden und wurde von der Stadt und der Familie als Schenkung der Ossolinski-Nationalbibliothek übergeben.

Die Handlung des 1834 erschienen Buches beschreibt Mickiewicz in einem Brief folgendermaßen:

Ich schreibe jetzt gerade ein ländliches Poem, darin ich die Erinnerung an unsere alten Bräuche festzuhalten und irgendwie ein Bild unseres Landlebens, der Jagden, Lustbarkeiten, Kämpfe und Einritte etc. zu zeichnen versuche. Die Szenerie ist in Litauen um das Jahr 1812, als noch die alten Sagen lebten und noch die Reste des alten ländlichen Lebens zu sehen waren. 1

Kurzum: Es ist ein Werk, das die polnische Identität und den Kampf um Freiheit in einer Zeit der politischen Umbrüche verkörpert, die aus einer Adelsherrschaft der Szlachta hervorgegangen ist.

Was erwartet Museumsbesucher:innen in der Ausstellung?

Die Ausstellung ist auf zwei Etagen und neun Räume verteilt. Die einzelnen Räume sollen den Besucher:innen Einblicke in das Leben des Dichters, die Entstehungsgeschichte des Werks sowie seine Bedeutung für die polnische Literatur und Kultur vermitteln.

Darüberhinaus bekommen die Besucher:innen eine umfangreiche Sammlung von historischen Dokumenten, Bildern und anderen Gegenständen, die mit dem Werk und dem Dichter in Verbindung stehen zu sehen.

Jedes einzelne der neun Zimmer zeigt seine ganz eigene Geschichte, in denen die Besucher:innen auch interaktive Elemente zum Mitmachen finden werden.

Einer der Räume nennt sich ,,Der Salon der Romantik“. Dieser Raum zeichnet sich durch seine einzigartige Deckenmalerei aus. Der Salon soll im musealen Kontext die Kunst der Romantik in ihrem Facettenreichtum widerspiegeln. Pan Tadeusz ist ein großes Landschaftsgemälde in Schriftform, weil das Werk durch Verse die unendliche Schönheit der Natur beschreibt.

Natürlich wurde dem Dichter des Epos auch ein Raum gewidmet. Dort wird sein Leben, das auch durch bedeutende historische Ereignisse für Europa geprägt worden ist, gezeigt.

Sein außergewöhnliches Leben, teilweise im Exil, wird mit Hilfe von Animationen in Bildschirmen auf lebendige Art und Weise vermittelt.

Was wäre Pan Tadeusz ohne die Szlachta? dem polnischen Kleinadel wurde auch ein Raum gewidmet.

Traditionelle Bekleidung des polnischen Adels, Bild des Autors

Vor der Teilung Polens war es die Szlachta, die in der Adelsrepublik die Macht hatte. Die Adelsrepublik existierte ab 1795 nicht mehr, aber Mickiewicz hat die altpolnische Kultur aufgegriffen und die Szlachta als gemeinschaftliche Schlüsselinstitution dargestellt. Pan Tadeusz, eigentlich der fiktive Charakter Tadeusz Soplica, ist so ein junger Adliger, der sich mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen auseinandersetzen muss.

Mein Fazit: Die Ausstellung über Pan Tadeusz ist eine einmalige Erzählung, die die Besucher:innen in die Zeit des Werkes entführen will. Die Ausstellung strahlt eine massive Historizität aus und zeigt auch den Kampf für etwas, das eigentlich schon Vergangenheit war, aber durch den Nationalpatriotismus des ,,polnischen Volkes“ erhalten wurde. Vor allem sind es die Exponate, die die Anwesenden spüren lassen, dass Pan Tadeusz als ,,Nationalepos“ Polens gilt. Auch die Menschen, die das Epos vorher nur ansatzweise kannten, sind durch die Ausstellung nicht nur dem Werk, sondern auch Polens Geschichte näher gekommen.

Besucht das Museum und überzeugt euch selbst von diesem einmaligen Erlebnis, damit ihr auch im Schlaf wisst, wer Pan Tadeusz war!


  1. Zakład Narodowy im. Ossolińskich (Hg.): Das Manuskript des Pan Tadeusz. Wrocław 2018. https://muzeumpanatadeusza.ossolineum.pl/wp-content/uploads/2022/01/Das-Manuskript-des-Pan-Tadeusz-DEUTSCH.pdf, hier S. 4 (Abgerufen: 14.07.2023).[]

Wettstreit der Vorzüge – universitäre Infrastrukturen im Vergleich

Der Studienort ist von großer Bedeutung für Studierende, denn er beeinflusst nicht nur den akademischen Werdegang, sondern auch die persönliche Entwicklung und die Erfahrungen während der Studienzeit. Ein Faktor bei der Wahl des Studienortes wird dabei oft außer Acht gelassen – die Infrastruktur der Universität. Das Studienleben auf dem Campus bietet viele Vorteile und ist typisch für zahlreiche Hochschulen. Wenn die Fakultäten und Einrichtungen jedoch über die Stadt verteilt sind, ergeben sich vielfältigere Möglichkeiten und Wahrnehmungen. Ob Erststudium, Auslandssemester oder Masterprogramm: Eine Auseinandersetzung mit der Infrastruktur der angestrebten Universität hilft die potenziellen Erfahrungen einzuordnen.

Erkenntnisse einer Exkursion von der Ruhr an die Oder

Studienreisen ermöglichen gelerntes Wissen in einem realen Kontext zu erleben. Unsere Exkursion von der Ruhrmetropole Bochum nach Wrocław öffnete viele neue Perspektiven. Nach dem Besuch eines Seminars an der Philologischen Fakultät der Universität Wrocław, wurden wir von einer Studentin zum barocken Hauptgebäude der Universität begleitet, welches zeitgleich als Museum fungiert. Während des kurzen Spaziergangs passierten wir das historische Ossolineum (Bibliothek und Literaturarchiv) und teilten uns die Fußwege sowohl mit Anwohnern als auch Touristen. Was für sie ein gewöhnlicher Fußmarsch war, verwandelte sich für uns in eine faszinierende Besichtigungstour. Die epochalen Räume des Hauptgebäudes der Universität zeichnen sich durch illusionistische Wandmalereien, prunkvolle Dekorationen und Skulpturen aus und hinterlassen bleibenden Eindruck. Die Aula Leopoldina und das Oratorium Marianum ziehen täglich viele Touristen an und dienen bis heute als Fest- bzw. Konzertsaal der Universität. Der angeschlossene mathematische Turm ist ebenfalls Teil des Museums und eine beliebte Aussichtsplattform in Wrocław. Das kulturelle Leben der Stadt geht mit dem akademischen Leben der Studierenden einher und verbindet eine Vielfalt von Menschen verschiedener Interessen. Diese Erfahrungen machen Studierende einer typischen Campusuniversität in der Regel nicht.

Unser Treffen mit den Professoren und Studierenden der Russischen Kultur- und Literaturwissenschaften verdeutlichte aber auch die Kehrseite der Medaille. Da das Gebäude der Philologischen Fakultät der Universität Wrocław nicht ausreichend Platz für alle Sprachwissenschaften bietet, liegt die Abteilung für Slavische Philologie zwanzig Minuten mit der Straßenbahn von der Philologischen Fakultät entfernt. Die Pendelzeiten zwischen den verschiedenen Einrichtungen müssen eingeplant werden und können für Verspätungen sorgen. Nach Gesprächen mit den Studierenden der Russischen Kultur- und Literaturwissenschaften wurde deutlich, dass die räumliche Trennung den Kontakt zu Studierenden anderer Forschungsgebiete erschwert und das Gemeinschaftsgefühl der Studierenden in Wrocław eher auf die Institute begrenzt ist. Es gibt keinen zentralen Treffpunkt, wie z.B. die Mensa, um täglich von einem interdisziplinären Austausch zu profitieren. Die Fakultätsbesuche warfen folgende Frage auf: Wie beeinflusst die Infrastruktur einer Universität das Leben der Studierenden?

Die Infrastruktur als Ergebnis der Entwicklungsgeschichte

Neben der Reputation der Universität und den verfügbaren Studienprogrammen spielt der Standort eine wichtige Rolle bei der Auswahl des Studienortes. Der Faktor Infrastruktur ist von besonderer Bedeutung, denn er wirkt sich maßgeblich auf den Studienalltag und die damit verbundenen Erfahrungen aus. Doch wie kommen verschiedene Infrastrukturen zustande?

Wegweisend für den Entstehungsprozess der Universität Wrocław ist die Geschichte der Stadt, welche durch diverse Herrschaftswechsel geprägt ist. Aufgrund der konfessionellen und politischen Rahmenbedingungen vor Ort vergehen knapp 200 Jahre zwischen dem Beschluss im Jahr 1505 und der tatsächlichen Gründung einer Universität im Jahr 1702 im damals habsburgischen Breslau. Zunächst verfügt die Universität über nur zwei Fakultäten. Die Fusion mit der Brandenburgischen Universität in Frankfurt-Oder um 1811 führt zum Modell einer Volluniversität. Mit der Zeit entstehen weitere Fakultäten und eigenständige Hochschulen, wie z.B. die Königliche Technische Hochschule in Breslau. Durch die Umstände der Weltkriege werden einige Akademien bis in die Nachkriegszeit hinein an die Universität Wrocław administrativ angegliedert, bevor sie wieder eigenständig arbeiten können. Die Universität Wrocław in ihrer heutigen Form ist daher das Ergebnis jahrelanger wechselhafter Schwierigkeiten. Im Gegensatz zu einer typischen Campusuniversität verteilen sich in Wrocław Fakultäten und Einrichtungen über die ganze Stadt.

