Liebe Leserinnen und Leser, liebe Autorinnen und Autoren,
es heißt ja, man soll aufhören, wenn’s am schönsten ist – und genau das tun wir jetzt. Unser Blog geht in den wohlverdienten Ruhestand. Wir hoffen, dass Ihr beim Lesen genauso viel Spaß hattet wie wir beim Schreiben. Möge unser Blog in den Weiten des Internets in guter Erinnerung bleiben. Wenn Euch die Langeweile packt, könnt ihr unsere alten Beiträge immer noch lesen. Neue Beiträge werden allerdings nicht mehr erscheinen.
Wer war überhaupt Pan Tadeusz? Jede Polin und jeder Pole wird die Frage im Schlaf beantworten können. Das Meisterwerk gleichen Titels von Adam Mickiewicz gehört zur Pflichtlektüre in Polens Schulen und ist nach der Bibel das meistgelesene Buch Polens.
Ein Museum für ein Buch. Was es damit auf sich hat, erfahrt ihr in diesem Blogeintrag.
Mitten im Stadtzentrum Wrocławs befindet sich das Pan Tadeusz-Museum. Lokalisiert im Haus ,,Zur Goldenen Sonne‘‘ (Pod Złotym Słońcem) auf dem mittelalterlichen Marktplatz ,,Rynek“, dem Mittelpunkt der Fußgängerzone Wrocławs und der Hotspot für Touristen.
Das Museum selbst ist ein Teil der Ossolinski-Nationalbibliothek, die seit 1947 ihren Sitz in Wrocław hat. Das Ossolineum wurde 1817 von Józef Maksymilian Ossoliński als Forschungsinstitut gegründet, um Schriftstücke der polnischen Kultur zu erhalten. Zu der Sammlung gehört auch das letzte erhaltene Manuskript von Pan Tadeusz, welches sich im Pan Tadeusz Museum befindet.
Der Grund, warum das Museum in Wrocław eröffnet wurde ist genau dieses Manuskript. Aufgrund des Zweiten Weltkrieges hat die Familie Tarnowski das Manuskript 1939 dem damals in Lwów (heute L’viv, Ukraine) ansässigen Ossolineum als Depositum zur Verfügung gestellt. 1989 forderte die Familie Tarnowski ihre Leihgabe zurück, aber durch von der Stadt Wrocław zu Verfügung gestellte Mittel konnte das Manuskript gekauft werden und wurde von der Stadt und der Familie als Schenkung der Ossolinski-Nationalbibliothek übergeben.
Die Handlung des 1834 erschienen Buches beschreibt Mickiewicz in einem Brief folgendermaßen:
Ich schreibe jetzt gerade ein ländliches Poem, darin ich die Erinnerung an unsere alten Bräuche festzuhalten und irgendwie ein Bild unseres Landlebens, der Jagden, Lustbarkeiten, Kämpfe und Einritte etc. zu zeichnen versuche. Die Szenerie ist in Litauen um das Jahr 1812, als noch die alten Sagen lebten und noch die Reste des alten ländlichen Lebens zu sehen waren.1
Kurzum: Es ist ein Werk, das die polnische Identität und den Kampf um Freiheit in einer Zeit der politischen Umbrüche verkörpert, die aus einer Adelsherrschaft der Szlachta hervorgegangen ist.
Was erwartet Museumsbesucher:innen in der Ausstellung?
Die Ausstellung ist auf zwei Etagen und neun Räume verteilt. Die einzelnen Räume sollen den Besucher:innen Einblicke in das Leben des Dichters, die Entstehungsgeschichte des Werks sowie seine Bedeutung für die polnische Literatur und Kultur vermitteln.
Darüberhinaus bekommen die Besucher:innen eine umfangreiche Sammlung von historischen Dokumenten, Bildern und anderen Gegenständen, die mit dem Werk und dem Dichter in Verbindung stehen zu sehen.
Jedes einzelne der neun Zimmer zeigt seine ganz eigene Geschichte, in denen die Besucher:innen auch interaktive Elemente zum Mitmachen finden werden.
Einer der Räume nennt sich ,,Der Salon der Romantik“. Dieser Raum zeichnet sich durch seine einzigartige Deckenmalerei aus. Der Salon soll im musealen Kontext die Kunst der Romantik in ihrem Facettenreichtum widerspiegeln. Pan Tadeusz ist ein großes Landschaftsgemälde in Schriftform, weil das Werk durch Verse die unendliche Schönheit der Natur beschreibt.
Natürlich wurde dem Dichter des Epos auch ein Raum gewidmet. Dort wird sein Leben, das auch durch bedeutende historische Ereignisse für Europa geprägt worden ist, gezeigt.
Sein außergewöhnliches Leben, teilweise im Exil, wird mit Hilfe von Animationen in Bildschirmen auf lebendige Art und Weise vermittelt.
Was wäre Pan Tadeusz ohne die Szlachta? dem polnischen Kleinadel wurde auch ein Raum gewidmet.
Vor der Teilung Polens war es die Szlachta, die in der Adelsrepublik die Macht hatte. Die Adelsrepublik existierte ab 1795 nicht mehr, aber Mickiewicz hat die altpolnische Kultur aufgegriffen und die Szlachta als gemeinschaftliche Schlüsselinstitution dargestellt. Pan Tadeusz, eigentlich der fiktive Charakter Tadeusz Soplica, ist so ein junger Adliger, der sich mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen auseinandersetzen muss.
Mein Fazit: Die Ausstellung über Pan Tadeusz ist eine einmalige Erzählung, die die Besucher:innen in die Zeit des Werkes entführen will. Die Ausstellung strahlt eine massive Historizität aus und zeigt auch den Kampf für etwas, das eigentlich schon Vergangenheit war, aber durch den Nationalpatriotismus des ,,polnischen Volkes“ erhalten wurde. Vor allem sind es die Exponate, die die Anwesenden spüren lassen, dass Pan Tadeusz als ,,Nationalepos“ Polens gilt. Auch die Menschen, die das Epos vorher nur ansatzweise kannten, sind durch die Ausstellung nicht nur dem Werk, sondern auch Polens Geschichte näher gekommen.
Besucht das Museum und überzeugt euch selbst von diesem einmaligen Erlebnis, damit ihr auch im Schlaf wisst, wer Pan Tadeusz war!
Was als große Enttäuschung begann, entpuppte sich als eine unvergessliche Erfahrung.
Kurz vor unserer Exkursion nach Wrocław schauten wir uns im Seminar einen Ausschnitt aus der Roadtrip-Dokumentation „Polen für Anfänger“1 an, in der die Komiker Kurt Krömer und Steffen Möller durch Polen reisen. Für Krömer ist es die erste Reise durch das Nachbarland im Osten, doch zum Glück ist sein Reisegefährte mit dem Land und seinen Gepflogenheiten bereits vertraut und steht ihm in der einen oder anderen befremdlichen Situation bei. So fahren die beiden Touristen unter anderem zu einem Museum in Wrocław, nur um festzustellen, dass der Museumsdirektor nicht zur vereinbarten Zeit vor Ort ist. Die Unsicherheit darüber, wann er erscheinen wird, führt vorerst zu Empörung bei Krömer. Doch Möller ermahnt ihn, er solle nicht so „deutsch denken“. Irgendwann taucht der Direktor dann auch auf und nutzt die Gelegenheit, um den deutschen Gästen eine exklusive Führung durch die Ausstellung zu geben. Dabei enthüllt er ihnen interessante Details über die ausgestellten Exponate, welche teilweise aus seinem eigenen Familienbesitz stammen, die sie sonst nie erfahren hätten. Eine einmalige Erfahrung, mit der wohl keiner der beiden gerechnet hatte.
Ein paar Tage später waren auch wir in Wrocław. Der gesamte Kurs befand sich auf dem Weg zur Galeria Entropia, wo eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst stattfinden sollte. Schon das Auffinden der Galerie gestaltete sich schwieriger als erwartet. Sie befand sich in einem Wohngebäude – womit wir nicht gerechnet hatten – und nur ein kleines, unscheinbares Schild wies darauf hin. Natürlich haben wir es übersehen und sind zunächst an der Galerie vorbeigelaufen, verwirrt auf unsere Handybildschirme starrend. Laut Google Maps sollte sie doch hier sein… „Schaut mal! Ein Schild! Aber das ist doch ein Wohnhaus… sollen wir wirklich klingeln?“ Nicht ganz überzeugt entschlossen wir uns, es trotzdem zu tun, und tatsächlich waren wir am richtigen Ort. Ein Mitarbeiter der Galerie begrüßte uns (wenn auch etwas verwirrt) und teilte uns mit, dass die Ausstellung noch nicht eröffnet, geschweige aufgebaut war.
Unsere Enttäuschung hielt sich in Grenzen, uns war ja klar, dass nicht alles unbedingt nach Plan verlaufen wird. Der Mitarbeiter der Galerie entschuldigte sich mehrmals bei uns, und man merkte, dass es ihm wirklich leidtat. Doch als wir gerade gehen wollten und wortwörtlich schon in der Tür standen, fing der nette ältere Herr etwas verunsichert an, nicht über ein Kunstwerk oder eine Ausstellung, sondern über den kleinen Raum der Galerie selbst zu sprechen. Es stellte sich schnell heraus, dass diese (augenscheinlich) leere Räumlichkeit gefüllt war mit Überresten vergangener Ausstellungen und Zeiten. Eine mit Blumen bemalte Decke, im Originalzustand aus dem 12. Jahrhundert, eine Säule aus dem 14. Jahrhundert und ihre originalgetreue Kopie, 700 Jahre später geschaffen. Zeichnungen und verbogene Drahtkonstruktionen an den Wänden sowie in den PVC-Boden eingekerbte Gestalten. Eine kleine Kammer, die – anders als das in ihr angebrachte Sanitär vermuten ließe – nicht als WC fungiert, sondern eine eigene kleine Galerie in der Galerie selbst ist, gefüllt mit Exponaten, die von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern gestiftet wurden, wie zum Beispiel Kamila Wolszczak, Marcin Harlender, Alicja Jodko oder Bożena Grzyb-Jarodzka.
Ähnlich wie die Stadt Wrocław selbst erinnert die Galeria Entropia an ein Palimpsest, bei dem das Vergangene erst auf den zweiten Blick zum Vorschein kommt, wodurch sie auch ohne eine aktuelle Ausstellung mit Kunst und Geschichte gefüllt ist. Die Atmosphäre, die in diesem Moment in der Galeria Entropia herrschte, lässt sich, wenn auch nur annähernd, mit einzelnen Adjektiven beschreiben: faszinierend, überraschend, berührend, inspirierend und (meiner Meinung nach am zutreffendsten) einzigartig. Und so kam es dazu, dass wir etwas mehr Zeit in der Galerie verbrachten als vorerst angenommen, fasziniert von dem, was wir schlussendlich vorgefunden haben.
Die Moral der Geschichte: Manchmal verläuft nicht alles nach Plan (so auch oder vielleicht vor allem in Polen), aber was man stattdessen erlebt, kann sich als noch besser herausstellen. Mit dieser Einstellung sollten wir die Reise antreten, und es stellte sich heraus, dass wir zurecht vorgewarnt worden waren. Ob es eine amüsante Fügung des Schicksals war oder sorgfältig geplant wurde, kann nur Frau Prof. Dr. Pörzgen beantworten.
Rothe, Katrin (2010): Polen für Anfänger, Deutschland, 3sat/ RBB[↩]
Der Studienort ist von großer Bedeutung für Studierende, denn er beeinflusst nicht nur den akademischen Werdegang, sondern auch die persönliche Entwicklung und die Erfahrungen während der Studienzeit. Ein Faktor bei der Wahl des Studienortes wird dabei oft außer Acht gelassen – die Infrastruktur der Universität. Das Studienleben auf dem Campus bietet viele Vorteile und ist typisch für zahlreiche Hochschulen. Wenn die Fakultäten und Einrichtungen jedoch über die Stadt verteilt sind, ergeben sich vielfältigere Möglichkeiten und Wahrnehmungen. Ob Erststudium, Auslandssemester oder Masterprogramm: Eine Auseinandersetzung mit der Infrastruktur der angestrebten Universität hilft die potenziellen Erfahrungen einzuordnen.
Erkenntnisse einer Exkursion von der Ruhr an die Oder
Studienreisen ermöglichen gelerntes Wissen in einem realen Kontext zu erleben. Unsere Exkursion von der Ruhrmetropole Bochum nach Wrocław öffnete viele neue Perspektiven. Nach dem Besuch eines Seminars an der Philologischen Fakultät der Universität Wrocław, wurden wir von einer Studentin zum barocken Hauptgebäude der Universität begleitet, welches zeitgleich als Museum fungiert. Während des kurzen Spaziergangs passierten wir das historische Ossolineum (Bibliothek und Literaturarchiv) und teilten uns die Fußwege sowohl mit Anwohnern als auch Touristen. Was für sie ein gewöhnlicher Fußmarsch war, verwandelte sich für uns in eine faszinierende Besichtigungstour. Die epochalen Räume des Hauptgebäudes der Universität zeichnen sich durch illusionistische Wandmalereien, prunkvolle Dekorationen und Skulpturen aus und hinterlassen bleibenden Eindruck. Die Aula Leopoldina und das Oratorium Marianum ziehen täglich viele Touristen an und dienen bis heute als Fest- bzw. Konzertsaal der Universität. Der angeschlossene mathematische Turm ist ebenfalls Teil des Museums und eine beliebte Aussichtsplattform in Wrocław. Das kulturelle Leben der Stadt geht mit dem akademischen Leben der Studierenden einher und verbindet eine Vielfalt von Menschen verschiedener Interessen. Diese Erfahrungen machen Studierende einer typischen Campusuniversität in der Regel nicht.
Unser Treffen mit den Professoren und Studierenden der Russischen Kultur- und Literaturwissenschaften verdeutlichte aber auch die Kehrseite der Medaille. Da das Gebäude der Philologischen Fakultät der Universität Wrocław nicht ausreichend Platz für alle Sprachwissenschaften bietet, liegt die Abteilung für Slavische Philologie zwanzig Minuten mit der Straßenbahn von der Philologischen Fakultät entfernt. Die Pendelzeiten zwischen den verschiedenen Einrichtungen müssen eingeplant werden und können für Verspätungen sorgen. Nach Gesprächen mit den Studierenden der Russischen Kultur- und Literaturwissenschaften wurde deutlich, dass die räumliche Trennung den Kontakt zu Studierenden anderer Forschungsgebiete erschwert und das Gemeinschaftsgefühl der Studierenden in Wrocław eher auf die Institute begrenzt ist. Es gibt keinen zentralen Treffpunkt, wie z.B. die Mensa, um täglich von einem interdisziplinären Austausch zu profitieren. Die Fakultätsbesuche warfen folgende Frage auf: Wie beeinflusst die Infrastruktur einer Universität das Leben der Studierenden?
Die Infrastruktur als Ergebnis der Entwicklungsgeschichte
Neben der Reputation der Universität und den verfügbaren Studienprogrammen spielt der Standort eine wichtige Rolle bei der Auswahl des Studienortes. Der Faktor Infrastruktur ist von besonderer Bedeutung, denn er wirkt sich maßgeblich auf den Studienalltag und die damit verbundenen Erfahrungen aus. Doch wie kommen verschiedene Infrastrukturen zustande?
Wegweisend für den Entstehungsprozess der Universität Wrocław ist die Geschichte der Stadt, welche durch diverse Herrschaftswechsel geprägt ist. Aufgrund der konfessionellen und politischen Rahmenbedingungen vor Ort vergehen knapp 200 Jahre zwischen dem Beschluss im Jahr 1505 und der tatsächlichen Gründung einer Universität im Jahr 1702 im damals habsburgischen Breslau. Zunächst verfügt die Universität über nur zwei Fakultäten. Die Fusion mit der Brandenburgischen Universität in Frankfurt-Oder um 1811 führt zum Modell einer Volluniversität. Mit der Zeit entstehen weitere Fakultäten und eigenständige Hochschulen, wie z.B. die Königliche Technische Hochschule in Breslau. Durch die Umstände der Weltkriege werden einige Akademien bis in die Nachkriegszeit hinein an die Universität Wrocław administrativ angegliedert, bevor sie wieder eigenständig arbeiten können. Die Universität Wrocław in ihrer heutigen Form ist daher das Ergebnis jahrelanger wechselhafter Schwierigkeiten. Im Gegensatz zu einer typischen Campusuniversität verteilen sich in Wrocław Fakultäten und Einrichtungen über die ganze Stadt.
Die Geschichte der RUB beginnt deutlich später und verläuft reibungsloser. Im Zuge der Bildungsoffensive legt der Landtag Nordrhein-Westfalens 1961 Bochum als Standort einer neuen Universität fest. In den Jahren darauf entsteht ein gewaltiger Campuskomplex, der zu dieser Zeit das Sinnbild der Modernität widerspiegelt: Eine riesige Fläche, über 40.000 Studierende, Straßen, Parkhäuser, Grünanlagen und Sportplätze auf dem Unigelände. Die Errichtung der RUB folgte also einem klaren Bauplan. Das ca. 400 x 900 Meter große Gelände ist in etwa vier gleich große Rechtecke aufgeteilt, denen die Fachrichtungen zugeordnet sind. Die nüchterne Architektur dient der klaren Orientierung. Und betrachtet man das Erscheinungsbild aus Stahl, Beton und Glas aus der Vogelperspektive, kommt das Konzept „Hafen im Meer des Wissens“ zum Vorschein. Das im Mittelpunkt gelegene Audimax erinnert an eine von Schiffen umgebene Muschel. Obwohl einige Einrichtungen außerhalb des Geländes liegen, ist die RUB eine typische Campusuniversität.
Die Stadt als Campus – wo Wissenschaft auf pulsierendes Stadtleben trifft
Eine über die Stadt verteilte Universität ermöglicht den Studierenden engeren Kontakt zum kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Raum. Die Universitäten sind in das städtische Leben und ihre kulturellen Szenen eingebunden. Ausstellungen, Museen, Konzerte und Theaterstücke werden von Studierenden mitgestaltet und gehören zum akademischen Leben dazu. Dies führt unvermeidlich zur Vernetzung mit Menschen unterschiedlicher Hintergründe und Interessen und erweitert die Lebenserfahrung jenseits des akademischen Charakters. Da in der Stadt üblicherweise eine größere Anzahl von Unternehmen, Organisationen und Institutionen anzutreffen sind, dehnen sich die Praktikums- und Beschäftigungsmöglichkeiten aus. Potenzielle Arbeitgeber sind zugänglicher, was die Chancen auf einen erfolgreichen Berufseinstieg erhöht. Einen weiteren Vorteil stellt die ästhetische Vielfalt dar, welche durch abwechselnde Architektur geschaffen wird. Unterschiedliche Baustile und architektonische Merkmale können eine einzigartige Atmosphäre und ein inspirierendes Umfeld schaffen. Der Erhalt und die Wertschätzung des architektonischen Erbes werden gefördert und bringen die kulturelle Vergangenheit mit der Gegenwart in Verbindung.
Campusuniversität – zwischen Bildung und Freizeit
Ein Campus bietet den Studierenden eine Menge Möglichkeiten, um völlig in das akademische Leben einzutauchen, ohne dabei soziale Interaktionen zu vernachlässigen. Die meisten Einrichtungen und Ressourcen befinden sich in unmittelbarer Nähe und sind schnell zugänglich. So können Studierende nach Seminaren oder Vorlesungen umgehend die Bibliothek oder das Labor nutzen. Und sollten sich zwischen den Veranstaltungen zeitliche Lücken ergeben, können diese in der Mensa bei einem Mittagessen oder mit anderen Freizeitmöglichkeiten, wie z.B. einem Spaziergang im Botanischen Garten überbrückt werden. Der interdisziplinäre Aspekt ist besonders hervorzuheben. Sprachwissenschaftler, Juristen, Mediziner oder Naturwissenschaftler, nur um einige Forschungsschwerpunkte zu nennen, können während ihrer Freizeit zusammenkommen und sich über ihre Fachgebiete austauschen. Die Möglichkeit, studentische Organisationen, Veranstaltungen und Aktivitäten im Vorbeigehen kennenzulernen und sich ihnen anzuschließen, fördern die Teilhabe und stärkt das Gemeinschaftsgefühl der Studierenden.
Campus vs. Stadtuniversität – eine persönliche Entscheidung
Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Infrastrukturen der Universitäten verdeutlicht, dass beide Modelle spezielle Vorzüge bieten.
Studierende einer typischen Campusuniversität wie der RUB genießen viele Vorteile und profitieren von dieser Infrastruktur. Die Pendelzeiten zwischen den Fakultäten, Bibliotheken, der Verwaltung und Mensa sind minimal und die Wege schnell zu Fuß bewältigt. Durch einen Campus kann ein enges Gemeinschaftsgefühl zwischen Studierenden, Dozenten und Mitarbeitern entstehen. Der Fokus auf das akademische Umfeld bietet optimale Lernbedingungen für Studierende und der interdisziplinäre Austausch fördert die Zusammenarbeit zwischen den Fachbereichen.
Die Stadt als akademischer Raum bietet den Studierenden in der Regel eine breitere Palette an Möglichkeiten am kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben der Region teilzunehmen. Studierende sind stärker in das städtische Umfeld eingebunden, wodurch sich eine Vielzahl von Vernetzungsmöglichkeiten über den akademischen Werdegang hinaus ergeben kann. Die Dynamik innerhalb der Stadt schafft abwechslungsreiche visuelle Eindrücke und die ästhetische Vielfalt erzeugt eine inspirierende Atmosphäre. Abschließend sei betont, dass das akademische Angebot, die Bildungsqualität und die Forschungsmöglichkeiten unabhängig von der Infrastruktur der Universität sind und ein erfolgreiches Studium durch beide Arten gewährleistet werden kann. Die Entscheidung hängt von den individuellen Bedürfnissen und Präferenzen der Studierenden ab.
In den Pfingstferien 2023, in der schönsten Zeit der Natur, hatten meine Kommilitonen und ich die besondere Möglichkeit, nach Breslau zu fahren. An einem sonnigen Samstag stiegen wir in den Bus ein und begannen unsere wunderbare Reise. Von Anfang an hat Breslau (oder auf polnisch Wrocław) uns mit perfektem Wetter empfangen. Die Stadt zeigte uns ihre schönen Straßen, gemütliche Cafés und bunte Architektur, die vielfältige und schwierige Geschichte von Breslau erzählen können. Dieser Kontrast der Stile hat mich begeistert, deswegen habe ich mich entschieden, meine Enthusiasmus mit allen Leserinnen und Leser dieses Blogs zu teilen.
Ich möchte mit einem kurzen Einblick in die Geschichte von Breslau beginnen. Sie ist geprägt durch wechselhafte politische Abhängigkeit, Religionskriege und tragische Vertreibungen. Die ersten schriftlichen Erwähnungen der Stadt findet man schon im Jahre 1000, als Breslau von Otto III. und Bolesław I. unter dem ersten Namen der Stadt gegründet wurde: Vratislavia. Im Jahr 1241 wurde die Stadt bei der mongolischen Invasion signifikant zerstört. Im Jahr 1335 fiel Schlesien unter die Böhmische Krone. Unter der Herrschaft der Böhmen erfuhr Breslau seine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit. Stadt und Region unterhielten wirtschaftliche Beziehungen mit fast ganz Europa: Kaufleute aus Krakau, italienische Bankier, regelmäßige Waren- und Menschenverkehr von West nach Ost. Ab 1526 wurde Breslau ein Teil der Habsburgermonarchie. In dieser Zeit entwickelte sich die Baukunst, die neue Arten von großartigen Städten errichtete, die den Anforderungen der humanistischen Patrizier entsprachen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann die Blütezeit des Barocks nach dem Dreißigjährigen Religionskrieg zwischen Katholiken und Protestanten (1618-1648).
Im Jahr 1741 wurde Breslau Preußen einverleibt. Zu dieser Zeit begann in der Architektur die Epoche des Klassizismus in Breslau. Während des Marschs von Napoleons Truppen durch Europa wurden die Breslauer Befestigungsanlagen abgerissen. Das hat zu großen Änderungen in der Stadtplanung geführt: Die Bevölkerung stieg stark an, da Vorstädte in das Stadtgebiet integriert wurden.
Während des Zweiten Weltkriegs wurden die meisten Gebäude beschädigt oder zerstört. Am Ende des Kriegs wurde Breslau Polen eingegliedert. Die deutsche Bevölkerung wurde vertrieben und durch polnische Bevölkerung ersetzt. Während des Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit wurden Gebäude in der Innenstadt mit der Berücksichtigung der historischen Charakters aufgebaut.
Schon der kurze Überblick zeigt uns, wie bunt und vielfältig die Geschichte Breslaus war und wie großen Einfluss sie auf die Architektur hatte. Jede Epoche, jede Herrschaft brachte etwas Neues zur architektonischen Vielfalt der Stadt, was diese zum Palimpsest machte. Im direkten Sinn ist Palimpsest ein antikes oder mittelalterliches Schriftstück, von dem der ursprüngliche Text abgeschabt oder abgewaschen und das danach neu beschriftet wurde, im übertragenen Sinn ist es etwas, das von etwas Neuem überlagert wird, ohne dabei völlig zu verschwinden. Das charakterisiert perfekt die architektonische Mischung, die der Stadt eine besonderes Kolorit gibt.
Was sofort ins Auge fällt, ist der Kontrast zwischen Gotik und Konstruktivismus. Man geht eine alte Straße entlang und genießt elegante Ornamente auf den Fassaden, aber ein paar Meter weiter stößt man auf ein monumentales Denkmal der 20 Jahrhunderts.
Oder umgekehrt: eine typische, graue und melancholische Straße aus der Mitte des 20 Jahrhunderts, aber am Ende sieht man den wundervollen Wasserturm, der am Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Anmutung einer mittelalterlichen Burg gestaltet wurde.
Natürlich gibt es auch verlassene Gebäude, die große Renovierung oder Umbau brauchen.
Aber am meisten begegnet man schönen, gut und mit Liebe gepflegten Gebäuden.
Manchmal sieht man beides zusammen.
Der beeindruckendste Platz von Breslau ist selbstverständlich der Große Ring oder rynek auf polnisch. Dieser mittelalterliche Marktplatz im Zentrum der Stadt bietet Stile für jeden Geschmack, vom Rathaus im gotischen Stil bis zu den Gebäuden rund um den Platz im Stil von Renaissance und Barock bis hin zu Jugendstil.
Wenn man sich präziser über die Arten jede Epoche der Geschichte der Stadt informieren möchte, dann kann man ein paar Gebäude des Barock besichtigen, wie die Namen-Jesu-Kirche (Kościół Imienia Jezusa); der gotische Stil ist durch die Elisabethkirche am Großen Ring vertreten. Ein Beispiel des Klassizismus ist die Alte Börse am Salzring (Plac Solny). Was wirklich einzigartig und erwähnenswert in Breslau ist, ist die Jahrhunderthalle (Hala Stulecia), ein Muster der avantgardistischen Kunst.