Die Geschichte der RUB beginnt deutlich später und verläuft reibungsloser. Im Zuge der Bildungsoffensive legt der Landtag Nordrhein-Westfalens 1961 Bochum als Standort einer neuen Universität fest. In den Jahren darauf entsteht ein gewaltiger Campuskomplex, der zu dieser Zeit das Sinnbild der Modernität widerspiegelt: Eine riesige Fläche, über 40.000 Studierende, Straßen, Parkhäuser, Grünanlagen und Sportplätze auf dem Unigelände. Die Errichtung der RUB folgte also einem klaren Bauplan. Das ca. 400 x 900 Meter große Gelände ist in etwa vier gleich große Rechtecke aufgeteilt, denen die Fachrichtungen zugeordnet sind. Die nüchterne Architektur dient der klaren Orientierung. Und betrachtet man das Erscheinungsbild aus Stahl, Beton und Glas aus der Vogelperspektive, kommt das Konzept „Hafen im Meer des Wissens“ zum Vorschein. Das im Mittelpunkt gelegene Audimax erinnert an eine von Schiffen umgebene Muschel. Obwohl einige Einrichtungen außerhalb des Geländes liegen, ist die RUB eine typische Campusuniversität.

Die Stadt als Campus – wo Wissenschaft auf pulsierendes Stadtleben trifft

Eine über die Stadt verteilte Universität ermöglicht den Studierenden engeren Kontakt zum kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Raum. Die Universitäten sind in das städtische Leben und ihre kulturellen Szenen eingebunden. Ausstellungen, Museen, Konzerte und Theaterstücke werden von Studierenden mitgestaltet und gehören zum akademischen Leben dazu. Dies führt unvermeidlich zur Vernetzung mit Menschen unterschiedlicher Hintergründe und Interessen und erweitert die Lebenserfahrung jenseits des akademischen Charakters. Da in der Stadt üblicherweise eine größere Anzahl von Unternehmen, Organisationen und Institutionen anzutreffen sind, dehnen sich die Praktikums- und Beschäftigungsmöglichkeiten aus. Potenzielle Arbeitgeber sind zugänglicher, was die Chancen auf einen erfolgreichen Berufseinstieg erhöht. Einen weiteren Vorteil stellt die ästhetische Vielfalt dar, welche durch abwechselnde Architektur geschaffen wird. Unterschiedliche Baustile und architektonische Merkmale können eine einzigartige Atmosphäre und ein inspirierendes Umfeld schaffen. Der Erhalt und die Wertschätzung des architektonischen Erbes werden gefördert und bringen die kulturelle Vergangenheit mit der Gegenwart in Verbindung.

Campusuniversität – zwischen Bildung und Freizeit

Ein Campus bietet den Studierenden eine Menge Möglichkeiten, um völlig in das akademische Leben einzutauchen, ohne dabei soziale Interaktionen zu vernachlässigen. Die meisten Einrichtungen und Ressourcen befinden sich in unmittelbarer Nähe und sind schnell zugänglich. So können Studierende nach Seminaren oder Vorlesungen umgehend die Bibliothek oder das Labor nutzen. Und sollten sich zwischen den Veranstaltungen zeitliche Lücken ergeben, können diese in der Mensa bei einem Mittagessen oder mit anderen Freizeitmöglichkeiten, wie z.B. einem Spaziergang im Botanischen Garten überbrückt werden. Der interdisziplinäre Aspekt ist besonders hervorzuheben. Sprachwissenschaftler, Juristen, Mediziner oder Naturwissenschaftler, nur um einige Forschungsschwerpunkte zu nennen, können während ihrer Freizeit zusammenkommen und sich über ihre Fachgebiete austauschen. Die Möglichkeit, studentische Organisationen, Veranstaltungen und Aktivitäten im Vorbeigehen kennenzulernen und sich ihnen anzuschließen, fördern die Teilhabe und stärkt das Gemeinschaftsgefühl der Studierenden.

Campus vs. Stadtuniversität – eine persönliche Entscheidung

Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Infrastrukturen der Universitäten verdeutlicht, dass beide Modelle spezielle Vorzüge bieten.

Studierende einer typischen Campusuniversität wie der RUB genießen viele Vorteile und profitieren von dieser Infrastruktur. Die Pendelzeiten zwischen den Fakultäten, Bibliotheken, der Verwaltung und Mensa sind minimal und die Wege schnell zu Fuß bewältigt. Durch einen Campus kann ein enges Gemeinschaftsgefühl zwischen Studierenden, Dozenten und Mitarbeitern entstehen. Der Fokus auf das akademische Umfeld bietet optimale Lernbedingungen für Studierende und der interdisziplinäre Austausch fördert die Zusammenarbeit zwischen den Fachbereichen.

Die Stadt als akademischer Raum bietet den Studierenden in der Regel eine breitere Palette an Möglichkeiten am kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben der Region teilzunehmen. Studierende sind stärker in das städtische Umfeld eingebunden, wodurch sich eine Vielzahl von Vernetzungsmöglichkeiten über den akademischen Werdegang hinaus ergeben kann. Die Dynamik innerhalb der Stadt schafft abwechslungsreiche visuelle Eindrücke und die ästhetische Vielfalt erzeugt eine inspirierende Atmosphäre. Abschließend sei betont, dass das akademische Angebot, die Bildungsqualität und die Forschungsmöglichkeiten unabhängig von der Infrastruktur der Universität sind und ein erfolgreiches Studium durch beide Arten gewährleistet werden kann. Die Entscheidung hängt von den individuellen Bedürfnissen und Präferenzen der Studierenden ab.

Architektur und Palimpsest

In den Pfingstferien 2023, in der schönsten Zeit der Natur, hatten meine Kommilitonen und ich die besondere Möglichkeit, nach Breslau zu fahren. An einem sonnigen Samstag stiegen wir in den Bus ein und begannen unsere wunderbare Reise. Von Anfang an hat Breslau (oder auf polnisch Wrocław) uns mit perfektem Wetter empfangen. Die Stadt zeigte uns ihre schönen Straßen, gemütliche Cafés und bunte Architektur, die vielfältige und schwierige Geschichte von Breslau erzählen können. Dieser Kontrast der Stile hat mich begeistert, deswegen habe ich mich entschieden, meine Enthusiasmus mit allen Leserinnen und Leser dieses Blogs zu teilen.

Ich möchte mit einem kurzen Einblick in die Geschichte von Breslau beginnen. Sie ist geprägt durch wechselhafte politische Abhängigkeit, Religionskriege und tragische Vertreibungen. Die ersten schriftlichen Erwähnungen der Stadt findet man schon im Jahre 1000, als Breslau von Otto III. und Bolesław I. unter dem ersten Namen der Stadt gegründet wurde: Vratislavia. Im Jahr 1241 wurde die Stadt bei der mongolischen Invasion signifikant zerstört. Im Jahr 1335 fiel Schlesien unter die Böhmische Krone. Unter der Herrschaft der Böhmen erfuhr Breslau seine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit. Stadt und Region unterhielten wirtschaftliche Beziehungen mit fast ganz Europa: Kaufleute aus Krakau, italienische Bankier, regelmäßige Waren- und Menschenverkehr von West nach Ost. Ab 1526 wurde Breslau ein Teil der Habsburgermonarchie. In dieser Zeit entwickelte sich die Baukunst, die neue Arten von großartigen Städten errichtete, die den Anforderungen der humanistischen Patrizier entsprachen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann die Blütezeit des Barocks nach dem Dreißigjährigen Religionskrieg zwischen Katholiken und Protestanten (1618-1648).

Im Jahr 1741 wurde Breslau Preußen einverleibt. Zu dieser Zeit begann in der Architektur die Epoche des Klassizismus in Breslau. Während des Marschs von Napoleons Truppen durch Europa wurden die Breslauer Befestigungsanlagen abgerissen. Das hat zu großen Änderungen in der Stadtplanung geführt: Die Bevölkerung stieg stark an, da Vorstädte in das Stadtgebiet integriert wurden.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden die meisten Gebäude beschädigt oder zerstört. Am Ende des Kriegs wurde Breslau Polen eingegliedert. Die deutsche Bevölkerung wurde vertrieben und durch polnische Bevölkerung ersetzt. Während des Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit wurden Gebäude in der Innenstadt mit der Berücksichtigung der historischen Charakters aufgebaut.

Schon der kurze Überblick zeigt uns, wie bunt und vielfältig die Geschichte Breslaus war und wie großen Einfluss sie auf die Architektur hatte. Jede Epoche, jede Herrschaft brachte etwas Neues zur architektonischen Vielfalt der Stadt, was diese zum Palimpsest machte. Im direkten Sinn ist Palimpsest ein antikes oder mittelalterliches Schriftstück, von dem der ursprüngliche Text abgeschabt oder abgewaschen und das danach neu beschriftet wurde, im übertragenen Sinn ist es etwas, das von etwas Neuem überlagert wird, ohne dabei völlig zu verschwinden. Das charakterisiert perfekt die architektonische Mischung, die der Stadt eine besonderes Kolorit gibt.

Was sofort ins Auge fällt, ist der Kontrast zwischen Gotik und Konstruktivismus. Man geht eine alte Straße entlang und genießt elegante Ornamente auf den Fassaden, aber ein paar Meter weiter stößt man auf ein monumentales Denkmal der 20 Jahrhunderts.

Oder umgekehrt: eine typische, graue und melancholische Straße aus der Mitte des 20 Jahrhunderts, aber am Ende sieht man den wundervollen Wasserturm, der am Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Anmutung einer mittelalterlichen Burg gestaltet wurde.

Natürlich gibt es auch verlassene Gebäude, die große Renovierung oder Umbau brauchen.

Aber am meisten begegnet man schönen, gut und mit Liebe gepflegten Gebäuden.

Manchmal sieht man beides zusammen.

Der beeindruckendste Platz von Breslau ist selbstverständlich der Große Ring oder rynek auf polnisch. Dieser mittelalterliche Marktplatz im Zentrum der Stadt bietet Stile für jeden Geschmack, vom Rathaus im gotischen Stil bis zu den Gebäuden rund um den Platz im Stil von Renaissance und Barock bis hin zu Jugendstil.