Breslau ist eine einzigartige Stadt. Bunte, farbenfrohe, aber gleichzeitig manchmal traurige Orte haben mich bis ins Innerste berührt. Das Schicksal der Stadt ist in ihren Bauwerken widergespiegelt und zeigt uns, wie kompliziert ihre Geschichte war. Mit den Fotos kann man versuchen, Breslau zu zeigen, aber um die Seele der Stadt zu spüren, soll man selbst dorthin fahren, was ich nur empfehlen kann.
Quellen: Kaczmarek, R., Breslau, Parma Press, 2016. Fotos aus eigenem Archiv: Xenia Ulyakin, 2023.
„Wenn man in einer Suchmaschine die Worte ‚osteuropäische‘1Frau eingibt, wird man mit einer Fülle von Stereotypen im Gewand von Sexismus und Antislawismus konfrontiert. Datingportale, Katalogfrauen, Pornokategorien, Jobangebote für Putzkräfte und andere prekäre Arbeitsverhältnisse. Welche Stereotype gibt es und woher kommt diese ‚westliche‘ Machtphantasie eigentlich?“2
Mit dieser Frage trifft die Aktivistin und Kulturwissenschaftlerin Lisa Jarzynski in ihrem Vortrag im Rahmen der Feministischen Aktionswochen Bochum 2023 einen wunden Punkt. Es scheint offensichtlich, dass die Assoziation einer geschlechtlich und lokal eingegrenzten Gruppe von Menschen mit Einkaufskatalogen hoch problematisch ist. (Zum Vergleich, gibt man „Deutsche Frauen“ in die Suchmaschine ein, dann wird von Google im Standort Deutschland automatisch mit Begriffen wie „Fußball-nationalmannschaft“, „Comedians“, „Biathlon“ oder „Krimiserien“ ergänzt.) Neben Heiratsvermittlungen und Dating-Tipps finden sich aber auch einige ausführliche Erfahrungsberichte von Frauen mit familiärem Bezug zu „Osteuropa“. So erzählt zum Beispiel die Journalistin Britta Rybicki von immer wiederkehrenden diskriminierenden Begegnungen: „Osteuropäische Frauen erfüllen für diese Männer sämtliche normative Schönheitsideale. Wir werden dadurch aber lediglich zum Objekt der Begierde.“3 Und die Redakteurin Anastasia Tikhomirova reagiert in einem Artikel auf misogyne Debatten um die Ankunft ukrainischer Geflüchteter im Sommer 2022: „Männer berichten dort ganz offen von ihren sexuellen Fantasien und missglückten Annäherungsversuchen an geflüchtete Ukrainerinnen.“4 Auch Jarzynski zeigt in ihrem Vortrag grenzüberschreitende und menschenverachtende Kommentare aus deutschsprachigen Freierforen, welche einen unmittelbaren Anstieg des Menschenhandels5 entlang der Fluchtroute Ukraine-Polen-Deutschland nach sich zogen. Ebenso erhöhte sich die Anzahl ukrainischer Sexarbeiter*innen in Deutschland massiv, in Berlin habe sie sich laut Meldestellen verfünffacht.6 Dabei sind diese neuen Arbeitsverhältnisse meist von Geldnot und Abhängigkeit geprägt.
Diese erschütternden Berichte von Gewalt, Missbrauch und Gefahr scheinen die letzte Konsequenz der symptomatischen Google-Suche und allen damit verbundenen Stereotypen zu sein. Für Tikhomirova handelt es sich hier um ein vernachlässigtes Politikum:
„Deutschland hat ein Problem mit antislawischem Rassismus. Dieser differenziert nicht zwischen Ukrainer:innen, Russ:innen und anderen slawischen Völkern, sondern homogenisiert sie zu einer einheitlichen Masse. Gepaart mit Sexismus ergibt sich eine bisher wenig beachtete Diskriminierungsform – der nun auch viele geflüchtete Ukrainerinnen ausgesetzt sind.“7
Denn hinter den Projektionen auf „osteuropäische Frauen“ verbergen sich gewaltige, transnationale Strukturen, die Gesellschaftshierarchien, Migrationsströme und Zugänge zum kapitalistischen Arbeitsmarkt prägen. Warum gibt es keinen Begriff, um genau diese Marginalisierung zu bezeichnen und zu analysieren?
Ein derartiges Vorhaben würde wohl vornehmlich im wissenschaftlichen Kontext der Osteuropa- und Geschlechterforschung verortet werden. Da Diskriminierungs- und Machtstrukturen historisch gewachsen und geformt sind, braucht es vor allem eine geschichtswissenschaftliche Dimension. Dementsprechend gilt das besondere Interesse dieser Arbeit den kritischen Analysen des Fachs Osteuropäische Geschichte zum „osteuropäischen“ Frauenbild.
Eine überblicksartige Recherche soll dabei helfen den ungefähren Forschungsstand zu ermitteln. Die Eingabe des Begriffspaares „Osteuropäische Frau“ auf wissenschaftlichen Plattformen fördert zunächst einige Beiträge zu Migration und Care-Arbeit (Spindler 20118, Friese 19959), dann zum Verhältnis Osteuropa-EU (Regulska 200310), zu osteuropäischen Mediengeschichten (Kandioler 202211) und schließlich zur Konstruktion „osteuropäischer“ (und anderer „nicht-deutscher“) Frauen in deutschen Medien (Farrokhzad 200612) zutrage. Es fällt jedoch auf, dass es sich hier vorrangig um Arbeiten von Kultur-, Sozial- und Medienwissenschaftler*innen13, Geschlechterforscher*innen oder Politolog*innen handelt.
Die erweiterte Suche auf einschlägigen Forschungsportalen zu Ost-, Südosteuropa und Zentralasien wie Länder-Analysen und Osmikon öffnet drei Ergebnisfelder: Einerseits erscheinen viele politische (und geschichtswissenschaftliche) Analysen zu tagesaktuellen Ereignissen in „Osteuropa“, zum Beispiel über die feministischen Kämpfe zum 8. März in der Ukraine14 oder jahrelanger Aktivismus von Frauen in Belarus15. Des Weiteren finden sich Artikel oder Monografien, die sich mit historischer „osteuropäischer“ Geschlechterpolitik und -geschichte beschäftigen (Jancar 197616, Goehrke, Haumann 200417, Petrenko 201818). Drittens – und für Jarzynskis und Tikhomirovas Fragestellung am interessantesten – gibt es innerfachliche Kritik von Historikerinnen, die auf problematische Strukturen und Leerstellen im Fach Osteuropäische Geschichte und dessen Forschung hinweisen. So stellten zum Beispiel Susanne Kraatz, Dorothée de Nève, Silvia von Steinsdorff vor knapp zwanzig Jahren im Titel ihres Beitrags die Frage: „Osteuropaforschung ohne Frauen?“19 Diese Frage klingt wie ein Echo der Jubiläumsrede von Beate Fieseler im Jahr 1992, die bereits deutlich auf die Missstände in ihrem Fach hingewiesen hat.20 Mitte der 2010er thematisierten dann die Historikerinnen Natali Stegmann21 und Claudia Kraft22 die Notwendigkeit einer geschlechtersensiblen Osteuropaforschung.
Dieses letzte Feld bildet ein gutes Fundament, um sich den Fragen Jarzynskis und Tikhomirovas zu nähern. Es soll demnach nicht um Geschlechterpolitik in den einzelnen Ländern „Osteuropas“ oder um Geschlechterforschung an osteuropäischen Universitäten gehen, sondern vielmehr um die Machtdynamiken, die hinter dem Bild der „osteuropäischen Frau“ stecken und vor allem im gesellschaftlichen und akademischen Diskurs Mitteleuropas wirkmächtig sind. Aus einer nicht-geschichtswissenschaftlichen Perspektive wird untersucht, inwieweit das homogenisierende Bild der „osteuropäischen Frau“ an der Intersektion von Antislawismus, Klassismus und Sexismus in den Geschichtswissenschaften behandelt wird.
Zu Beginn wird auf inhaltlicher Ebene mithilfe von Jarzynskis Vortrag die Konstruktion der „osteuropäischen Frau“ und die Funktionsweise dieser Figur erläutert. Anschließend soll eine wissenschaftskritische Perspektive eingenommen werden und damit die Marginalisierung der Geschlechterperspektive in der allgemeinen Geschichtsschreibung untersucht werden, die sich auch im Fach Osteuropäische Geschichte wiederfindet. Interessanterweise werden bei der Betrachtung der Entstehung der geschlechtlichen Binarität und der ideologischen Trennung in Ost-Westeuropa Parallelen sichtbar, wie Stegmann und Kraft ausführen. Schließlich soll diskutiert werden, inwiefern die Geschlechterforschung und die Osteuropäische Geschichte die Erfahrung des akademischen Abseits teilen und warum ein Zusammenwirken beider Perspektiven eine wissenschaftliche Bereicherung wäre.
Konstruktion der „osteuropäischen Frau“
Wie in der Einleitung bereits erwähnt, bezieht sich diese Analyse auf den Vortrag „Antislawismus und Sexismus“ der Kulturwissenschaftlerin Lisa Jarzynski, welche im März über die Konstruktion und Sexualisierung der Figur der „osteuropäischen Frau“ referiert hat. Den Begriff „Figur“ habe sie gewählt, weil eine Figur immer konstruiert, fiktiv und fremdbestimmt sei – eine Projektionsfläche eben.2 Die konkreten Projektionen, mit denen polnische, russische, ukrainische, rumänische und viele andere Frauen und weiblich gelesene Personen konfrontiert sind, müssen „benannt werden, damit sie dekonstruiert werden können.“23
Stereotype von „osteuropäische Frauen“ beziehen sich oft auf ihr Äußeres (schön, blond, jung, weiß) und die Dienstleistungen, die sie anbieten. So zum Beispiel ihre Käuflichkeit, sowohl als Sexarbeiterin, als auch als Reinigungs- oder Pflegekraft. Der „osteuropäischen Frau“ werden aber auch Attribute nahegelegt, die christlich-patriarchale Sehnsüchte bedienen, so wird sie als religiöse, reine Madonna imaginiert, die gleichzeitig sehr fürsorgend und familienbezogen ist.23 Glücklicherweise (Ironie!) nicht familienbezogen genug, um nicht ihr engstes Umfeld zu verlassen und als Care-Arbeitsmigrantin für höhere Löhne gen Westen zu ziehen. Interessanterweise sind „osteuropäische Frauen“ nur solange Projektionsfläche für Schönheit, Reinheit und Erotik, solange sie jung sind. Im Zuge des Alterungsprozesses verwandeln sie sich in „Babuschkas“, die fast genau die gegenteiligen Zuschreibungen erhalten.23 Diese Bewertung ordnet sich allerdings in den größeren Zusammenhang der allgemeinen patriarchalen Logik des weiblichen Alterungsprozesses als Wertverlust einer Frau ein.
Jarzynski erwähnt der Vollständigkeit halber auch den Antislawismus, der „osteuropäische“ Männer betrifft. Auch hier existieren zahlreiche Vorurteile, die sich teilweise immer wieder in kapitalistischen Strukturen niederschlagen. So ist das Äquivalent zu „Pflege/Prostitution“ als Berufsaussicht für „osteuropäische“ Männer „Gemüseernte/Baustelle“.23 Hier zeigt sich, wie prekäre Berufe in Europa gegendert und entlang kapitalistischer Hierarchien weitergegeben werden.
Diese anti-osteuropäischen und sexistischen Stereotype wirken in alle gesellschaftlichen Richtungen, führt Jarzynski aus. So gibt es beispielsweise gesamte Fernsehformate, die sich um die „Vermittlung osteuropäischer Frauen“ an deutsche Männer drehen, wie die Sendung „Traumfrau gesucht – das Geschäft mit der Liebe“24 von RTL+ und auch in berühmten Fernsehserien wie den Simpsons tauchen „putz- und heiratsfreudige Russinnen“25 auf. Auf einschlägigen Websites finden sich zudem „Tipps im Umgang mit slawischen Frauen“, die an Bedienungsanleitungen erinnern26 und so manche Werbung im öffentlichen Raum bedient antislawische und reduzierende Klischees, beispielsweise die Buswerbung von Procura24 Pflegevermittlung27 im Jahr 2020. Schließlich zeigt sich die klare transnationale Verteilung von Care-Arbeit auch in der Ausgabe des PONS Bildwörterbuch „Deutsch für Pflegekräfte“28, welches lediglich auf den Sprachen rumänisch, polnisch und bulgarisch erhältlich ist.23
All diese Beispiele ergeben ein Bild, welches eine gewissen Funktion erfüllt, erklärt der Osteuropahistoriker Christian Petersen im Interview mit Tikhomirova: „Der abwertende, westliche Blick auf Osteuropa und Osteuropäer:innen wird noch mal verstärkt, indem osteuropäischen Frauen bestimmte sexistische Klischees zugeschrieben werden.“29 Insbesondere aus deutscher männlicher Perspektive wird die „osteuropäische Frau“ als die „exotische Andere“ imaginiert, die das Bedürfnis nach Umsorgt-werden und Begehrt-werden zu erfüllen verspricht. In der Logik dieses Narrativs, so Petersen, wollen sich slawische Frauen des „rüpelhaften, groben, gewalttätigen, ungebildeten und alkoholsüchtigen russischen Mannes“ entledigen und sehnen sich stattdessen nach einem „westlichen, fürsorglichen Mann“.30 Die misogynen Züge des Patriarchats kommen auch dadurch zum Tragen, dass sich in der „osteuropäischen Frau“ ein „vermeintliche[r] Gegensatz zur westlichen, emanzipierten Frau“ manifestiert, denn westliche Frauen verkörpern nicht mehr uneingeschränkt „traditionelle Werte wie Familie, Religion und Küche“.30 Die Suche nach der Frau, die alle ihr im Patriarchat zugedachten Rollen erfüllt, wird also im Osten fündig, ohne jedoch zwischen nationalen Zugehörigkeiten differenzieren zu müssen. Die „osteuropäische Frau“ ist feminin, normschön, christlich, fürsorglich, familiär und vor allem leicht zu kontrollieren und zu dominieren. Mit einem derartigen Stereotyp „markiert der deutsche Mann seine eigene westliche Überlegenheit und Männlichkeit, während er zugleich alles Nichtmännliche und Nichtwestliche durch rassifizierte und sexistische Zuschreibungen seinerseits abwertet“, legt Petersen dar.30 Gleichzeitig kritisiert auch er, dass das „Zusammenwirken von Sexismus und Antislawismus“ bislang kaum Gegenstand von Forschung und systematischen Auseinandersetzungen ist.30 Dieser Beobachtung folgend, wird in den folgenden Kapiteln nach möglichen Ursachen für diese wissenschaftliche Lücke gesucht.