Wenn man sich präziser über die Arten jede Epoche der Geschichte der Stadt informieren möchte, dann kann man ein paar Gebäude des Barock besichtigen, wie die Namen-Jesu-Kirche (Kościół Imienia Jezusa); der gotische Stil ist durch die Elisabethkirche am Großen Ring vertreten. Ein Beispiel des Klassizismus ist die Alte Börse am Salzring (Plac Solny). Was wirklich einzigartig und erwähnenswert in Breslau ist, ist die Jahrhunderthalle (Hala Stulecia), ein Muster der avantgardistischen Kunst.

Breslau ist eine einzigartige Stadt. Bunte, farbenfrohe, aber gleichzeitig manchmal traurige Orte haben mich bis ins Innerste berührt. Das Schicksal der Stadt ist in ihren Bauwerken widergespiegelt und zeigt uns, wie kompliziert ihre Geschichte war. Mit den Fotos kann man versuchen, Breslau zu zeigen, aber um die Seele der Stadt zu spüren, soll man selbst dorthin fahren, was ich nur empfehlen kann.

Quellen:
Kaczmarek, R., Breslau, Parma Press, 2016.
Fotos aus eigenem Archiv: Xenia Ulyakin, 2023.

„Foie gras, Austern und Gender-Freiheiten“: LGBTQ in Russland heute

Offen homosexuell zu leben ist in Russland gefährlich: Nach der Verschärfung des sogenannten Propagandagesetzes im Dezember 2022 und dem Verbot der „internationalen LGBTQ-Bewegung“ im Lande im November 2023 sind mehrere Organisationen, Vereine, Massenmedien und Einzelpersonen gefährdet. Gleichgeschlechtliche Paare, Transgender-Menschen oder Männer in Frauenkleidung – selbst die Markierung „18+“ hilft vor den Strafen in diesen Fällen nicht mehr. Aber es war nicht immer so. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war Russland eines der ersten Länder, die das Gesetz zur Verfolgung von Homosexuellen aufhob. Die 1990er und frühen 2000er Jahre wurden zu einer Zeit der freien Äußerungen im kulturellen Bereich, im Showbusiness, in der Zivilgesellschaft und im Alltag. Jedoch schrumpfte der Käfig um die queere Community nach und nach und scheint sich nun vollständig geschlossen zu haben. Etwa seit Mitte der 2010er nutzt der Kreml jede Möglichkeit, den Westen – oder „Gayropa“ – mit seinen „liberalen Freiheiten“ und „Gender-Perversionen“ als Feind zu inszenieren. Mit dem Ziel, im Gegensatz dazu „traditionelle Werte“ und „Moralnormen“ zu verteidigen und das Land im Inneren zusammenzuhalten.

In diesem Bericht wird der Versuch unternommen, die Ereignisse der letzten Jahre abzudecken, die (massen)mediale Darstellung queerer Menschen im Lande zu analysieren und einen Überblick über die aktuelle Situation der LGBTQ-Gemeinschaft in Russland zu verschaffen.

Das neue freie Land?

Homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen wurden in Russland 1993 legalisiert, seit 1999 steht Homosexualität nicht mehr auf der Liste der Geisteskrankheiten. Die 1990er und der Anfang der 2000er Jahre war in Russland von relativer Freiheit für Medien, zivilgesellschaftliche Organisationen, kulturelle Einrichtungen, Künstler:innen und die queere Community geprägt. Heute ist es kaum vorstellbar, aber 1997 stand das Lied „Golubaja luna“ („Blauer Mond“)1 von Boris Moiseev und Nikolaj Trubač, das das Thema Homosexualität berührte, an der Spitze der russischen Charts; Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre erfreute sich die ukrainische Drag Queen Verka Serdjučka2 im Lande großer Beliebtheit; und 2003 schickte Russland das Frauenduett t.A.T.u., das das Image der „Lolita-Lesben“ prägte, zum Eurovision Song Contest.3 Und das sind nur die markantesten Beispiele aus dieser Zeit. Neben der Vielfalt im Showbusiness, einer lebendigen Drag-Szene nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in anderen Städten, zahlreicher thematischer Clubs und Bars, begannen viele Aufklärungsorganisationen und Beratungsstellen ihre Arbeit. Zudem erschienen mit der Entwicklung des Internets und sozialer Netzwerke unzählige themenbezogene Online-Foren, Selbsthilfegruppen und Informationsseiten.4

Heutzutage kann behauptet werden, dass eine solche Entwicklung damals sehr vielversprechend war: Russland war eines der ersten Länder der ehemaligen Sowjetunion, das Gesetzesänderungen vornahm, war offen für eine Zusammenarbeit mit ausländischen Organisationen und bot privaten Unternehmen die Möglichkeit, den Telekommunikationssektor zu entwickeln. Die ersten postsowjetischen Länder, die die Gesetzgebung änderten und die Kriminalisierung von Homosexualität abschafften, waren die Ukraine (1991), Estland (1992), Lettland (1992), Moldau (1992), Litauen (1993) und Russland (1993). Eines der letzten war Armenien (2003). In zwei Ländern des postsowjetischen Raums gelten homosexuelle Beziehungen bis heute als illegal – in Usbekistan und Turkmenistan.

Homophobie als Politik des Staates

Allerdings führten seit ungefähr Mitte der 2000er Jahre das erneut gestiegene Interesse an Religionen (zunehmender Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche und in einigen Regionen muslimischer Organisationen), die sowjetische Vergangenheit mit ihrer aus dem Gulag stammenden kriminellen Kultur und Einstellung zu Homosexualität als „Erniedrigung“ und „Entmenschlichung“ sowie die staatliche „Propaganda traditioneller Werte“ und der Widerstand der Regierung gegen „liberale und westliche Freiheiten“ zu einer neuen Welle von Homophobie.

Viele Forschende erklären diese Entwicklung hauptsächlich mit externen Faktoren. Der britische Politikwissenschaftler Andrew Foxall führt diese Wende vor allem auf die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union nach einer Reihe liberalisierter „Farbrevolutionen“ im postsowjetischen Raum zurück: Die Rosenrevolution in Georgien 2003, die Orangene Revolution in der Ukraine 2004 und die Tulpenrevolution in Kirgisistan 2005. Laut Foxall änderte sich der ideologische Vektor Russlands am Ende der zweiten Amtszeit Vladimir Putins (2004–2008) und nahm in seiner dritten Amtszeit (2012–2018) volle Fahrt auf.5 In den späten 2000er Jahren war das Wort „Gayropa“ (ernst oder ironisch gemeint) bereits im alltäglichen Sprachgebrauch der russischen Medien und der Online-Community verankert. „Gender-Freiheiten“ und die „homosexuelle Bedrohung“ werden im Lande zum Symbol des westlichen „Kulturimperialismus“, und Russland spiele in diesem Prozess eine „besondere Rolle“. Die Forschenden Tatiana Riabova und Oleg Riabov schreiben:

Russian anti-Western discource represents European civilization as currently undergoing a process of degeneration. „Perversion of the normal gender order“ is cited as obvious proof in support of this claim. With ist negative evaluation of Europe, the concept of „Gayrope“ carries out a compensatory function for Russian identity, not only helping to rehabilitate the notion of Russianness but also engendering a new version of the messianic idea of Russia as the bulwark of Christianity and bastion of traditional values called upon to save Europe and the world. In addition, „Gayrope“ is involved in the legitimation of the political order, since the changes in the European gender order are depicted as representing a threat to Russia, which enables the current authorities to position themselves as the rightful custodians of the country’s „normality“.6

Im Jahr 2014 belegte das Wort „Gayropa“ den 9. Platz in der Kategorie „Anti-Sprache“ des Wettbewerbs „Slovo goda“ („Wort des Jahres“), der von 2007 (und bis 2022) jährlich von der russischen oppositionellen Zeitung Novaja Gazeta durchgeführt wurde.7

Darüber hinaus kann man sagen, dass Homophobie in Russland ihre „regionalen Besonderheiten“ hat. 2017 veröffentlichte Novaja Gazeta die ersten Berichte zu Verschleppungen, Foltern und Ermordungen von schwulen Männer in Tschetschenien.8 Diese Publikationen stießen nicht nur im Lande, sondern auch in weltweiten Medien auf große Resonanz, woraufhin eine ganze Reihe von Publikationen, multimedialen Projekten und Filmen zu diesem Thema folgte.9 Obwohl zahlreiche Menschenrechtsorganisationen wie Rossijskaja LGBT-Set’ (Russisches LGBT-Netzwerk)10 davor schon darauf hingewiesen haben, dass es in der Region Gefängnisse gibt, in denen schwule Männer, lesbische Frauen und Transpersonen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität außergesetzlich festgehalten werden, kann die Reaktion des Staates auf die Publikationen eher als bescheiden und vorsichtig bezeichnet werden. Die tschetschenische Regierung – der Präsident der Republik Ramzan Kadyrov und der Regierungssprecher Al’vi Karimov – behaupten nach wie vor, dass es „in der tschetschenischen Republik keine ,Schwuchteln‘“ gibt und „man niemanden festnehmen oder unterdrücken [muss], den es in [der] Republik gar nicht gibt“.11 Bisher gilt Tschetschenien als die schwierigste Region in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte, die Einstellung gegenüber der LGBTQ-Gemeinschaft und die Zugänglichkeit für Menschenrechtsverteidiger:innen. Wiederkehrendes Sujet der letzten Jahre: Die durch die tschetschenische Polizei gezwungene Rückkehr in die Republik, in die Elternhäuser entlaufener junger Menschen (nicht nur Homosexueller, sondern beispielsweise auch Mädchen und Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden), ihre „Umerziehung“ und Reue vor laufender Kamera und Anerkennung eigener „Fehler“.12 Das Ziel dieser brutalen Praxis ist nichts anderes als Angsterzeugung, moralisches Niederhalten und Herrschaftssicherung. Beunruhigende Nachrichten über Verfolgungen und „Schauprozesse“ kommen jedoch nicht nur aus Tschetschenien, sondern auch aus anderen Regionen: Dagestan, Inguschetien, dem Fernen Osten usw.13

„Wählst du ein solches Russland?“: Mediale Darstellung

Die (massen)mediale Darstellung queerer Menschen in Russland hat in den letzten Jahren in mehrere Richtungen stattgefunden. Eine Richtung stellte queere Menschen als einen gewöhnlichen Teil der Gesellschaft dar, etwa in populären Fernsehserien, Filmen und auf der Theaterbühne. Die Regisseur:innen machten sich nicht über sie lustig oder verurteilten sie. Im Gegenteil, es wurde versucht, reale Situationen widerzuspiegeln, mit denen offen lebende LGBTQ-Menschen auf die eine oder andere Weise im Laufe ihres Lebens konfrontiert sind. Manchmal, so die Handlung, werden sie allein aufgrund ihrer „nicht-traditionellen“ Orientierung zu Opfern (z.B. Film „Vesel’čaki“/„Jolly Fellows“, 2009; Theaterstück „Vse ottenki golubogo“/„Alle Blautöne“, Satirikon-Theater, 2015; Serie „Nulevoj pacient“/„Patient Null“, 2022), manchmal zeigen andere Protagonist:innen eine zweideutige Haltung gegenüber ihnen – von Hass und Verurteilung bis hin zu Mitleid und Akzeptanz (z.B. Serien „Ottepel’“/„Tauwetter“, 2013; „Ėpidemija“/„Epidemie“, 2019; „Fišer“/„Fischer“, 2023), manchmal wird die Existenz queerer Menschen als etwas ganz Natürliches dargestellt („Aktrisy“/„Schauspielerinnen“, 2023).