Ideologischer Ausschluss der Geschlechterperspektive
Zunächst scheint ein Stereotyp nur eine rhetorische Figur zu sein, die in der Philologie, der Psychologie oder in den Sozialwissenschaften verortet ist. Doch bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass hinter sämtlichen diskriminierenden Annahmen historisch geformte Strukturen stecken. Diese Strukturen sind in der Regel auf Wirtschafts- und Machtsysteme zurückzuführen, die im Fall der „osteuropäischen Frau“ beispielsweise Kapitalismus, Nationalismus, Sexismus und (Mittel-)Eurozentrismus sein könnten. Geschichtswissenschaftliche Analysen können daher viel dazu beitragen, die Genealogie, Funktion und Aktualität einer diskriminierenden Figur zu verstehen.
Die vergebliche Suche nach ebenjenen Arbeiten zur Diskriminierung von „osteuropäischen Frauen“ im Fach Osteuropäische Geschichte, ist auch auf grundlegendere Leerstellen in der institutionalisierten westlichen Geschichtswissenschaft zurückzuführen. Feministische Historiker*innen problematisieren schon lange den ideologischen Ausschluss einer vielfältigen Geschlechterperspektive zugunsten einer allgemeinen männlichen Geschichtsschreibung. Die Historikerin Natali Stegmann spitzt die Situation in ihrem Aufsatz Die osteuropäische Frau im Korsett westlicher Denkmuster folgendermaßen zu: „Die allgemeine Geschichtsauffassung ist traditionell geschlechterblind. Frauen fehlen hier als Forschende wie auch als Gegenstand der Forschung.“31 Diese Zustände führten auch zur Gründung der Disziplin der Geschlechtergeschichte, welche, laut Pionierin Karen Hausen, die bisherige Geschichtsschreibung aus der Perspektive der „Menschen weißer Rasse [sic!], abendländisch-christlicher Zivilisation und männlichen Geschlechts“ dekonstruieren sollte.32
Gerade die moderne europäische Geschichtswissenschaft begann „als Projekt der Selbstvergewisserung ‚bürgerlicher‘ Nationalstaaten im 19. Jh.“ und funktionierte, indem sie „den Mann als den Menschen oder das Allgemeine, und die Frau als das Besondere“ definierte, so Stegmann.33 Dies machte es möglich „dem weiblichen Geschlecht eine spezifische Naturhaftigkeit und damit Sonderstellung in der Kultur zuzuweisen“.34 Die biologistische und binäre Unterscheidung der Menschen in ihre vorhandene oder nicht vorhandene Gebärfähigkeit band „die Frau“ fest an ihren Körper und damit an ihr Geschlecht. Potentiell gebärfähig zu sein wurde in der bürgerlichen Ideologie zu einer Lebensaufgabe, die sämtliche Pflege-, Sorge-, Haushalts- und Reproduktionsarbeit umfasste und Frauen damit ins Private verbannte. Auf diese Weise verschwanden sie aus dem öffentlichen gesellschaftlichen Raum, also dem Ort, an dem sich die (vermeintlich) wichtigsten historischen Ereignisse abspielten. Laut Hausen wurde noch im 20. Jahrhundert fest daran geglaubt, „daß [sic!] in den Geschlechtskörper des männlichen Geschlechts der öffentliche Bereich mit der ihm zugesprochenen Geschichtsmächtigkeit und in den des weiblichen Geschlechts der familiale Bereich […] eingeschrieben sei.“35 So wurde die Öffentlichkeit – und damit auch die Geschichte – männlich und „der historischen Erforschung der Geschlechterordnungen und Geschlechterverhältnisse“ lange Zeit die „Wissenschaftlichkeit und Relevanz“ verwehrt.36
Aus geschlechterhistorischer Sicht muss die „allgemeine“ Geschichtsschreibung in diesem Kontext selbst als einseitig und unwissenschaftlich entlarvt und mit ihrer Tradition der Marginalisierung nicht-dominanter Perspektiven gebrochen werden. Karin Hausen hält fest, dass bei der Etablierung der universitären Geschichtswissenschaft „Frauen als Geschichtsschreiberinnen überhaupt nicht und als Gegenstand des historischen Interesses nur selten“ vorkamen.35 Stegmann beschreibt, wie unterschiedlich die Beforschung gesellschaftlicher Phänomene bewertet wurde: Frauen „bevölkerte[n]“ aus geschichtswissenschaftlicher Sicht häufig die „gesellschaftlichen Ränder und die sozialen Abgründe, die einer historischen Rezeption unwürdig erschienen.“33 Natali Stegmann verweist mit Karin Hausen auf die von Geschichtsschreibern angestrebte „Einheit der Geschichte“, welche komplexere oder widersprüchliche historische Darstellungen verhinderte.33 In ihrer Programmatik der Geschlechtergeschichte fordert Hausen dazu auf „der sogenannten allgemeinen Geschichte ihren bisherigen Platz streitig zu machen und deren jahrzehntelang eingeübte konsequente Fixierung auf männerdominierte Öffentlichkeit zu kritisieren und auszuhebeln.“37 Dieser Parole folgend, versuchen Geschlechterhistoriker*innen ebenso wie rassismuskritische und postkoloniale Historiker*innen38 eine diversere, widersprüchlichere und mehrdimensionale Geschichtsschreibung zu entwerfen.
Dennoch steht die aktuelle Geschichtswissenschaft an deutschen Universitäten nach wie vor im Erbe ihrer euro- und androzentrischen Einheitserzählung. Stegmann konstatiert (noch) 2002 auch für die Osteuropäische Geschichte eine „allgemeine, unter dem Fokus der männlichen Menschheitsgeschichte arbeitende, Frauen nur am Rande wahrnehmende Geschichtsauffassung“.39 Auch wenn dies zunächst als logische Folge des größeren, binären Geschichtsparadigmas erscheint, macht dieser Befund stutzig, denn der hierarchische Dualismus „Allgemein – Besonders“ betrifft das Fach selbst. Vielmehr befindet sich die Osteuropäische Geschichte in einer ähnlichen Abseitsposition wie die Geschlechterforschung. Auch die Osteuropäische Geschichte wurde im universitären Kontext als das Besondere zum Allgemeinen angelegt. Wäre es nicht naheliegend, sich dem Programm der Geschlechterhistoriker*innen anzuschließen und mit dem dualistischen Denken von Allgemeinem und Besonderem auch die „Aus- und Einschlußmechanismen in der Geschichte Osteuropas, im westlichen Denken und im Wissenschaftsbetrieb“40 zu durchbrechen?
Die Frau und Osteuropa
Nicht nur Natali Stegmann ist überzeugt, dass sowohl die Osteuropäische Geschichte als auch die nicht-männliche Position in der Geschichte institutionelle Marginalisierungen erfahren. Auch die Historikerinnen Claudia Kraft und Beate Fieseler unterstellen dem Fach Osteuropäische Geschichte aufgrund seines Sonderstatus das Potential, die Geschlechterperspektive mitzudenken.
Was haben die beiden Begriffe „Frau“ und „Osteuropa“ gemeinsam? Zunächst einmal sind sie Konstrukte, das heißt sie wurden erschaffen und mit Bedeutung versehen. Und daraus folgt die zweite große Gemeinsamkeit: Sie wurden als das Besondere, als das Andere entworfen. Denn die Autor*innenschaft dieser Begriffe liegt nicht bei den Bezeichneten selbst. Die binären Geschlechtskategorien setzen maßgeblich die männliche Perspektive als Ausgangspunkt, sodass der Mann, das Subjekt der Geschichte, also der Mensch an sich ist und als Gegenstück dazu die Frau das Objekt, der andere Mensch sein muss. Ebenso wird „Osteuropa“ im deutsch-akademischen Kontext aus dem Bewusstsein heraus betrachtet, als ein anderes Europa in Beziehung zum eigentlichen Europa zu stehen. Es fällt nicht schwer auch hier eine Art Subjekt-Objekt-Verhältnis aus west- und mitteleuropäischem Standpunkt zu unterstellen. Europa brauche das „Andere“, um „sich selbst als ‚Zivilisation‘ zu beschreiben“ – ebenso wie der Mann nur durch „das andere Geschlecht“ zur Norm, zum Allgemeinen werden kann, analysiert Claudia Kraft.22 In dieser Parallele sieht die Historikerin vor allem subversive Kapazitäten. Sowohl die osteuropäische als auch die Geschlechtergeschichte könne es schaffen „einer essentialistischen Sichtweise“ entgegenzuwirken, indem sowohl Europa/Osteuropa als auch Mann/Frau als relationale Kategorien entlarvt würden.41 Diesen Optimismus kann Stegmann 2002 noch nicht teilen, denn anders als die Geschlechtergeschichte reflektiere „die Osteuropäische Geschichte bislang kaum den ihrer Arbeit zugrundeliegenden Dualismus.“42 Folgt man dieser Diagnose, bleibt die Frage, warum sich die Osteuropäische Geschichte nicht mit der Geschlechtergeschichte verbündet hat, um ihre Position(en) im akademischen Feld zu stärken?
Stegmanns Kritik steht zum einen im Kontext der ungleichen personellen Besetzung von Forschung und inhaltlicher Lehre. Zum 100jährigen Jubiläum des Fachs Osteuropäische Geschichte weist die Historikerin Beate Fieseler in ihrer Rede auf die „auffällige Unterrepräsentanz von Frauen vor allem auf den höheren hierarchischen Ebenen“ hin, vielmehr würden sie „völlig überqualifiziert“ auf schlechtbezahlten Stellen sitzen.43 Zudem kritisiert sie die Konsequenzen, die die „fast totale Vermännlichung der akademischen Disziplin“ für die Lehre hatte: Erst ab Mitte der achtziger Jahre wurden auf weibliche Initiative hin einige geschlechterhistorische Kurse angeboten.44 Daran schließt Stegmann zehn Jahre später an: „Die Osteuropäische Frauen- und Geschlechtergeschichte ist eine Initiative des weiblichen Mittelbaus.“39 Der Nachholbedarf der Osteuropäischen Geschichte, konstatiert Stegmann, werde vor allem von““Doktortöchtern“ bearbeitet, die in ihrer Forschung „nur selten an einschlägige Vorarbeiten anknüpfen“ können und sich mit ihrer Themenwahl möglicherweise sogar Karrieren verbauen.45 Zwischen den Zeilen klingt hier das überwiegende Desinteresse der Doktorväter heraus, welches ursächlich im Privileg des Nichtbetroffenseins von strukturellem Sexismus zu finden sein könnte. Schließlich beschreibt auch Kraft den „universitären Alltag“ so, dass „diskursive Zuschreibungen in ganz realen Formen der Macht- und Ressourcenverteilung münden: Die Stellung der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der Osteuropäischen Geschichte an deutschen Universitäten ist trotz ihres jeweiligen heuristischen Potentials keineswegs komfortabel.“41 Die Zeugnisse dieser drei Historikerinnen zeigen ein Ungleichgewicht der Besetzungen, der Förderung und der Berufsbedingungen auf, welches faktisch und materiell eine intensive Zusammenarbeit mit der Geschlechtergeschichte und –forschung verhindert haben könnte.
Ein möglicher zweiter Grund findet sich in den inhaltlichen Herausforderungen dieser Allianz, denn ein einfaches Übertragen der Erkenntnisse westeuropäischer oder US-amerikanischer Frauen- und Geschlechterforschung auf die Osteuropäische Geschichte kann es laut Stegmann nicht geben: „Die grundlegenden und wichtigen Einsichten der westlichen Frauen- und Geschlechterforschung in die Funktionsweisen bürgerlicher Ausschlußmechanismen bleiben, auf Osteuropa übertragen, merkwürdig hohl.“46 Beispielhaft verweist sie auf die unterschiedliche Geschichte der Einführung des Stimmrechts für Frauen, welches in westeuropäischen Ländern separat zum allgemeinen Stimmrecht, in vielen osteuropäischen Ländern jedoch zeitgleich geschah.47 Allein dieser historische Prozess legt eine differenzierte Betrachtung nahe. Auch Kraft führt anschaulich vor Augen wie grundlegend die Kategorie ‚Geschlecht‘ für die Schaffung von Gesellschaftssystemen ist und wie „unterschiedliche Gleichheitsvorstellungen in Ost und West“ die Differenzen von Ost- und Westeuropa geprägt haben, so weisen zum Beispiel Diskurse über den Staatssozialismus als „Fürsorgediktatur“ eindeutige geschlechtliche Konnotationen auf.41 Hier fordern Kraft und Stegmann zum Weiterdenken auf. Anstatt „westliche Erfahrungsmuster und Denkschemata auf Osteuropa“ zu beziehen, brauche es eine eigene Osteuropäische Geschlechtergeschichte, die ihrer doppelten Marginalisierung entgegentritt.48 Stegmann betont, dass die geschlechtliche Perspektive ebenso notwendig wie bereichernd für die Geschichte im Allgemeinen und die Osteuropäische Geschichte im Besonderen sei, weil die „Orientierung am Geschlechterdualismus als grundlegend für die Ausgestaltung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und kultureller Deutungsmuster“ gilt.49 Sie ist also grundlegend, um mehrdimensionale Forschung zu betreiben, Quellen kritisch einzuordnen und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. Und umgekehrt: „Von der Geschichtswissenschaft lernte die Frauenbewegung – und nicht nur die – vor allem, daß Geschlechterzuschreibungen historisch und eben nicht naturgegeben sind“.50 Das gegenseitige Mitdenken würde demnach beide Fächer bereichern und gemeinsame Motive weiterentwickeln können. Beispielsweise hebt Kraft das Potential, das „einer kritischen Reflexion impliziter Raumvorstellungen inne wohnt“ aus der Osteuropäischen Geschichte hervor, welches, mit der Analysekategorie Geschlecht verknüpft, „ebenfalls geeignet ist, die ‚allgemeine Geschichte‘ zu dezentrieren, um deren unhinterfragte forschungsleitende Prämissen offenzulegen“.41 Indem Kritiken zur Deutungshoheit von Raum und Geschlecht zusammengedacht werden, könne „Ostmitteleuropa-Forschung ihren Beitrag zur doppelten Dezentrierung des europäischen Zentrums leisten“.41 Dabei verweist Kraft auch auf die Notwendigkeit einer intersektionalen Betrachtungsweise angesichts der „ethnisch, kulturell und konfessionell fragmentierte[n] Landschaft Mittel- und Osteuropas“ – als Gegenentwurf zu homogen gedachten Narrativen und Begriffen.41 Eine Osteuropäische Geschlechtergeschichte könnte als politisches Projekt künftig also mehrere Zentren der hegemonialen Geschichtsschreibung angreifen und dafür eine eigene machtkritische und intersektionale Perspektive entwickeln.
Lücken und Möglichkeiten
Der wunde Punkt, den Jarzynski mit ihrer Eingangsfrage getroffen hat, scheint also zusätzlich auch namenlos und weitgehend unerforscht zu sein, zumindest aus historiographischer Perspektive. Dies ist laut Petersen, Stegmann und Kraft kein Zufall, denn die Leerstelle der „osteuropäischen Frau“ in der allgemeinen und konkreten geschichtswissenschaftlichen Forschung ist die logische Konsequenz eines männlichen, westeuropäischen und institutionalisierten Blickes auf Geschichte. Seit Beate Fieseler dieses Problem in ihrer Rede 1992 erstmalig angesprochen hat, ist einiges im Fach Osteuropäische Geschichte geschehen. Doch es mangelt immer noch an Lehrstühlen, Vernetzungen, Forschungsprojekten und Seminaren zu geschlechtersensibler Osteuropaforschung und –geschichte. Dort, wo die Entstehung und Funktionsweise des Bildes „osteuropäische Frau“ ausgiebig erforscht und sichtbar gemacht werden könnte. Solange diese Lücke nicht geschlossen wird, bleibt das Bild wirkmächtig – als institutionalisierte Struktur, die antislawische und sexistische Stereotype vermischt und auf gesellschaftlicher Ebene bedient – und als konkrete Betroffenheit und Fremdzuschreibung im (akademischen) Alltag. Der Kreislauf schließt sich an der Stelle, an der alle Osteuropaforscher*innen, die weiblich und „osteuropäisch“ gelesen werden, im deutschsprachigen Raum diese namenlose Diskriminierung erfahren müssen. Nicht nur in privaten Gesprächen oder unwissenschaftlichen Fragen nach Vorträgen oder auf Tagungen, sondern auch in ihrer Forschung. Wie sollen diese Wissenschaftler*innen über den westlichen Blick auf „osteuropäische Frauen“ schreiben, wenn sie keine Worte für ihre eigenen Erfahrungen haben? Wie sollen sie über etwas Unbenanntes sprechen?
Die Osteuropäische Geschichte sollte nicht länger die Augen vor den Mechanismen verschließen, die sie kleinhalten. Denn die Dominanz der Norm (sei es der westliche oder der männliche Blick), die die Marginalisierung aller „anderen“ Positionen zur Folge hat, muss benannt werden. Wenn wir eine Sprache finden, um zu benennen, welche Diskriminierung weiblich gelesene Menschen mit polnischen, bosnischen, tschechischen, russischen usf. Namen erfahren, dann finden wir vielleicht auch Begriffe für den Rassismus gegen „osteuropäische“ Menschen, die nicht-slawisch sind. Dann wird es möglich, geschichtsträchtige Phänomene und Narrative in all ihrer Komplexität zu analysieren und besser zu verstehen. Und damit würde die Osteuropäische Geschichte, zumindest Stegmann und Kraft zufolge, ihrer Aufgabe und ihrem Potential gerecht.
Von besonderem Nutzen kann dabei ebenfalls das Aufeinandertreffen von „Ost“ und „West“ in der deutschen Geschichte sein. Denn die biographische und gesellschaftliche sozialistische Prägung ehemaliger DDR-Bürger*innen hatte nach dem Fall der Mauer eine weitreichende Stigmatisierung des „Ostens“ und der „Ossis“ zur Folge. Gerade dieser Post-Wende-Diskurs, der sich ebenfalls in Machstrukturen und somit Forschungsinteressen niederschlägt, bietet gute Anschlussmöglichkeiten, um die innerdeutschen Perspektive(n) zu vervielfältigen und sich hegemonialen „westlichen“ Erzählungen zu verweigern.
Die interdisziplinäre Allianz, die die Osteuropäische Geschichte (teilweise schon jetzt) mit der Geschlechtergeschichte und aktuellen feministischen Analysen eingeht, verspricht sehr bereichernd zu werden. Sie könnte bei einer Genealogie der „osteuropäischen Frau“ beginnen und schließlich zu einem Begriff werden, der – ähnlich wie misogynoir51 – ebenjene geschlechtsspezifische und rassistische/antislawische Diskriminierung bezeichnet und sie im akademischen und gesellschaftlichen Kontext sichtbarer macht.
Jarzynskis Empfehlung folgend, soll das Attribut „osteuropäisch“ auch in der vorliegenden Arbeit in Anführungszeichen gesetzt werden. Damit soll die Unwissenschaftlichkeit und Konstruiertheit dieses Begriffs markiert werden. Gerade die Gruppierung „osteuropäische Frauen“ unterliegt einer künstlichen Homogenisierung, welche regionale, nationale, historische oder klassenspezifische Differenzen verschleiert.[↩]
Jarzynski, Lisa: Antislawismus und Sexismus. Die Figur der „osteuropäischen Frau“. Bochum 2023.[↩][↩]
Rybicki, Britta (2018): Ich bin nicht deine Traumfrau aus dem Ostblock! In: Supernova, 10.12.2018[↩]
Spindler, Susanne: Feminisierung von Migration – Formen und Folgen weiblicher Wanderungsprozesse. In: Hentges, G., Platzer, HW. (Hg.) Europa – quo vadis? Wiesbaden 2011, S. 171-186.[↩]
Friese, Marianne: „Die osteuropäische Akademikerin, die im westeuropäischen Haushalt dient“. Neue soziale Ungleichheiten und Arbeitsteilungen zwischen Frauen. In: Modelmog I., Gräßel U. (Hg.) Konkurrenz & Kooperation. Frauen im Zwiespalt? Münster 1995, S. 171–191.[↩]
Regulska, Joanna: Der Gleichstellungsdiskurs der Europäischen Union und seine Folgen für Frauen in Polen. In: Dittmer, S., Jörs, I., Ruge, U. (Hg.) EU-Beitritt: Verheißung oder Bedrohung? Wiesbaden 2003. S. 121-151.[↩]
Kandioler, Nicole; Kaiser, Christian: Widerständige Nostalgie: Osteuropäische Film- und Fernsehkulturen, 1965-2013. In: MEDIENwissenschaft: Rezensionen, Reviews, Jg. 39 (2022), Nr. 4, S. 396-371.[↩]
Farrokhzad, Schahrzad: Exotin, Unterdrückte und Fundamentalistin: Konstruktion der „fremden Frau“ in deutschen Medien, In: Butterwegge C., Hentges G. (Hg.) Massenmedien, Migration und Integration. Wiesbaden 2006, S. 55-86.[↩]
Um alle geschlechtlichen Identitäten einzuschließen, wird in dieser Arbeit durchgehend auf das generische Maskulinum verzichtet und stattdessen die inklusive und geschlechtergerechte Asterisk (*) Schreibweise genutzt, auch wenn die Autor*innenschaft von Beiträgen über die Diskriminierung „osteuropäischer“ Frauen zu einem auffällig hohen Anteil bei weiblich gelesenen Namen liegt. Anmerkung der Autorin.[↩]
Jancar, Barbara: Zur Rolle der Frau in der kommunistischen Gesellschaft: Ergebnisse einiger persönlicher Beobachtungen, Osteuropa, Vol. 26, No. 7 (1976), S. 528-548.[↩]
Goehrke, Carsten; Haumann, Heiko: Osteuropäische Geschichte: Konstruktionen – Geschichtsbilder -Aufgaben. Ein Beitrag aus Schweizer Sicht, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Bd. 52, H. 4, Themenschwerpunkt: Stalinismus und Religion (2004), S. 585-596.[↩]
Petrenko Olena: Unter Männern. Frauen im ukrainischen nationalistischen Untergrund 1929-1954, Paderborn 2018.[↩]
Kraatz, Susanne; von Steinsdorf, Silvia; de Nève, Dorothée: Osteuropaforschung ohne Frauen? Osteuropa, Vol 53, No. 5 (2003), S. 635-646.[↩]
Fieseler, Beate: 100 Jahre „Osteuropäische Geschichte“. Versuch einer ersten Bestandsaufnahme aus Frauensicht. In: Eine neue Sicht auf Europa. Feministische Perspektiven in der Osteuropakunde. Wiesbaden 1992.[↩]
Stegmann, Natali: Die osteuropäische Frau im Korsett westlicher Denkmuster. Zum Verhältnis von Osteuropäischer Geschichte und Geschlechtergeschichte. In: Osteuropa Vol. 52 (Nr. 7) 2002, S. 932-944.[↩]
Kraft, Claudia: Die Geschlechtergeschichte Osteuropas als doppelte Herausforderung für die „allgemeine“ Geschichte. Themenportal Europäische Geschichte 2006.[↩][↩]
Beschreibungstext: „Sie suchen seit Jahren vergeblich nach einer passenden Partnerin und haben den Traum von der großen Liebe noch nicht aufgegeben: Drei deutsche Männer im besten Alter versuchen ihr Glück in Russland, Rumänien und der Ukraine.“ https://www.tvnow.de/shows/traumfrau-gesucht-1737[↩]
Stegmann, Natali: Die osteuropäische Frau im Korsett westlicher Denkmuster. Zum Verhältnis von Osteuropäischer Geschichte und Geschlechtergeschichte. In: Osteuropa Vol. 52 (Nr. 7) 2002, S. 932.[↩]
Hausen, Karin: Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte. In: Hans Medick und Anne-Charlott Trepp (Hg.): Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen 1998, S. 21.[↩]
Österreich ist in der heutigen Wahrnehmung keine klassische Kolonialmacht wie Frankreich, das vereinte Königreich oder das deutsche Kaiserreich. Jedoch gibt es neuerdings Meinungsverschiedenheiten in der Geschichtswissenschaft darüber, ob Österreich wirklich keine Kolonialmacht sei. Der Historiker Sauer hebt auf den S. 7f. und 17f. hervor, dass die Donaumonarchie zwar kolonisatorische Ambitionen und Ziele hatte, allerdings keine Überseegebiete langfristig etablierte und daher keine Kolonialmacht sei. Auf diese Meinung antwortet Ruthner, welcher stattdessen auf S. 37 hervorhebt, dass die Donaumonarchie heutzutage als imperialistische „(Pseudo-)Kolonialmacht“ aufgrund dessen imperialistischer Bemächtigung anderer Volksgruppen bewertet werde. Darunter fielen dann auch die Ukrainer im sogenannten Kronland „Galizien und Lodomerien“. Sollte es sich um eine Kolonie handeln, dann müsste die Identitätsbildung der ukrainischen Bevölkerung im Kronland von der Kolonialmacht beeinflusst worden sein, was im Rahmen eines Kolonialdiskurs geschehe, und mithilfe postkolonialer Theorien erforscht werden kann. Es wäre dann wichtig die Identitätsbildung der Ukrainer zu betrachten, da diese Bildung die heutige Identität der Ukrainer zumindest mitbestimmte. Diese wurde nun erneut mit der Invasion durch Russland im Jahr 2022 herausgefordert. In diesem Essay soll gezeigt werden, wieso Galizien eine Kolonie Österreichs war anhand der Untersuchungen diverser heutiger Historiker und anhand postkolonialer Theorien werden die Argumente der ukrainophilen ukrainischen Historiker für eine eigene ukrainische Identität gegen Ende der Habsburgerherrschaft erklärt. Dazu sollen zuerst die kolonialen Ambitionen und Strategien Österreichs in Galizien anhand von Sekundärliteratur aufgezeigt werden, während dann im Anschluss die Konzepte des Othering und der Travelling Theory für die Erklärung der ukrainischen Identität bei den ukrainophilen Historikern verwendet werden.