Mutige und vielversprechende Versuche, die Einstellung gegenüber LGBTQ zu normalisieren, enden jedoch manchmal in Skandalen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Werbekampagne der russischen Supermarktkette VkusVill aus dem Jahr 2021 mit dem Titel „Rezepte des Familienglücks“. In dieser Werbung wurden neben glücklich lächelnden heterosexuellen Paaren, Familien mit und ohne Kinder, alleinziehenden Müttern und älteren Menschen auch zwei junge Frauen abgebildet, die offen lesbisch sind. Die Botschaft der Kampagne war klar: Die Kunden von VkusVill sind zwar unterschiedlich, aber sie alle sind mit den von VkusVill verkauften Lebensmitteln zufrieden und in ihrem Leben glücklich. Die Firma, die sich von den Unternehmensgiganten durch die Bio-Qualität ihrer regionalen Produkte absetzt, wollte sich auch beim Thema LGBTQ als fortschrittlich und tolerant darstellen. Um Gefahren aufgrund des Verbots der „LGBTQ-Propaganda unter Minderjährigen“ zu vermeiden, haben die Autor:innen der Kampagne das entsprechende Bild mit dem Vermerk „18+“ versehen. Das Netz reagierte rasch mit zahlreichen Kommentaren – von Begeisterung und Lob bis hin zu Hass und Boykottaufrufen. Ein Teil der Kund:innen feierte die Kette und die beiden Frauen aus der Werbung für ihren Mut. Der andere Teil reagierte mit wütender Kritik, Hasskommentaren und direkten Drohungen gegen die beiden Protagonistinnen und die Verantwortlichen bei VkusVill. Als Folge zog das Unternehmen drei Tage nach der Veröffentlichung der Werbung die umstrittenen Bilder zurück. Die Geschäftsleitung wandte sich mit einem Brief an die Kundschaft und bedauerte darin, „die Gefühle einer großen Zahl von Kunden, Mitarbeitern und Partnern verletzt zu haben“. Die Publikation sei ein Fehler gewesen, der auf die „Unprofessionalität einiger Mitarbeiter“ zurückzuführen sei.14 Dadurch geriet das Unternehmen sowohl in der konservativen Öffentlichkeit als auch bei liberal gesinnten Bürger:innen in Verruf.

Eine andere Richtung der Darstellung von queeren Menschen ist sehr eng mit der Politik des Staates verbunden und nutzt ein sehr stereotypes Bild von Homosexuellen aus, verspottet sie, stellt sie als eine Art Narren dar, als fremdartige Elemente der Gesellschaft. Beispiele hierfür sind mehrere Werbespots, die entweder im föderalen Fernsehen ausgestrahlt oder von staatsnahen Strukturen erstellt wurden und in sozialen Netzwerken viral geworden sind. Das erste Beispiel ist die im Jahr 2021 im Staatsfernsehen verbreitete Werbung vom Speiseeis „Vologodskij plombir“ mit dem Slogan „Natural’no!“ (kann mit „Natürlich“ und „Naturelles [Eis]“ übersetzt werden).15 Die Werbung hat mehrere Bedeutungsebenen: eine visuelle, symbolische und sprachliche. Die visuelle Gestaltung betont Gegensätze: ein Protagonist ist blond, groß, in Weiß angezogen, maskulin aussehend – ein „typischer Russe“. Ein anderer dagegen wird lächerlich dargestellt: er hat ein buntes Wams, ist geschminkt und gekünstelt – vermutlich ein „Franzose“. Dies ist ein klassisches dichotomes Bild von „Freund/unser Mensch“ und „Feind/Ausländer/Fremder“. Der „Russe“ hat ein „normales“ weißes Pferd, neben dem „Franzosen“ steht ein kleines regenbogenfarbenes (wie aus einem fremden Märchen erschienenes) Einhornpony. Es wird eine weiße Speiseeissorte aus natürlichen Zutaten beworben und im Gegenzug ein regenbogenfarbenes Eis zweifelhafter Herstellung gezeigt. Die Regenbogenfarbe und das Einhorn werden hier als allgemein bekannte Symbole der LGBTQ-Community verwendet. Außerdem kann dies auch als eine Anspielung an ein anderes in Russland hergestelltes Eis – „Raduga“ („Regenbogen“ der Firma Čistaja linija) – gesehen werden. Dieses Eis ist im Jahr 2020 berühmt geworden, als die Duma-Abgeordnete Ekaterina Lachova in einer Videokonferenz mit dem Präsidenten Putin die knallbunte Werbung dieser Eismarke als „Homo-Propaganda“ kritisiert hat.16 Das in der Werbung mehrmals verwendete Wort „natural’no“/„natural’noe“ betont die „traditionelle“ Orientierung des „Russen“: Als „Natural“ wird im Russischen umgangssprachlich ein Heterosexueller bezeichnet. Die Botschaft ist damit klar: Diese Eismarke ist für „unsere Leute“, für „Naturals“, für diejenigen, die die „traditionellen“ Werte teilen.

Ein anderes Beispiel ist ein anonymer Werbespot, der während des Präsidentschaftswahlkampfes im März 2018 im Netz verbreitet wurde.17 Der Spot betonte, wie wichtig es sei, wählen zu gehen. Was passiert, wenn man nicht ins Wahllokal geht, zeigt das Video: Hyperinflation, Erhöhung des Wehrdienstalters, Beschränkung der Zahl von Toilettenbesuchen am Tag. Diskriminierend werden dabei zwei Gruppen dargestellt, die der Protagonist in seinem Alptraum sieht: Ein Schwarzer Soldat, der zusammen mit einem Offizier kommt, um den Protagonisten in die Armee einzuziehen, und ein Homosexueller, der nun in der Wohnung des Protagonisten wohnt. Beim letzten Fall geht es im Video um ein Gesetz, das jede Familie verpflichtet, einen Schwulen „in ihre Obhut“ zu nehmen.18 Das Ganze motiviert den Protagonisten ins Wahllokal zu gehen. Obwohl, wie bereits erwähnt, die Autor:innen des Videos nicht bekannt sind, ist es offensichtlich, dass es durch die Ausnutzung der lebhaftesten Stereotypen (und die Teilnahme des bekannten russischen Serienschauspielers Sergej Burunov) die Aufmerksamkeit der Wähler:innen auf sich ziehen und sie motivieren soll, für eine Zukunft ohne „liberale Werte“ und „Gender-Freiheiten“ zu stimmen.

Ein weiteres Beispiel ist ein wiederum im Netz verbreitetes Video, das im Juni 2020 für die Teilnahme an der Abstimmung über die Verfassungsänderungen werben sollte. Diese Änderungen (für die dann tatsächlich abgestimmt wurde) sollten u.a. dem Präsidenten Putin zwei weitere Amtszeiten ermöglichen und die Ehe als „Vereinigung von Mann und Frau“ in der Verfassung verankern. Die Autor:innen dieses Videos sind bekannt: die Föderale Nachrichtenagentur und die Mediengruppe „Patriot“ (unter der Leitung vom russischen Oligarchen Evgenij Prigožin).19 Das Video zeigt, wie schwule Paare Kinder in Russland adoptieren könnten, wenn die Verfassungsänderungen vom Volk nicht unterstützt werden: Ein Junge im Grundschulalter wird von einem freundlichen Adoptivvater aus dem Kinderheim abgeholt, auf die Frage des Kleinen, wo seine neue Mama sei, zeigt der neue Papa auf einen anderen Mann, der sich feminin bewegt, geschminkt ist und dem Kind ein Kleidchen schenkt. Die Mitarbeiterin des Kinderheims spuckt vor Wut auf den Boden, kann aber anscheinend nichts ändern. Eine Stimme im Hintergrund fragt: „Wählst du ein solches Russland?“. Die Botschaft des Videos soll auch direkt betonen: Es sind „Fremde“ unter uns, ein russisches Kind bleibt lieber in einem staatlichen Kinderheim, als dass es von so einer „Familie“ adoptiert wird. Die Werbung ist sehr schnell viral gegangen und löste u.a. Empörung unter zahlreichen liberal gesinnten russischen Netznutzer:innen aus. Viele haben mit dem Hashtag #давыберу („ja, wähle ich“) ihre kritischen Äußerungen markiert.20 Andere haben mit dem ironischen Argument reagiert: Viele russische Kinder wachsen in „gleichgeschlechtlichen Familien“ – und zwar nur mit einer (alleinerziehenden) Mutter und Oma auf.21

Zusammenfassend kann behauptet werden: Alle Versuche liberaler Journalist:innen, Blogger:innen, Aktivist:innen und unabhängiger Filmemacher:innen, die Themen der queeren Community in ihren Werken und Publikationen anzusprechen, werden durch das primitive, übertriebene und stigmatisierende Bild von Menschen mit „nicht-traditioneller Orientierung“ in den russischen Massenmedien zunichte gemacht.