Zuerst müssen die kolonisatorischen Ambitionen Österreichs in Galizien festgehalten werden. Die Gebiete des Kronlandes waren, wie Mark auf S. 1 hervorhebt, für circa 400 Jahre unter polnischer Kontrolle, bis 1772 diese dann von Österreich erobert wurden. Dieses Gebiet wurde, wie Maner auf S. 28ff. anhand Aussagen Maria Theresias und Metternichs zeigt, zur Stärkung der eigenen Position gegenüber Russland und Preußen erobert. Danach entwickeln sich jedoch Siedlungsintentionen bei den Eroberern. Rosdolsky hebt auf die S. 25f. hervor, dass Joseph II. und Maria Theresia das Ansiedeln als wirtschaftlichen Motor sahen. Daher sieht Maner auf den S. 49f. im Ansiedlungspatent Maria Theresias und am Toleranzpatent Josephs II den Versuch in diesem Gebiet Bevölkerungsgruppen von anderen Erbländern anzusiedeln. Deshalb muss hier nach Osterhammels Definition auf S. 11 zumindest von einer Grenzkolonisation, welche die Ansiedlung im Grenzland aus wirtschaftlichen Gründen beinhaltet, und damit auch von einer Kolonie gesprochen werden. Wolff zeigt auf den S. 80 und 97, dass Metternich 1815 nun eine neue Strategie plante, nämlich die Schaffung einer „galizischen“ Kultur aus der polnischen, und diese solle schließlich in eine deutsche münden, um aus dem „unzivilisierten Orient“, welches seines Erachtens bereits mit den Landstraßen östlich Wiens beginne, einen „zivilisierten“ zu schaffen. Hier kann also klar von einer Zivilisierungsmission in der österreichischen Betrachtung auf das Kronland gesprochen werden. Und für Pergen und Kaunitz, so Rosdolsky auf den Seiten 51f., gleiche das Leben der Bauern im neuen Kronland „eher dem Vieh“, sodass diese von der „Ausbeutung und Bedrängnis“ durch den polnischen Adel beschützen werden müssen. Damit haben sich die wirtschaftlichen Interessen auch mit einer Zivilisierungs- und Schutzmission kombiniert. In den folgenden Jahren änderte sich jedoch die österreichische Strategie in Galizien. Stattdessen war nun die Strategie Wiens, die ukrainische Bevölkerung und die polnische Bevölkerung gegeneinander auszuspielen, wie Kappeler auf S. 122 bemerkt. Die ukrainischen Bauern und Eliten waren der österreichischen Regierung nämlich äußerst loyal, wie Wendland auf den Seiten 31ff. zeigt. Nach der Änderung der Strategie kann also nicht mehr von Grenzkolonisation geredet werden, da die Ansiedlung ausfällt. Stattdessen zeigen die Bemühungen der Habsburger, die Steuerkraft der Bauern für die zukünftige Besteuerung zu erhöhen, die Rosdolsky auf den Seiten 20f. aufzeigt, dass hier stattdessen von einer Beherrschungskolonie nach Osterhammel auf S. 18 gesprochen werden sollte, welche statt auf Siedlungen nun auf Besteuerung setzt. Es kann also anhand Osterhammels Definitionen immer noch klar von einer Kolonie gesprochen werden.
Um die Ukrainer gegen die Polen auszuspielen, müssen erstere zunächst definiert werden, was im Rahmen eines Diskurses geschieht, welcher unter anderem von Historikern, Politikern und Zeitungen geführt werden kann. Wichtig für den Diskurs stellt das sogenannte Othering dar. Dieses, so Saids „The Text, The World, The Critic“ auf den Seiten 12f., hebt die Unterschiede der anderen zu der eigenen Kultur hervor, wodurch die Herrschaft legitimiert werden soll. Jedoch sind die Darstellungen zu den Ukrainern bei den Österreichern höchst unterschiedlich. Das fängt bereits bei der Namensgebung an. Die Ukrainer erhielten diverse Namen, wie beispielsweise „Malorussen“ bei von Gretzmillern, „Rußniaken“ in einem Artikel der Vaterländischen Blätter oder auch „Ruthenen“ innerhalb der österreichischen Verwaltung, wie Mark auf S. 78 hervorhebt. Auffallend ist hier, dass für Franz von Gretzmillern deren Sprache einem polnischen Dialekt ähnele und für die Vaterländischen Blätter deren Sprache dagegen einem russischen Dialekt ähnele. Denn es bestand der Vorwurf, welcher ursprünglich aus polnischer Seite gekommen sei, dass die ukrainische Sprache lediglich ein polnischer, beziehungsweise ein russischer Dialekt sei und dass die Ruthenen vom österreichischen Statthalter Galiziens Graf Stadion erfunden worden seien, wie der zeitgenössische ukrainische Domherr Malynovs’kyj 1861 auf den S. 544f. darstellt. Dieser Vorwurf lässt sich auch in deutschsprachigen Magazinen und Memoiren finden. So behauptet der ins Exil verbannte österreichische Revolutionär Violand auf S. 246, dass diese erfunden worden seien, um Galizien zu spalten und das Magazin für Pädagogik behauptet auf den S. 53f. „Stadion hat die Ruthenen erfunden“, weil diese keine eigene Sprache hätten und damit kein eigenes Volk sein könnten. Die ukrainische Sprache wurde lange ignoriert, sodass diese, wie Wöller auf S. 65 hervorhebt, erst 1868 Subventionen für „ruthenische“ Lehrbücher an Schulen eingeführt wurden und dennoch spielte Deutsch die wichtigere Rolle in der höheren Bildung, da viele Unterrichtstexte nur auf Deutsch waren, wie Woldan auf S. 146 anmerkt. Dadurch lernten viele Ukrainer Deutsch und setzten sich dementsprechend mit deutschen Quellen auseinander. Hier zeigt sich, dass im deutschsprachigen Raume so wenige Kenntnisse über die Ukrainer existierten, dass manche davon ausgingen, dass diese erfunden seien. Hruschewskyj hebt auch die geringen Kenntnisse 1916 in seiner Einleitung mit seiner Feststellung hervor, dass es nur drei westeuropäische Gesamtdarstellungen der ukrainischen Geschichte gäbe. Jedoch ist der Diskurs auch nicht einheitlich, da beispielsweise der von 1840-46 amtierende Gubernialrath Moritz von Sala auf den Seiten 102 und der zeitgenössische Historiker Anton Springer auf S. 581 den Vorwurf einer Erfindung der Ruthenen ablehnen. Der Kolonialdiskurs bei Saids Orientalism auf S. 70 benötigt eine kontinuierliche Selbstbestätigung seiner Inhalte, um jemand anderes zu definieren und als unveränderlich darzustellen, doch dieser war, wie hier gezeigt wurde, nicht vorhanden aufgrund der wenigen und auch widersprüchlichen Darstellungen im deutschsprachigen Raum. Dadurch konnten ukrainophile ukrainische Historiker den deutschsprachigen Diskurs selbst mitbestimmen, da der seitens den Österreichern geführte Diskurs sich nicht selbstbestätigte.
Dies wurde, wie Wöller auf den S. 153ff. zurecht darstellt, mit einem Vergleich zwischen der eigenen Kultur und der polnischen und russischen getan, um sich von diesen zu distanzieren, also Othering aber diesmal durch ukrainische Historiker. Dieses findet dabei auf verschiedenen Ebenen statt. Betrachten wir zuerst die Sprache, dann fällt Kušnir auf. Kušnir behauptet in „Die Ukraine und ihre Bedeutung im gegenwärtigen Kriege mit Russland“ auf S. 7, dass in der ukrainischen Sprache „über 2000 Kilometer, so gut wie gar keine Dialektunterschiede bestehen“ und diese klar etwas Eigenes darstelle. Daher könne Sprache nicht als Argument gegen eine ukrainische Nationalität verwendet werden, da diese einheitlich und klar abgrenzbar sei. Dadurch wird die Sprache ein Argument für die ukrainische Nationalität, wie Woldan auf S. 143 anmerkt. Wöller bemerkt auf den Seiten 347ff., dass ukrainophile Historiker ab dem ersten Weltkrieg Argumente basierend auf „Rasse“ verwendeten, welche zuvor von polnischen Wissenschaftlern gegen Russen und Ukrainern verwendet wurden. So erweiterte Rudnyćkyj 1916 die sprachlichen Argumente, indem er Verbindungen zwischen der Sprache und Rasse zieht. Auf den Seiten 187ff. erklärt dieser, dass aus anthropologischer Sicht die Ukrainer mit anderen Südslawen enger verwandt seien und deshalb Ukrainer es äußerst schwer fiele Russisch zu lernen. Zuvor verwendet er 1916 auf den Seiten 178-184 ukrainische sowie russische durchschnittliche Größen, Augen- und Haarfarben und andere körperliche Charakteristika, um zu argumentieren, dass zum einen die Ukrainer nicht nur einen eigenen Typus bilden würde, der kaum „Beimischungen“ enthielte, sondern auch zum anderen, dass Russen einer „orientalischen finnisch-mongolischen“ Rasse zugehören würden. Damit werden auf Basis der Sprache und „Rasse“ eine ukrainische Eigenheit und Einheitlichkeit geschaffen, die die Differenzen zwischen Ukrainer untereinander minimiert und diese von Russland abgrenzt. Die Trennung der Ukraine und Russland wird hier auch eine zwischen Europa und Asien, wie Wöller zurecht auch auf den S. 347f. hervorhebt. Asien selbst wird dabei als ein Feind wahrgenommen. So beschreiben der „Ukrainischer Klub des Reichsrates“ die Ruthenen als eine „Schutzwehr“ gegen die Tartaren und Türken (S. 3f.), Barwinskyj diese als ein „Schutzwall Europas“ (S. 49) und Hruschewskyj diese als ein „Bollwerk“ (S. 31). Dieses Bild findet sich bereits bei Johann Christians Engels Geschichtswerk zur Ukraine im Jahr 1792, zum welchen Wöller auf den S. 130 und 290f. hervorhebt, dass das zur Legitimierung der Habsburger Herrschaft in Galizien geschriebene Werk von ukrainischen Historikern übernommen wurde. Engel beschreibt in diesem Werk auf S. 2 und 19f. die Ukraine als „Scheidewand“ zwischen Europa und Asien, woher er auch den Ursprung des Namens „U Krajne“ (Grenzland) zog und die Kosaken als Schutzengel der Polen gegen Russen und Tartaren charakterisiert. Das Werk Engels 1796 wird von Kušnir auf S. 3 seines Buches zur Bedeutung der Ukraine im Krieg gegen Russland besonders hervorgehoben und es ist eines der drei von Hruschewskyj in seiner Einleitung genannten westeuropäischen Werke zur ukrainischen Gesamtgeschichte.
Bei den vereinheitlichenden Darstellungen der Ukrainer durch die ukrainophilen Autoren kann von einer Fixierung ersterer gesprochen werden. Im Kolonialdiskurs stellt die Fixierung des anderen diesen als unveränderlich dar. Somit wird den anderen ein natürliches Wesen zugesprochen, wobei dies auch vom kolonisierten Volk selbst ausgehen kann, wie Bhabha auf den S. 74ff. hervorhebt. So werden Stereotypen zum eigenen Volk geschaffen, die dann auch zur Abgrenzung der eigenen Gruppe zu den anderen bildet. Hier wird das natürliche Wesen der Ukrainer durch die Historiker anhand einer eigenen einheitlichen Sprache und „Rasse“ definiert und Rudnyćkyj fügt dem 1916 eine natürliche europäische Kultur auf den Seiten 195, 203-206 hinzu, denn diese im Bewusstsein des „analphabeten“ Bauern seit ein Jahrtausend lebenden Traditionen, entsprächen nun den demokratischen und freiheitlichen Werten der „zivilisierten Welt“. Damit wird die Ukraine durch diese ukrainischen Historiker als permanenter und natürlicher Teil Europas anhand der Sprache, der „Rasse“ und Kultur bewertet. Mithilfe der Travelling Theory bei Said können wir uns erklären, von wo diese Argumente kommen. Die Travelling Theory bei Saids „The Text, The World, The Critic“ auf den S.226f. sieht für jede Theorie einen Ursprung, eine zeitliche und räumliche Distanz, Widerstände und schließlich die Annahme der Theorie beim Kolonisierten, wobei die Theorie selbst sich signifikant verändern kann. Der Ursprung der Theorie, dass Sprache eine Voraussetzung für ein eigenes Volk sei, findet sich, wie auf S. 3 im Essay dargestellt, bei den Gegnern einer ukrainischen Eigenständigkeit. Der Widerstand findet hier bei der Gleichsetzung der ukrainischen Sprache mit einer anderen statt, wobei die Konzeption, dass Sprachen ein Volk definieren können, angenommen wurde. Die Rolle der Ukraine als „Schutzwall“ Europas wurde, wie Wöller auf den S. 290f. zeigt, von Engel übernommen, wobei diese mit Rassetheorien erweitert wurde. Dieser deutschsprachige Text konnte durch die Präsenz der deutschen Sprache in der höheren Bildung in Galizien gelesen werden und überquerte somit eine zeitliche Distanz von über einhundert Jahren. Interessanterweise wird auch die Zivilisierungs- und Schutzmission des Kolonisators Österreichs übernommen, da Rudnyckyj 1915 auf S. 31 die Ukraine bei einer „low stage of culture“ sieht und auf den Seiten 21ff. in Kušnirs Werk über Galizien, unterstützt dieser sogar einen Verbleib der Ukraine in Österreich, da er den Schutz durch die Habsburger vor anderen Staaten als notwendig erachtet. Damit wurden die Argumente der Kolonisatoren aus den Zeiten des Versuchs der Etablierung einer Siedlungskolonie von den kolonisierten selbst Jahrhunderte später zur Legitimierung einer anhaltenden österreichischen Präsenz noch verwendet.