Gesetzliche Regulierung

Zahlreiche erst vor kurzem verabschiede Gesetze regulieren – beschränken oder gar blockieren – die Tätigkeit von LGBTQ-Organisationen und Aufklärungsinitiativen sowie die Forschung im Bereich Gender Studies und Geschichte der queeren Community in Russland. Das Gesetz über „ausländische Agenten“ ist eine der wichtigsten und strengsten Regelungen. Als „ausländische Agenten“ können seit 2012 NGOs, seit 2017 Massenmedien und seit 2020 Privatpersonen in Russland genannt werden, die politisch und gesellschaftlich tätig sind und finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten. Organisationen, Medien und Personen, die unter das Gesetz fallen, müssen sich beim Justizministerium registrieren und die entsprechende Markierung überall verwenden. Das stigmatisierte, aus der Sowjetzeit stammende „Agenten“-Label ist nicht das einzige Problem: Für die betroffenen Organisationen oder Personen bedeutet dies eine erhebliche Einschränkung ihrer Tätigkeit, strengere Kontrollen und Überwachung von Arbeitsabläufen, Verlust von Sponsor:innen und Geschäftspartner:innen. Viele in Russland tätige LGBTQ-Organisationen sind bereits als „ausländische Agenten“ eingestuft worden: das Russische LGBT-Netzwerk, die LGBT-Gruppe Vychod in St. Petersburg, die LGBT+-Initiative Revers in Krasnodar, das Moskauer Gemeindezentrum für LGBT+-Initiativen, das Ressourcenzentrum für LGBT in Ekaterinburg, die Trans-Initiativgruppe T-Action in St. Petersburg, die öffentliche LGBT-Organisation Irida in Samara, die autonome gemeinnützige Organisation sozialer und sportlicher Programme Sportivnoe LGBT-soobščestvo, das Internationale LGBT-Filmfestival Bok-o-Bok in St. Petersburg, die Hetero- und LGBT-Allianz für Gleichberechtigung, die Menschenrechtsorganisation Radužnaja associacija und andere Organisationen sowie auch Privatpersonen, darunter Aktivist:innen, Journalist:innen und Jurist:innen, die sich mit dem Schwerpunkt beschäftigen.22

Ein anderes restriktives Gesetz existiert seit 2013 als „Verbot der Förderung nicht-traditioneller sexueller Beziehungen“ gegenüber Minderjährigen. Die seit Dezember 2022 geltende Verschärfung weitet dieses Verbot auf Erwachsene aus. Die Möglichkeit etwa für Medien oder queere Organisationen, durch eine Kennzeichnung entsprechender Inhalte als „18+“ einer Bestrafung zu entgehen, entfällt somit. Zusätzlich ist es durch die Verschärfung des Gesetzes strafbar, Minderjährige über Geschlechtsangleichungen aufzuklären. So dürfen an sie keinerlei Informationen weitergegeben werden, die sie „zu einem solchen Schritt ermutigen“ könnten.23 Die Gesetzesverschärfung zeigte bereits erste Auswirkungen: Einige kleine Verlage stoppten die Auslieferung russischer Ausgaben von queeren Romanen, einige Organisationen stellten ihre Arbeit ein. Ein Beispiel dafür ist der Verlag Popcorn Books, der in den vergangenen Jahren nicht nur ausländische queere Literatur ins Russische übersetzte, sondern auch russische Romane zur queeren Thematik veröffentlichte. Im Jahr 2021 wurde eine vom Popcorn Books herausgebende schwule Liebesgeschichte „Leto v pionerskom galstuke“ („Ein Sommer im Pionierhalstuch“) von Katerina Silvanova und Elena Malisova in Russland zum Beststeller. Nach Angaben vom Verlag wurden insgesamt über 300.000 Exemplare der romantischen Geschichte zweier junger Männer, die sich im Pionier-Sommerlager kennenlernen, verkauft, was zu einem beispiellosen Erfolg eines solchen Romans geworden ist. Neben diesem Erfolg erreichten die beiden Autorinnen massive Drohungen seitens des konservativ eingestellten Publikums: Sie mussten in Folge Russland verlassen. Mittlerweile wurden sie zu „ausländischen Agentinnen“ erklärt.24 Der Verlag stoppte die Veröffentlichung neuer Bücher mit LGBTQ-Themen, zog alle bereits erschienenen Publikationen aus dem Verkauf und beschränkte sich auf die Herausgabe harmloser Werke im Genre Young Adult.

Nach den Angaben vom Portal Novaja Gazeta Evropa erstellten die russischen Sicherheitskräfte von April bis Juni 2023 33 Protokolle, in denen Fälle von „Demonstration“ von LGBTQ-Inhalten erfasst wurden (es ist mindestens fünfmal mehr als im Durchschnitt in den vergangenen zehn Jahren).25 Wer also in Werbung, Medien- und Online-Inhalten, Büchern, Filmen und Theateraufführungen LGBTQ und Geschlechtsangleichung thematisiert (oder gar positiv darstellt), riskiert Strafen. Ein Verstoß gegen das Gesetz kann Bürger:innen bis zu 200.000 Rubel (etwa 2.025 Euro) kosten. Unternehmen und Organisationen droht eine Geldstrafe von bis zu 5 Millionen Rubel (50.620 Euro). Ausländer:innen, die gegen das Gesetz verstoßen, droht eine Ausweisung aus Russland oder 15 Tage Haft.

Außerdem richtet sich das neu formulierte Gesetz auch gegen die „Propaganda von Pädophilie“, d.h. Pädophilie wird im Gesetzestext praktisch mit Homosexualität und Transgender gleichgesetzt. Dies dürfte die Stigmatisierung weiter verstärken. Das Gesetz (das wohl als ein „Gummiparagraph“ bezeichnet werden kann) gibt dem Strafverfolgungsamt uneingeschränkte Befugnisse und macht es dem Sicherheitsapparat möglich, schon bei kleinsten Vergehen strafrechtlich vorzugehen. Weil das Gesetz sehr schwammig und nebulös formuliert ist, könnte es auf alle möglichen Handlungen angewendet werden – ob auf schwule und lesbische Liebesgeschichten in Kinofilmen oder auf Fotos auf privaten Seiten in sozialen Netzwerken. Unklar bleibt, ob es zum Verbot einiger russischen Klassiker, z.B. Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ oder Fedor Dostoevskijs Roman „Die Dämonen“, führen kann.

Im Juli 2023 hat Präsident Putin ein Gesetz unterzeichnet, das Geschlechtsangleichungen von Trans-Personen verbietet. Das Gesetz ist damit in Kraft und verbietet alle medizinischen Eingriffe, die darauf abzielen, „das Geschlecht einer Person zu ändern“. D.h. Transmenschen haben keinen Zugang mehr zu Hormonbehandlungen und operativen Eingriffen. Es ist nun nicht mehr möglich, den Geschlechtseintrag im Pass ändern zu lassen. Darüber hinaus wird es Transmenschen verboten, Kinder zu adoptieren, die Vormundschaft für diese zu übernehmen oder Pflegekinder aufzunehmen.26

Am 30. November 2023 hat das Oberste Gericht Russlands die „internationale LGBTQ-Bewegung“ als „extremistisch“ eingestuft und im Lande verboten. Was genau das Verbot für alle Vereine, Verbände, Medien und Privatpersonen bedeuten soll, wird man in näherer Zukunft sehen. Eine weitere Gesetzesinitiative der russischen Regierung zielt darauf ab, den Feminismus als „gefährliche, schädliche, extremistische Ideologie“ anzuerkennen und die „Propaganda von Ideen der Child-Free-Bewegung“ zu verbieten.27

Queere Community in Russland: Hat sie überhaupt eine Zukunft?

Bereits in den vergangenen Jahren sahen sich LGBTQ-Personen in Russland großem Druck ausgesetzt. Mit der Gesetzesverschärfung wird die queere Community weiter in die Unsichtbarkeit gedrängt. Viele prominente Aktivist:innen und Journalist:innen fühlten sich gezwungen, Russland inzwischen zu verlassen. Darüber hinaus erschweren solche Gesetze und Verbote die Arbeit vieler NGOs bei der Prävention und Behandlung sexuell übertragbarer Infektionen, vor allem HIV/AIDS. Statistiken zeigen, dass es im vergangenen Jahr in Russland etwas mehr als 1 Million HIV-infizierte Menschen gab. Die HIV-Neuinfektionsrate ist in Russland besonders hoch (mit rund 40,2 Infektionen je 100.000 Einwohner:innen ist sie die höchste in Europa).28 Auch wenn die Krankheit durch Medikamente längst nicht mehr so ansteckend und tödlich wie früher sein kann, bleiben Diskriminierung der Betroffenen und Tabuisierung des Themas im Lande alltäglich.29

Selbst auf die Gefahr hin, sich den Titel „unerwünschte Organisation“ und ein Tätigkeitsverbot in Russland zuzuziehen, unterstützen viele internationale (und deutsche) Kolleg:innen nach wie vor die Arbeit russischer Menschenrechtler:innen und LGBTQ-Aktivist:innen, und helfen bei der Organisation von Programmen für Geflüchtete. Das Russische LGBT-Netzwerk ist Mitglied der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA); der Quarteera-Verein, eine der größten Organisationen russischsprachiger Lesben, Schwuler, Bisexueller, Trans*-Personen (und ihrer Freunde) in Deutschland, bietet Migrant:innen Rechtsberatung, Übersetzungsdienste, psychologische Unterstützung und vieles mehr; solche Organisationen und Medien wie Amnesty International, Reporter ohne Grenzen, Bundeszentrale für politische Bildung, dekoder, N-Ost u.a. berichten über die Situation in der Region, bringen Journalist:innen und Forschende zusammen, liefern hochwertige und rechtzeitige Expertise.

Homophobe Äußerungen der russischen Regierung, des Präsidenten und der Vertreter der Russischen orthodoxen Kirche begleiten auch den Krieg in der Ukraine. In seiner Rede vom 16.03.2023 „Die Ukraine, die Sanktionen und die Lage“ sagte Putin: „Ich verurteile diese Leute mit ihren Villen in Miami oder an der Côte d’Azur, die auf Foie gras, Austern oder sogenannte Gender-Freiheiten nicht verzichten können, keineswegs. Das ist gar nicht das Problem, aber ich sage es noch einmal, viele dieser Leute leben geistig dort und nicht hier, nicht mit unserem Volk, nicht mit Russland“.30 Auch mit dieser (vorgetäuschten) Toleranz wird es immer wieder betont, dass die „sogenannten Gender-Freiheiten“ fremde Elemente für das Leben in Russland sind und Homosexualität bzw. die queere Community als eine Abart des dekadenten, im Niedergang begriffenen Westens, eine Unterminierung moralischer Normen, im Lande nicht akzeptiert werden kann. Heutzutage wird dieses Thema auch in mehreren Reden des russischen Patriarchen Kirill betont und verschärft: Den Kampf im Donbas stellt das kirchliche Oberhaupt Russlands als „Kampf gegen die Legalisierung von Schwulenparaden in der Region“31 dar. Eine Kontinuität der Rhetorik mit dem „Gayropa“-Narrativ und dem dadurch konstruierten Bild einer Bedrohung kann also im Laufe der letzten 10 oder gar 15 Jahre beobachtet werden. All das sind die Argumentationsversuche, das eigene Vorgehen zu rechtfertigen und die Bevölkerung um sich zu vereinen.

Gleichzeitig kann behauptet werden, dass Russland und seine LGBTQ-Politik lediglich ein Beispiel dafür sind, wie autoritäre Regime und paternalistische Systeme sich in die Tätigkeit der Zivilgesellschaft und ins Privatleben der Menschen einmischen. Versuche einer solchen Überwachung und Kontrolle sind nicht nur in einigen Ländern des postsowjetischen Raums zu beobachten, sondern auch in anderen Regionen der Welt – in Lateinamerika, Afrika, Asien und sogar einigen europäischen Ländern – zu sehen.

  1. Das Wort „goluboi“ (übersetzt „helles blau“) ist der russische Slang-Ausdruck für schwul. Im Text des Lieds geht es um zwei Brüder, einer hat der Liebe zu Frauen abgeschworen, um sich „in der Einsamkeit des Himmels zu verlieren“. Dabei war der Sänger und Tänzer Boris Moiseev (04.03.1954-27.09.2022) einer der ersten schwulen Sänger in Russland, der sich outete. Mehr zum Thema siehe: Clarke, Kevin: Russlands Wettstreit zwischen Homophobie und Homophilie, in: Queer.de, 02.11.2014[]
  2. Unter dem Künstlernamen Verka Serdjučka, einer grell geschminkten, kitschig angezogen und beleibten Travestiefigur, versteckt sich der ukrainische Sänger, Komödiant und Komponist Andrij Danylko. International bekannt wurde er durch seinen Auftritt beim Eurovision Song Contest 2007, wo er die Ukraine vertrat und den zweiten Platz belegte.[]
  3. Die aktivste Phase des Duetts t.A.T.u. (Julia Volkova und Elena Katina) fiel in die Jahre 1999–2004. Es war ein Projekt des russischen Produzenten Ivan Šapovalov. Die bekanntesten Lieder des Duetts waren „Ja sošla s uma“ (englische Version: „All the Things She Said“), „Nas ne dogonjat“ (englische Version: „Not Gonna Get Us“), „30 minut“ (englische Version: „30 Minutes“). Mehr zum Thema siehe: Pylypchuk, Inga: Homophobie? Russland kann auch anders, in: Welt.de, 18.08.2013[]
  4. Siehe z.B. folgende Quellen: Buyantueva, Radzhana: LGBT-Bewegung und Homophobie in Russland, in: Russland-Analysen, Nr. 349, 16.02.2018, S. 2-5; Andreevskikh, Olga: Social Networking Sites as Platforms for Transgression: Two Case Studies of Russian Women Involved in Bisexual and Transgender Rights Activism, in: Digital Icons. Studies in Russian, Eurasian and Central European New Media, No 19 (2018), pp. 11-39.[]
  5. Vgl. Foxall, Andrew: From Evropa to Gayropa: A Critical Geopolitics of the European Union as Seen from Russia, in: Geopolitics, 24/1, 2017, pp. 174-193.[]
  6. Riabova, Tatiana; Riabov, Oleg: „Gayromaidan“: Gendered Aspects of the Hegemonic Russian Media Discourse on the Ukrainian Crisis, in: Journal of Soviet and Post-Soviet Politics and Society, Vol. 1 (2015), pp. 83-108.[]
  7. Vgl. Archangel’skij, Andrej: Mirozlobie pobedilo. Ob itogach konkursa „Slovo goda“, in: Novaja gazeta, Nr. 143, 2014, S. 18-19.[]
  8. Siehe: Milašina, Elena: Ubijstvo česti, in: Novaja gazeta, 01.04.2017; Gordienko, Irina; Milašina, Elena: Raspravy nad čečenskimi gejami, in: Novaja gazeta, 04.04.2017. Am 04.07.2023 ist die Investigativreporterin Elena Milašina in Tschetschenien zusammengeschlagen und schwer verletzt worden. Seit Jahren gehen die tschetschenischen Behörden mit einer Verleumdungs- und Einschüchterungskampagne gegen Elena Milašina und die Novaja Gazeta vor.[]
  9. Siehe z.B.: Milašina, Elena; Artem’eva, Anna: Acceptance, in: Novaja gazeta, Dezember 2017; Welcome to Chechnya (David France, HBO Films, 2020); Chechen War Against LGBTQ+ People (Karen Šainjan, 2020); Silent Voice (Reka Valerik, 2020, Dublin Films).[]
  10. Siehe Publikationen von Rossijskaja LGBT-Set‘ mit dem Tag #чечня (Stand: 01.07.2023).[]
  11. Brutale Verfolgung und Ermordung von Homosexuellen in Tschetschenien, in: Lesben- und Schwulenverband, 2017; Kadyrov predložil Kanade zabrat’ sebe geev iz Čečni, in: Interfax, 2017; Kadyrow an Biden: Wir haben hier keine Schwulen, in: Queer.de.[]
  12. Bekannt in der Republik aber auch im ganzen Russland sind u.a. die Namen Chalimat Taramova, Idris Arsamikov, Zarema Musaeva, Selima Ismailova geworden. Siehe: Hassel, Florian; Bigalke, Silke: Republik der Angst, in: Tagesanzeiger, 2019; Vilisova, Anna: Čečenku Chalimat Taramovu pytalis’ „lečit’“ ot otnošenij s ljubimoj devuškoj, in: Meduza, 2021.[]
  13. Besonders bekannt wurde der Fall von Julija Cvetkova, russische Künstlerin und Aktivistin aus Komsomolsk am Amur, die 2019 wegen der „LGBT-Propaganda“ und der „Verbreitung von Pornografie“ angeklagt wurde. 2022 wurde sie freigesprochen und hat Russland verlassen. Siehe: Aktivistin für LGBTI- und Frauenrechte in Haft, in: Amnesty International, 2020. Siehe auch weitere Publikationen: Olevskij, Timur: „Oni sčitajut, čto izbit’, ubit’, unizit’ – obščestvenno odobrjaemoe dejanie“, in: Current Time, 2017; „Rossijskaja LGBT-Set’“ potrebovala rassledovat’ prinuditel’nuju otpravku aktivistki v Ingušetiju, in: Kavkazskij uzel, 2021.[]
  14. Vgl. Rescheto, Juri: Werbung mit lesbischem Paar spaltet Russland, in: Deutsche Welle, 2021.[]
  15. Reklama Vologodskogo plombira, 2021.[]
  16. Vgl. Russland: Regenbogen-Eiscreme zu schwul? In: Queer.de, 2020.[]
  17. Russischer Wahlspot: Schwuler in Pflege, in: dekoder, 2018.[]
  18. Der russische Ausdruck „gej na perederžke“ („Schwuler in Obhut“) bezieht sich auf die ehrenamtliche Praxis, obdachlose Haustiere, meist Katzen und Hunde, während der Suche nach einem dauerhaften Zuhause für sie zu herbergen.[]
  19. Werbung „A gde moja novaja mama?“, Facebook-Seite von Moskovskij aktivist, 2020. YouTube hat das Video längst blockiert.[]
  20. V socsetjach chudožniki zapustili akciju #DaVyberu, in: Snob, 2020.[]
  21. Odnopolye sem’i Rossii, in: dzen, 2020.[]
  22. Vgl. Edenborg, Emil: Politics of Visibility and Belonging. From Russia’s “Homosexual Propaganda” Laws to the Ukraine War, London 2017, pp. 76-105.[]
  23. Duma will LGBTQ-Rechte weiter einschränken, in: Tagesschau, 24.11.2022.[]
  24. Vgl. Schneider, Norma: Das Gegenteil von Sichtbarkeit: Ein neues Gesetz verbietet Bücher mit queeren Themen in Russland, in: 54books, 2023.[]
  25. Lakova, Katja: Sognut’ v radugu, in: Novaja gazeta Evropa, 2023.[]
  26. Zamachina, Tat’jana: Putin podpisal zakon o zaprete smeny pola, in: Rossijskaja gazeta, 24.07.2023.[]
  27. Vgl. V Gosdume predložili priznat’ radikal’nyj feminizm i čajldfri „destruktivnym kontentom“, in: Wonderzine, 2021.[]
  28. Vgl. Bocksch, René: HIV: Russland und Ukraine besonders betroffen, in: Statista, 2022.[]
  29. Siehe den Film vom Blogger Jurij Dud’ „HIV in Russia“, 2020. Mit seinem YouTube-Video hat Dud’ ein Bewusstsein für das Problem geschaffen, das Russland mit HIV und AIDS hat: In drei Jahren haben den Film über 24 Millionen Menschen geguckt und über 108.000 Kommentare gelassen (Stand: Juli 2023).[]
  30. Putin, Vladimir: Die Ukraine, die Sanktionen und die Lage. Einführende Worte zur Online-Sitzung am 16.3.2022, in: Osteuropa, 72. Jg., 1-3/2022, S. 157-166, hier: S. 162.[]
  31. Nazis, Faschisten und Gayropa. Russlands Kommunikationsstrategien im Krieg gegen die Ukraine, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 2022.[]