Es wurde anhand von Sekundärliteratur gezeigt, wieso Galizien als eine österreichische Kolonie betrachtet werden sollte, wobei diese als Grenzkolonisation anfing und durch eine Beherrschungskolonie ersetzt wurde. Auch wurde anhand zeitgenössischer Quellen gezeigt, dass der Kolonialdiskurs der Österreicher widersprüchlich verlief und diese kaum Kenntnisse zu den Ukrainern hatten. Dadurch entstand eine selbstbewusste ukrainische Geschichtswissenschaft, die die ukrainische Identität basierend auf den sprachlichen Theorien der Gegner einer ukrainischen Eigenständigkeit, den polnischen Argumentationen von Rasse und einem österreichischen Geschichtswerk zur Legitimierung der österreichischen Herrschaft in Galizien, im deutschsprachigen Kolonialdiskurs selbst definierte, wobei weiterhin die österreichischen Schutz- und Zivilisierungsmissionen beibehalten werden. Dabei wurden Theorien verwendet, die entweder die Ukrainer aus Europa ausgrenzen sollten oder diesen ihre Eigenständigkeit absprechen sollten. Diese Theorien wurden nun entgegen ihrem ursprünglichen Sinn verwendet. Mithilfe der Travelling Theory Saids wurde erklärt, wie die Theorien für ihren neuen Zweck angepasst worden sind. Die Frage, wer die Ukrainer sind und wie diese definiert werden können, spielt bis heute eine große Bedeutung, da diese Frage mit der jüngsten Invasion der Ukraine durch Russland auch heute noch mit geopolitischen Folgen gestellt wird. Daher sollte bereits früh die Bildung einer selbstbewussten ukrainischen Identität betrachtet werden.
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„Der Überlebende fühlt zum erstenmal einen nationalen Boden unter seinen Füßen. Von diesem Moment an weicht die Nation nicht mehr von ihm: man findet sie dort, wohin er geht, wo er ist, niemals weiter weg – sie wird eins mit seiner Freiheit.“ 1
Bereits Sartre beschrieb es mit seinen Worten treffend und zurzeit passender denn je, dass ein nationaler Boden dem Menschen auch das Gefühl von Zugehörigkeit gibt – ein Nationalgefühl. Im Hinblick auf die Geschichte der Ukraine kann dieses Zitat gut verwendet werden, um die erste Frage des Essays zu formulieren: welchen Einfluss hatte die Fremdherrschaft durch Polen und Russland auf das Nationalgefühl der Ukraine?
Die Auseinandersetzung mit den Perspektiven auf die Geschichte der Ukraine ist ausschlaggebend in der heutigen Zeit. Es sind verschiedene Erzählweisen dieser Geschichte vorhanden und als der gegenwärtige Krieg am 24.02.22 begann, wurde die kritische Betrachtung dieser Erzählungen außerdem zur Aufgabe von HistorikerInnen. Hieraus ergibt sich auch die Frage, ob die postkoloniale Sichtweise auf die Geschichte der Ukraine anwendbar ist. Postkoloniale Theorien tragen dazu bei, dass koloniale Machtstrukturen analysiert und dekonstruiert werden können. Auf der Grundlage der Forschungsergebnisse von Kappeler und Sproede/Lecke soll die Essayfrage beantwortet werden. Der Fokus des Essays liegt auf der Betrachtung der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen durch die Linse postkolonialer Theorien. Hierbei werden die Kriterien von postkolonialen Theorien angepasst und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet.
Postkoloniale Theorien legen den Fokus darauf, wie globale Machthierarchien, von (post)kolonialen Einflüssen und Strukturen geprägt sind. Dabei beschreibt der Begriff „postkolonial“ die Kolonialisierung als einen fortwährenden Prozess. Die kritische Auseinandersetzung mit den Folgen des Kolonialismus bis in die Gegenwart gehört zu der Hauptaufgabe der postkolonialen Studien. Es werden insbesondere die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse betrachtet. Die postkolonialen Theorien dienen in der vorliegenden Arbeit, der kritischen Betrachtung und Analyse der Geschichte der postkolonialen Ukraine. Gleichzeitig bietet es auch den notwendigen Diskurs. Das der Begriff Postkolonial häufig mit den vergangenen Kolonien des globalen Südens assoziiert wird, zeigt deutlich, dass hier noch eine offene Frage bezüglich des Osteuropäischem Raums besteht. Wo befindet sich Osteuropa auf der postkolonialen Weltkarte?
Im Laufe ihrer Geschichte wurde die Ukraine vom polnisch-litauischen Staat, sowie dem russischen Reich politisch unterworfen. Die verschwommenen Grenzen der Nachbarländer ermöglichten den Großmächten Polen und Russland durch koloniale Herrschaft ihre Autorität zu festigen. Bei der Heranziehung des Kolonialismus-Modells nach dem Literaturwissenschaftler Edward W. Said, wird der europäische Kolonialismus jedoch vom russischen Imperialismus unterschieden. Dabei ist der europäische Kolonialismus gekennzeichnet durch die Aneignung ferner Kontinente. Unter diesem Aspekt wurde der russische Imperialismus als Untersuchungsgegenstand der postkolonialen Studien ausgeschlossen.
Die Wirkung des Königreichs Polen auf das historische Erbe der Ukraine wird von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis ins 17. Jahrhundert datiert. Hierbei sind zwei zentrale Elemente der Herrschaft aufzuzeigen. Zum einen war es die Zuwendung zu Mittel- und Westeuropa und somit der Unabhängigkeit von Russland, zum anderen jedoch die politische Abhängigkeit vom Königreich Polen. Die soziale Unterdrückung durch die Polonisierung, insbesondere im Kresy (Grenzland zwischen Polen und der Ukraine) als auch die religiöse Diskriminierung stellen das Machtgefälle dar. In den Augen der polnischen Gesellschaft galten die Ukrainer als Wild, bedingt durch die Mehrheit der ukrainischen Bauern. Der polnische Kulturtransfer war somit nur auf eine kleine Gruppe, die ukrainische Elite reduziert. Solche Ausgrenzungen und Hierarchien befeuerten die ukrainisch-polnischen Auseinandersetzungen, welchen die ukrainische Nationalbewegung entsprang. Zwar hat sich die Beziehungen in den letzten zwei Jahrhunderten zu einem gutnachbarschaftlichen Verhältnis gewandt, aber das kollektive Gedächtnis an die Zeit unter der Herrschaft des Königreichs Polen bleibt insbesondere in der Bevölkerung der Westukraine und der Polen bestehen. Aus der postkolonialen Perspektive lässt sich jedoch nicht eindeutig erschließen, wie Polens Rolle in den postkolonialen Theorien einordnen lässt.
Die Fremdherrschaft durch das russische Reich löste im 17. Jahrhundert allmählich den polnischen Einfluss auf die Ukraine ab. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befand sich ein Großteil der UkrainerInnen unter der Herrschaft Russlands. Von Modernisierungsversuchen bis hin zu Russifizierung auf sprachlicher und kultureller Ebene versteckte sich der gelungene Versuch einer Kolonisierung der Ukraine.
Zum Diskurs der postkolonialen Theorie gehört der Gedanke der Zivilisierungsmission. Wie im Falle Polens gehen Sproede/Lemke davon aus, dass auch Russland die Ukraine als eine Art „kleinen Bruder „und „unzivilisierten Bauern“ sah, welchem geholfen werden muss. Die in beiden Fällen stattfindende Betonung der Andersartigkeit des kolonisierten ist charakteristisch für den Kolonialismus. Ebenfalls wurde die Integration der bäuerlichen Gesellschaft der Ukraine in beiden Fällen verhindert. Währenddessen erhielt der geringe Anteil der ukrainischen Elite, welche sich als loyal erwiesen hat, die Belohnung, Einfluss ausüben zu dürfen. Dieser Einfluss war jedoch begrenzt, da die Machtverteilung weiterhin eindeutig sein musste.
Versuche seitens der Ukraine eine Nation zu erbauen, wurden durch das russische Reich und Königreich Polen verhindert. Trotz bewaffnetem Widerstand der Unterworfenen, welcher die wechselhaften und komplexen Beziehungen verdeutlicht, gelang es den UkrainerInnen nicht dauerhaft die Unterdrückung zu beenden. Die Auswirkungen der Kolonialisierung der Ukraine hatten nicht nur politische und wirtschaftliche Folgen, sondern auch kulturelle, da die eigenständige kulturelle Entwicklung unterbunden wurde. Die Unterdrücker legten dem Unterdrückten ein Selbstbild auf und ermöglichten somit die Verschmelzung des kollektiven Gedächtnisses. Daher ist es zweifellos, dass viele Generationen durch das Bewusstsein und Denken der imperialen Politik beeinflusst wurden.
Ein wichtiger Aspekt in der postkolonialen Analyse ist das historische Gedächtnis. Es stellt ein soziokulturelles Phänomen dar, bei dem die Menschen eines Landes kollektiv über die Vergangenheit ihres Landes nachdenken, wichtige Daten und historische Ereignisse ins Gedächtnis rufen und nationale Symbole ehren. Dieses wurde jedoch durch die Kontrolle anderer Länder, insbesondere des russischen Reichs, unterdrückt. Erst nach der Unabhängigkeit 1991 wurde das Postkoloniale Denken für die UkrainerInnen möglich. Dass zuerst der Zustand von Unsicherheit eintritt, ist charakteristisch für postkoloniales Denken. Der dabei stattfindende Prozess der Nationsbildung bedarf einer Distanz von der zuvor herrschenden Macht. Während dieser Phase des permanenten Staatsaufbaus durchlief die Ukraine einige politische und wirtschaftliche Krisen, welche bis heute fortbestehen. Hierbei entsteht die Frage, ob diese Krisen durch den Dekolonisationprozess verstärkt wurden.
Eine Besonderheit des ukrainischen postkolonialen Denkens ist die tragische Wahrnehmung der eigenen Geschichte. Die bisherige Forschung konzentriert sich auf die gescheiterten Revolutionen, Verlust der Unabhängigkeit und das „othering“ durch die westeuropäische Sichtweise auf den Osten. Befreiung und Neufindung der eigenen Kultur und Geschichte ist bisher auf die wenigen Forschungsergebnissen der postkolonialen Studien in Bezug auf Osteuropa und insbesondere Ukraine begrenzt. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung des eigenen Volkes und Landes, welches bis heute um die Anerkennung der eigenen Kultur und Sprache kämpft.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass UkrainerInnen in einem politisch-imperialen System eingebunden waren, welches die nationale Identität einschränkte und die Eigenständigkeit der ukrainischen Kultur zerstörte. Postkoloniale Theorien können hier als Werkzeug eine nützliche Perspektive bieten, um der Analyse der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen nachzugehen. Die Darstellung der komplexen Beziehungen zwischen diesen Ländern und dessen Auswirkungen durch die politische und kulturelle Hegemonie auf die ukrainische Gesellschaft trägt zu einem besseren Verständnis bei. Hierbei bieten die postkolonialen Theorien der Ukraine die Möglichkeit des Gegendiskurses. Durch die Analyse kolonialer Strukturen und der dahintersteckenden Prozesse kann der Prozess der De-Kolonisierung besser vollzogen werden. Die zu betrachtenden Auswirkungen von Machtstrukturen, Imperialismus und Kolonialismus auf die ukrainische Gesellschaft und Kultur lässt sich in Kategorien unterteilen: koloniale Strukturen, Identitätsbildung, Widerstand und Machtbeziehungen. Diese Kategorien können mit Hilfe von postkolonialen Theorien als Werkzeug besser rekonstruktiv untersucht werden.
Die durch imperiale Mächte auferlegten kolonialen Herrschaftsmuster auf die Ukraine müssen in der heutigen Zeit gelöst werden. Dabei kann die durch postkoloniale Theorien abgeleitete Kulturkritik helfen und ein postkoloniales politisches Programm ermöglichen. Das Identitätsgefühl des ukrainischen Volkes muss vom subalternen Status gegenüber Russland befreit werden. Erst mit dieser Befreiung würde die ursprüngliche ukrainische Kultur zum Vorschein kommen. Die postkolonialen Theorien schaffen Verständnis für die autochthone Stellung der Kultur und Gesellschaft der UkrainerInnen. Der Wille vieler UkrainerInnen, ihre Sprache und Kultur auszuleben und der Drang zum Beitritt zu „Europa“ ist das Emanzipieren der kolonialen Unterwerfung.
Die dargestellten Ergebnisse rechtfertigen die Aussage, dass postkoloniale Theorien als Werkzeug zur Beschreibung der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen verwendet werden kann, jedoch muss dabei bedacht werden, dass die Gegenwart nicht in die Vergangenheit reininterpretiert wird. Daraus ergibt sich für die Forschung eine Aufgabe, die komplex ist und eine globale postkoloniale Betrachtung und Kritik bedarf.