Postkoloniale Theorien als Werkzeug zur Beschreibung der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen

„Der Überlebende fühlt zum erstenmal einen nationalen Boden unter seinen Füßen. Von diesem Moment an weicht die Nation nicht mehr von ihm: man findet sie dort, wohin er geht, wo er ist, niemals weiter weg – sie wird eins mit seiner Freiheit.“ 1

Bohdan-Chmelnyzkyj-Denkmal in Kiew, @gerhardreus

Bereits Sartre beschrieb es mit seinen Worten treffend und zurzeit passender denn je, dass ein nationaler Boden dem Menschen auch das Gefühl von Zugehörigkeit gibt – ein Nationalgefühl. Im Hinblick auf die Geschichte der Ukraine kann dieses Zitat gut verwendet werden, um die erste Frage des Essays zu formulieren: welchen Einfluss hatte die Fremdherrschaft durch Polen und Russland auf das Nationalgefühl der Ukraine?

Die Auseinandersetzung mit den Perspektiven auf die Geschichte der Ukraine ist ausschlaggebend in der heutigen Zeit. Es sind verschiedene Erzählweisen dieser Geschichte vorhanden und als der gegenwärtige Krieg am 24.02.22 begann, wurde die kritische Betrachtung dieser Erzählungen außerdem zur Aufgabe von HistorikerInnen. Hieraus ergibt sich auch die Frage, ob die postkoloniale Sichtweise auf die Geschichte der Ukraine anwendbar ist. Postkoloniale Theorien tragen dazu bei, dass koloniale Machtstrukturen analysiert und dekonstruiert werden können. Auf der Grundlage der Forschungsergebnisse von Kappeler und Sproede/Lecke soll die Essayfrage beantwortet werden. Der Fokus des Essays liegt auf der Betrachtung der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen durch die Linse postkolonialer Theorien. Hierbei werden die Kriterien von postkolonialen Theorien angepasst und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet.

Postkoloniale Theorien legen den Fokus darauf, wie globale Machthierarchien, von (post)kolonialen Einflüssen und Strukturen geprägt sind. Dabei beschreibt der Begriff „postkolonial“ die Kolonialisierung als einen fortwährenden Prozess. Die kritische Auseinandersetzung mit den Folgen des Kolonialismus bis in die Gegenwart gehört zu der Hauptaufgabe der postkolonialen Studien. Es werden insbesondere die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse betrachtet. Die postkolonialen Theorien dienen in der vorliegenden Arbeit, der kritischen Betrachtung und Analyse der Geschichte der postkolonialen Ukraine. Gleichzeitig bietet es auch den notwendigen Diskurs. Das der Begriff Postkolonial häufig mit den vergangenen Kolonien des globalen Südens assoziiert wird, zeigt deutlich, dass hier noch eine offene Frage bezüglich des Osteuropäischem Raums besteht. Wo befindet sich Osteuropa auf der postkolonialen Weltkarte?

Im Laufe ihrer Geschichte wurde die Ukraine vom polnisch-litauischen Staat, sowie dem russischen Reich politisch unterworfen. Die verschwommenen Grenzen der Nachbarländer ermöglichten den Großmächten Polen und Russland durch koloniale Herrschaft ihre Autorität zu festigen. Bei der Heranziehung des Kolonialismus-Modells nach dem Literaturwissenschaftler Edward W. Said, wird der europäische Kolonialismus jedoch vom russischen Imperialismus unterschieden. Dabei ist der europäische Kolonialismus gekennzeichnet durch die Aneignung ferner Kontinente. Unter diesem Aspekt wurde der russische Imperialismus als Untersuchungsgegenstand der postkolonialen Studien ausgeschlossen.

Die Wirkung des Königreichs Polen auf das historische Erbe der Ukraine wird von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis ins 17. Jahrhundert datiert. Hierbei sind zwei zentrale Elemente der Herrschaft aufzuzeigen. Zum einen war es die Zuwendung zu Mittel- und Westeuropa und somit der Unabhängigkeit von Russland, zum anderen jedoch die politische Abhängigkeit vom Königreich Polen. Die soziale Unterdrückung durch die Polonisierung, insbesondere im Kresy (Grenzland zwischen Polen und der Ukraine) als auch die religiöse Diskriminierung stellen das Machtgefälle dar. In den Augen der polnischen Gesellschaft galten die Ukrainer als Wild, bedingt durch die Mehrheit der ukrainischen Bauern. Der polnische Kulturtransfer war somit nur auf eine kleine Gruppe, die ukrainische Elite reduziert. Solche Ausgrenzungen und Hierarchien befeuerten die ukrainisch-polnischen Auseinandersetzungen, welchen die ukrainische Nationalbewegung entsprang. Zwar hat sich die Beziehungen in den letzten zwei Jahrhunderten zu einem gutnachbarschaftlichen Verhältnis gewandt, aber das kollektive Gedächtnis an die Zeit unter der Herrschaft des Königreichs Polen bleibt insbesondere in der Bevölkerung der Westukraine und der Polen bestehen. Aus der postkolonialen Perspektive lässt sich jedoch nicht eindeutig erschließen, wie Polens Rolle in den postkolonialen Theorien einordnen lässt.

Die Fremdherrschaft durch das russische Reich löste im 17. Jahrhundert allmählich den polnischen Einfluss auf die Ukraine ab. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befand sich ein Großteil der UkrainerInnen unter der Herrschaft Russlands. Von Modernisierungsversuchen bis hin zu Russifizierung auf sprachlicher und kultureller Ebene versteckte sich der gelungene Versuch einer Kolonisierung der Ukraine.

Zum Diskurs der postkolonialen Theorie gehört der Gedanke der Zivilisierungsmission. Wie im Falle Polens gehen Sproede/Lemke davon aus, dass auch Russland die Ukraine als eine Art „kleinen Bruder „und „unzivilisierten Bauern“ sah, welchem geholfen werden muss. Die in beiden Fällen stattfindende Betonung der Andersartigkeit des kolonisierten ist charakteristisch für den Kolonialismus. Ebenfalls wurde die Integration der bäuerlichen Gesellschaft der Ukraine in beiden Fällen verhindert. Währenddessen erhielt der geringe Anteil der ukrainischen Elite, welche sich als loyal erwiesen hat, die Belohnung, Einfluss ausüben zu dürfen. Dieser Einfluss war jedoch begrenzt, da die Machtverteilung weiterhin eindeutig sein musste.

Versuche seitens der Ukraine eine Nation zu erbauen, wurden durch das russische Reich und Königreich Polen verhindert. Trotz bewaffnetem Widerstand der Unterworfenen, welcher die wechselhaften und komplexen Beziehungen verdeutlicht, gelang es den UkrainerInnen nicht dauerhaft die Unterdrückung zu beenden. Die Auswirkungen der Kolonialisierung der Ukraine hatten nicht nur politische und wirtschaftliche Folgen, sondern auch kulturelle, da die eigenständige kulturelle Entwicklung unterbunden wurde. Die Unterdrücker legten dem Unterdrückten ein Selbstbild auf und ermöglichten somit die Verschmelzung des kollektiven Gedächtnisses. Daher ist es zweifellos, dass viele Generationen durch das Bewusstsein und Denken der imperialen Politik beeinflusst wurden.

Ein wichtiger Aspekt in der postkolonialen Analyse ist das historische Gedächtnis. Es stellt ein soziokulturelles Phänomen dar, bei dem die Menschen eines Landes kollektiv über die Vergangenheit ihres Landes nachdenken, wichtige Daten und historische Ereignisse ins Gedächtnis rufen und nationale Symbole ehren. Dieses wurde jedoch durch die Kontrolle anderer Länder, insbesondere des russischen Reichs, unterdrückt. Erst nach der Unabhängigkeit 1991 wurde das Postkoloniale Denken für die UkrainerInnen möglich. Dass zuerst der Zustand von Unsicherheit eintritt, ist charakteristisch für postkoloniales Denken. Der dabei stattfindende Prozess der Nationsbildung bedarf einer Distanz von der zuvor herrschenden Macht. Während dieser Phase des permanenten Staatsaufbaus durchlief die Ukraine einige politische und wirtschaftliche Krisen, welche bis heute fortbestehen. Hierbei entsteht die Frage, ob diese Krisen durch den Dekolonisationprozess verstärkt wurden.

Eine Besonderheit des ukrainischen postkolonialen Denkens ist die tragische Wahrnehmung der eigenen Geschichte. Die bisherige Forschung konzentriert sich auf die gescheiterten Revolutionen, Verlust der Unabhängigkeit und das „othering“ durch die westeuropäische Sichtweise auf den Osten. Befreiung und Neufindung der eigenen Kultur und Geschichte ist bisher auf die wenigen Forschungsergebnissen der postkolonialen Studien in Bezug auf Osteuropa und insbesondere Ukraine begrenzt. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung des eigenen Volkes und Landes, welches bis heute um die Anerkennung der eigenen Kultur und Sprache kämpft.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass UkrainerInnen in einem politisch-imperialen System eingebunden waren, welches die nationale Identität einschränkte und die Eigenständigkeit der ukrainischen Kultur zerstörte. Postkoloniale Theorien können hier als Werkzeug eine nützliche Perspektive bieten, um der Analyse der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen nachzugehen. Die Darstellung der komplexen Beziehungen zwischen diesen Ländern und dessen Auswirkungen durch die politische und kulturelle Hegemonie auf die ukrainische Gesellschaft trägt zu einem besseren Verständnis bei. Hierbei bieten die postkolonialen Theorien der Ukraine die Möglichkeit des Gegendiskurses. Durch die Analyse kolonialer Strukturen und der dahintersteckenden Prozesse kann der Prozess der De-Kolonisierung besser vollzogen werden. Die zu betrachtenden Auswirkungen von Machtstrukturen, Imperialismus und Kolonialismus auf die ukrainische Gesellschaft und Kultur lässt sich in Kategorien unterteilen: koloniale Strukturen, Identitätsbildung, Widerstand und Machtbeziehungen. Diese Kategorien können mit Hilfe von postkolonialen Theorien als Werkzeug besser rekonstruktiv untersucht werden.

Die durch imperiale Mächte auferlegten kolonialen Herrschaftsmuster auf die Ukraine müssen in der heutigen Zeit gelöst werden. Dabei kann die durch postkoloniale Theorien abgeleitete Kulturkritik helfen und ein postkoloniales politisches Programm ermöglichen. Das Identitätsgefühl des ukrainischen Volkes muss vom subalternen Status gegenüber Russland befreit werden. Erst mit dieser Befreiung würde die ursprüngliche ukrainische Kultur zum Vorschein kommen. Die postkolonialen Theorien schaffen Verständnis für die autochthone Stellung der Kultur und Gesellschaft der UkrainerInnen. Der Wille vieler UkrainerInnen, ihre Sprache und Kultur auszuleben und der Drang zum Beitritt zu „Europa“ ist das Emanzipieren der kolonialen Unterwerfung.

Die dargestellten Ergebnisse rechtfertigen die Aussage, dass postkoloniale Theorien als Werkzeug zur Beschreibung der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen verwendet werden kann, jedoch muss dabei bedacht werden, dass die Gegenwart nicht in die Vergangenheit reininterpretiert wird. Daraus ergibt sich für die Forschung eine Aufgabe, die komplex ist und eine globale postkoloniale Betrachtung und Kritik bedarf.

Literaturverzeichnis:
do Mar Castro Varela, Maria/Dhawan, Nikita (Hrsg.): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 3.Aufl., Bielefeld 2020.
Hüchtker, Dietlind/ Kliems, Alfrun (Hrsg.): Überbringen-Überformen-Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert, Köln 2011.
Sartre, Jean-Paul: Vorwort, in: Frantz, Fanon (Hg.): Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt am Main 1966, S. 20.
Frysztacka, Clara Maddalena: Zeitliche Tiefe und Begegnungsgeschichten: Die imperial-kolonialen Werkzeuge des polnischen historischen Wissens über den Osten, in: Geschichte und Gesellschaft 47.4 (2021), S.648-670.
Sproede, Alfred/ Lecke, Mirja: Der Weg der postcolonial studies nach und in Osteuropa. Polen, Litauen, Russland, in: Hüchtker, Dietrich/ Kliems Alfrun (Hrsg.): Überbringen – Überformen – Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert, Köln 2011, S.27-66.
von Hagen, Mark: Does Ukraine have a History?, in: Slavic Review Vol. 54 No.3 (1995), S. 658-673.
Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, München 1994.


  1. Sartre, Jean-Paul: Vorwort, in: Frantz, Fanon (Hg.): Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt am Main 1966, S.20.[]

Ständig definiert man den Osten Europas über den Westen

Der Osteuropa-Begriff ist eine Konstruktion! Jeder weiß, dass es dort im Osten eine Region gibt, die von Tschechien bis zum Kaukasus reicht, doch eine einheitliche Bezeichnung ist noch immer nicht gefunden worden. Zumindest keine womit alle einverstanden wären. Wie auch, wenn sich die Variablen, die Merkmale für die Zuschreibung ständig ändern.

So verstand man beispielsweise im 17. Jahrhundert nach Hans Lemberg unter dem Begriff Osten noch den Orient. Dieser galt als barbarisch und wild. Erst als das Kaiserreich Russland sich deutlich genug im europäische Mächteverhältnis etabliert hatte, verschob sich das Reich und seine Nachbarn langsam vom Norden in den Osten. Spätestens nach dem Krimkrieg 1856 waren sich die Westeuropäer einig, dass Russland im Osten lag. Doch trotz versuchter Annäherungen an den Westen blieb die Kluft zwischen diesen Regionen bestehen. Die Territorien östlich von Deutschland wurden als wirtschaftlich und wissenschaftlich schwächer angesehen mit ganz unterschiedlichen politischen und sozialen Zielen. Auch im Glauben mit der katholischen und orthodoxen Kirche waren sie anders. Eine Dichotomie, welche sich beispielsweise durch den Kalten Krieg nur noch verfestigte.

Zu dieser Zeit war der Ostblock der Feind. Diese 46 Jahre haben das Leben in Europa geprägt und haben das Stigma über den Vorwurf der Rückständigkeit oder der Totalität des Ostens erhalten. Die Region wurde und wird immer noch als „anders“ angesehen.

Meines Erachtens liegt genau dort das Problem in der Diskussion um den Osteuropa-Begriff. Der Osteuropa-Begriff ist eine Konstruktion, weil er stets von Außenstehenden bestimmt wird. Ständig definiert man den Osten Europas über den Westen. Die Variablen und Merkmale der Zuordnung zu Osteuropa sind so fluid, weil außenstehende Parteien wie die NATO diese Merkmale festlegen. Man nimmt Werte aus den Westen und versucht sie auf den Osten zu übertragen, ohne anzuerkennen, dass es sich um eine eigenständige Kultur handelt. Man sollte den Osten sich selbst definieren lassen. Jede Zuschreibung, ob politisch oder geographisch, ist konstruiert. Das größte Problem des Osteuropa-Begriffes ist seine negative Konnotation. Und diese muss aufarbeitet werden, jedoch nicht ständig nach westlichen Standards.

Es gibt da so ein Osteuropa, aber das ist etwas ganz anderes als Deutschland oder die EU und es ist obendrein noch ziemlich arm dran

„EU exportiert Klimaschäden nach Osteuropa“  Berliner Zeitung (26.01.2023)

„Deutsche Ost-Ignoranz: Warum Deutsche so wenig über Osteuropa wissen“ SPIEGEL (31.12.2022)

„Schuhe für Afrika und Osteuropa: bundesweite Sammelaktion für soziale Zwecke“ Süddeutsche Zeitung (03.01.2023)

Keine dieser Schlagzeilen ist älter als sechs Wochen und man könnte sie wohl so zusammenfassen: Es gibt da so ein Osteuropa, aber das ist etwas ganz anderes als Deutschland oder die EU und es ist obendrein noch ziemlich arm dran.

Kann man so etwas erfinden? Ich sage: Ja! So wie übrigens auch die EU, die deutsche Identität und das Konzept „Afrika“ erfunden sind. Was aber hat es nun mit Osteuropa auf sich? Wie Hans Lemberg ausführt, tauchte der Begriff erstmalig im 19. Jahrhundert auf, als sich die gedankeliche Teilung Europas von Nord-Süd nach Ost-West verschiebt. Lemberg betrachtet dabei vor allem Russland, aber deutlich wird dennoch: Auch Russ*innen haben sich niemals selbst als östlich bezeichnet. Die Begriffsgeschichte beginnt also schon als ideologische Fremdbezeichnung – und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Auch die wissenschaftliche bzw. historische Auseinandersetzung war stets von Interessen geprägt. Dittmar Dahlmann zeigt: „Osteuropäische Geschichte war auch in der Weimarer Zeit ein hochpolitisiertes Fach.“ Wir können Osteuropa ohne politische Färbung weder sagen noch danken. Und hier wird es problematisch.

Solche Schlagzeilen, wie wir oben lesen, homogenisieren eine riesige, vielfältige Region, verstärken Klischees und machen Osteuropa zu etwas Fremdem, Anderem. Dabei müsste Osteuropa leer sein, denn niemand identifiziert sich selbst als Osteuropäer*in. Wie können wir uns also auf Osteuropa beziehen, ohne ein vereinfachtes Weltbild zu stärken?

Ich schlage vor: konkret und themenbezogen! Wenn wir also über gemeinsame geschichtliche Ereignisse reden wollen, wie z.B. Timothy Snyder in seinem Buch Bloodlands oder uns auf sozio-geographische Zonen beziehen, wie Alexander Prusin in Borderlands – dann können wir den Begriff kontextualisiert verwenden. Ein unbestimmter Osteuropa-Begriff ist aber gefährlich, denn dann wissen wir nicht, worüber wir eigentlich reden.

Die Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus und das Projekt „Verlorene Dörfer in Masuren“

|Zu Gast: Frau Dr. Sabine Grabowski|

In der Forschungs- und Dokumentationsstelle Rostock lehrt Dr. Grabowski u.a. zur deutschen und osteuropäischen Geschichte, forscht zur Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Polen, ist Produzentin des vom Polnischen Internationalen Filmfestival 2019 in Warschau als bester Dokumentarfilm ausgezeichneten Films „Im Rücken der Geschichte“ und mit dem deutsch-polnischen Kooperationsprojekt „Verlorene Dörfer in Masuren“ Preisträgerin des Richeza-Preises des Landes Nordrhein-Westfalen 2018/19 für herausragende Verdienste um die deutsch-polnische Verständigung“.

Hier möchten wir mit Ihr über ein Projekt des Gerhart-Hauptmann-Hauses in Düsseldorf sprechen, dem deutsch-osteuropäischen Forum, das sie uns in unserer Summerschool vorgestellt hat. Wir erfahren etwas über das Projekt „Verlorene Dörfer der Johannisburger Heide“, das nach dem historischen Erbe der Masuren forscht und verstehen möchte, wer die Masuren waren, warum ihre Dörfer und ihre Sprache verschwanden und durch dieses Projekt die Masuren wieder zurück ins geschichtskulturelle Bewusstsein bringen. Wir bedanken uns herzlichst bei Frau Dr. Grabowski für ein nettes, spannendes und vor allem sehr interessantes und bereicherndes Gespräch!