Literaturverzeichnis: do Mar Castro Varela, Maria/Dhawan, Nikita (Hrsg.): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 3.Aufl., Bielefeld 2020. Hüchtker, Dietlind/ Kliems, Alfrun (Hrsg.): Überbringen-Überformen-Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert, Köln 2011. Sartre, Jean-Paul: Vorwort, in: Frantz, Fanon (Hg.): Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt am Main 1966, S. 20. Frysztacka, Clara Maddalena: Zeitliche Tiefe und Begegnungsgeschichten: Die imperial-kolonialen Werkzeuge des polnischen historischen Wissens über den Osten, in: Geschichte und Gesellschaft 47.4 (2021), S.648-670. Sproede, Alfred/ Lecke, Mirja: Der Weg der postcolonial studies nach und in Osteuropa. Polen, Litauen, Russland, in: Hüchtker, Dietrich/ Kliems Alfrun (Hrsg.): Überbringen – Überformen – Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert, Köln 2011, S.27-66. von Hagen, Mark: Does Ukraine have a History?, in: Slavic Review Vol. 54 No.3 (1995), S. 658-673. Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, München 1994.
Sartre, Jean-Paul: Vorwort, in: Frantz, Fanon (Hg.): Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt am Main 1966, S.20.[↩]
In diesem Essay werde ich mich mit der Frage beschäftigen, wie sich die koloniale Vergangenheit der Ukraine auf den Prozess der Bildung und Entwicklung eines eigenständigen Nationalstaates auswirkte und ihn bis heute beeinflusst.
Zunächst soll diese Frage in einen breiteren Kontext eingeordnet werden. Sie steht deutlich im Bezug zu den Postcolonial Studies und ist im Rahmen der Frage, inwiefern postkoloniale Theorien zur Beschreibung der Geschichte der Ukraine zwischen Russland und Polen passen, entwickelt worden. Bei den Postcolonial Studies handelt es sich nach Lindner und Fischer-Tiné um ein interdisziplinäres Feld von Perspektiven, Theorien und Methoden. Das Ziel dieser ist es, die nicht-materiellen Dimensionen kolonialer Herrschaft zu analysieren und koloniale Diskurse sowie Denkmuster, die bis in die Gegenwart wirken, zu dekonstruieren. Dabei stehen Überlegungen zu verflochtenen, transkulturellen und hybriden Identitäten und Gesellschaftsformationen im Vordergrund.
Ich orientiere mich zudem an aktuellen Debatten in Osteuropastudien, welche nach Robert Kindler u.a. beispielsweise darüber geführt werden, ob die Ukraine aus einer Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts hervorging oder ein Kind der sowjetischen Nationalitätenpolitik war. Ein weiteres Thema, das zur Debatte steht, ist, ob die Ukraine eher eine Kolonie oder die Wiege der russischen Zivilisation war. Hierbei möchte ich zum einen auf die Standpunkte von deutschen Historikern wie z.B. Jörg Baberwoski eingehen. Zum anderen werde ich mich mit Putins Essay über die historischen Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern beschäftigen und gegen seinen Standpunkt argumentieren, der nach Schulze-Wessel eigenständige nationale Entwicklungen der Ukrainer nicht zulässt. Gerade hier bietet der Ansatz der Postcolonial Studies meiner Meinung nach große Chancen. Denn indem die Geschichte der Ukraine und ihre Verflechtung mit Russland untersucht wird, kann gegen die Standpunkte von Baberowski und Putin argumentiert und diese entkräftet werden. Der Essay orientiert sich strukturell daran, im ersten Teil gegen Putins Position zu argumentieren, wobei ich auf die Kiewer Rus, das russische Imperium und dessen durch Kolonialismus etablierten Narrative eingehe. Im zweiten Teil geht es um die ukrainische Revolution und die Ukraine in der Sowjetunion, wodurch Baberowskis These entkräftet werden soll. Durch die folgende Argumentation und Behandlung meiner zu Anfang gestellten Frage gedenke ich zeigen zu können, dass durch den Kolonialismus Russlands Narrative und Denkmuster bis heute verbreitet sind, die der Ukraine ihre Eigenständigkeit absprechen sollen. Gerade in diesem aktuellen, angespannten Diskurs, ist es für mich wichtig, die historischen Ereignisse zu untersuchen, um diese Narrative dekonstruieren zu können.
In Putins Essay über die historische Beziehung zwischen Russen und Ukrainern vom 12. Juni 2021 geht er auf die mittelalterlichen Kiewer Rus ein, auf die sich sowohl die russische als auch die ukrainische Geschichte zurück beziehen. Daraus leitet Putin eine gemeinsame Geschichte der beiden Völker ab, nach welcher sie bis heute ein Volk bilden. Schulze-Wessel stellt in seinem Artikel, „Putins bedrohliche alternative Geschichtsschreibung“, überzeugend dar, dass sich Putin, in den Worten Schulze-Wessels, einer Deutungsfigur der imperialen russischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts bedient, derzufolge der mittelalterliche Herrschaftsverbund der Kiewer Rus die Wiege der ostslawischen orthodoxen Völker sei. Ukrainische Historiker hingegen verbinden die Kiewer Rus jedoch mit Staaten, die sie als Vorläufer der heutigen Ukraine sehen wie das Großfürstentum Litauen und das Hetmanat der Kosaken in der frühen Neuzeit. Zudem hat Kappeler am Beispiel von Mychajlo Hruschewskyj gezeigt, dass in der ukrainischen Geschichtsschreibung nicht von einer Kopplung des Moskauer und Kiewer Reiches ausgegangen wird und die Russen keinen exklusiven Anspruch auf das Reich der Kiewer Rus haben. Dass solche Stimmen Gehör finden ist wichtig, da nur auf diese Weise koloniale Aspekte aus der Vergangenheit aufgearbeitet werden können. Dies wird durch den Ansatz der Postcolonial Studies unterstützt. Putin nutzt jedoch auch dieses alte imperiale-russische Narrativ, da es durch den Kolonialismus besser etabliert ist und er somit seine aggressive Ukraine-Politik rechtfertigen kann. Für Putin sind alle ukrainischen Positionen, die ihn dahingehend kritisieren, nationalistisch und faschistisch. Generell sind für ihn eigenständige nationale Entwicklungen in der Ukraine nicht möglich, sondern immer westliche Interventionen gegen Russland. Florin macht darauf aufmerksam, dass der Krieg in der Ukraine als Folge einer nicht verarbeiteten kolonialen Vergangenheit und als Angriff auf ein postkoloniales emanzipatorisches Projekt gesehen werden kann.
In seiner Argumentation lässt Putin jedoch außer Acht, dass die Russen und Ukrainer nach dem Untergang des Kiewer Reiches eine divergierende Entwicklung vollzogen. Schulze-Wessel stellt fest, dass die Wege Russlands und der Ukraine in ihren Verbindungen mit Europa verschieden waren und dies weitreichende Folgen für die jeweiligen kollektiven Identitäten hatte. Eine eigenständige ukrainische politische und sprachliche Identität wurde über Jahrhunderte beibehalten. So zeigt Mankoff in seinem Artikel, dass trotz Polonisierung und Russifizierung in der Sowjetunion unter Stalin immer auch ukrainischer Widerstand vorhanden war. Putin schätzt zudem die Bevölkerung der heutigen Ukraine falsch ein. Das liegt nach Fürst vor allem daran, dass es hinsichtlich der Sowjet-Zeit eine falsche Wahrnehmung der „joyful Union“ gibt. Es sprachen zwar viele Menschen in der Ukraine beispielsweise Russisch als ihre Muttersprache und abgesehen von Russland kamen die meisten sowjetischen Beamten aus der Ukraine, aber die vorhandene Opposition wurde kaum wahrgenommen, da der KGB diese unterdrückte. Die Ablehnung des sowjetischen Imperiums zeigte sich jedoch im Referendum 1991, indem 92% der Ukrainer für die Unabhängigkeit stimmten. Besonders die Erfahrung der jüngeren Generation, die von einer unabhängigen Ukraine geprägt ist, kann Putin nicht nachvollziehen. Durch sein Wirken unterstützt er sogar die Entwicklung der Ukraine als unabhängige Nation, da neue Traditionen entstehen wie z.B. Schreine für die gefallenen Soldaten, die als Opfer für die Nation gesehen werden oder die Gründung einer unabhängigen ukrainischen orthodoxen Kirche. Diese Aspekte tragen, wie Wanner zeigt, dazu bei, dass es zu Abgrenzungen von „uns“ und „ihnen“ kommt. Auch der Anteil von ukrainischen Muttersprachlern nahm in den letzten 30 Jahren deutlich zu.
Im zweiten Teil dieses Essays wird es um Positionen deutscher Historiker gehen. Florin erklärt in seinem Artikel, dass der neuen Imperialgeschichte zuletzt vorgeworfen wurde, ein idealisierendes Bild des russischen Reiches entworfen zu haben. Im Fokus stehen dabei Texte von Jörg Baberowski, in denen er das Imperium als Raum der Multikulturalität idealisierte. Die ukrainischen Nationalisten würden trennen wollen, was der sowjetische Mythos integrieren wollte. Er spricht von einer Ost-West Spaltung der ukrainischen Gesellschaft, der zufolge die Menschen im Osten der Ukraine sich mit dem russischen Imperium identifizieren würden und sich dies mit Putins Ambitionen decke. Die Sowjetunion sei eine verlorene Heimat und im Westen würde ausschließlich der Opferkult der ukrainischen Nationalisten als Wahrheit anerkannt. Letztendlich ist die Ukraine nach seiner These lediglich ein Kind der sowjetischen Nationalitätenpolitik.
Baberowski beachtet dabei verschiedene Aspekte nicht. Dazu zählt nach der Kritik von Schmid und Kappeler die ukrainische Nationalbewegung, die ihre Anfänge im 19. Jahrhundert hat und im Verlauf des russischen Bürgerkrieges eine eigene ukrainische Revolution führte und schließlich 1917 das erste Mal einen autonomen ukrainischen Staat ausrief . Die ukrainischen Nationalisten wurden zwar von den Bolschewiki besiegt, aber nach Yekelchyk zeigt die Revolution, wie wichtig die nationalen Besonderheiten bei der Betrachtung der Ereignisse sind. Es handle sich bei der Gründung der Ukraine als Sowjetrepublik 1922 nicht um eine pro-bolschewistische Arbeiterrevolution, da die Menschen zuvor die ukrainische Republik unterstützten. Die Frage nach nationaler Befreiung habe eine große Rolle gespielt, nicht nur der Kampf der ukrainischen Nationalisten, der provisorischen Regierung und der Weißen. Die ukrainische Revolution scheiterte letztendlich, was unter anderem daran lag, dass die Ukraine isoliert war und keine Partner hatte. Dennoch blieben die Ideen gegen Krieg und gegen russische Eliten. Zudem wurde die erneut aufkommende Erinnerung an die Tradition der Kosaken mit der Vorstellung von sozialer und nationaler Befreiung verknüpft.
Ob die Sowjetunion als integrierende Heimat zu sehen ist, ist fraglich. Denn obwohl, wie Veser sagt, die Unterstützung der Nationalbewegung wichtig für den Erfolg der Roten war, kritisierte die ukrainische Linke schnell, dass die Bolschewiki die kolonialen Praktiken des russischen Reiches weiterführten. Auch wenn aus der russischen Sicht die Ukraine nicht als unterdrückt wahrgenommen wird, sprechen Ereignisse wie die Hungerkatastrophe und die Russifizierung unter Stalin dagegen. Grazlost spricht dahingehend vom bolschewistischen Krieg gegen die ukrainischen Bauern, der mit der ukrainischen Revolution begann. Trotz der Unterdrückung überlebte die ukrainische Sprache und die Ukraine selbst spielte eine wichtige Rolle beim Ende der Sowjetunion. Wichtig ist auch, dass es beim Referendum 1991 keine Ost-West Trennung gab. Seit den Konflikten mit Russland in den letzten Jahren stieg auch die Zustimmung für einen unabhängigen ukrainischen Staat weiter. Dennoch bildet der aktuelle Krieg die Bedrohung einer Rekolonisierung Osteuropas durch Putin. Ich stimme Schulze-Wessel dahingehend zu, dass die Forschung darauf reagieren kann, indem wir versuchen, unsere Denkmuster zu dekolonisieren und beispielsweise in der Geschichtswissenschaft das Schema der „Russischen Geschichte“ überwunden wird. Allerdings muss dabei auch darauf geachtet werden, wie Kindler u.a. aufzeigen, dass die postkoloniale Perspektive nicht zu einem nationalen Tunnelblick oder einer Moralisierung der Vergangenheit führt.
Abschließend kann ich sagen, dass die koloniale Vergangenheit der Ukraine die Gründung eines eigenständigen Staates zu einer herausfordernden Aufgabe und einem langjährigen Prozess machte. Über viele Jahre wurden nationale Bestrebungen und Identitäten unterdrückt. Trotzdem verschwanden diese nationalen Identitäten nie und die Gründung einer eigenständigen Ukraine war letztendlich erfolgreich. Auch wenn sie durch den aktuellen Krieg erneut herausgefordert wird, bestärkt dies nur den Prozess der Nationsbildung. Für die Aufarbeitung dieses Prozesses bieten postkoloniale Theorien meiner Meinung nach große Chancen. Es muss jedoch auch darauf geachtet werden, dass es nicht zu der angesprochenen Moralisierung der Vergangenheit kommt.
Wie Andrzej Szeptycki postuliert, konzentriert sich die (post-)koloniale Forschung klassischerweise auf die westeuropäische Herrschaft über überseeische Gebiete, deren Bevölkerung von den Kolonisatoren als different aufgefasst wird. María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan (2015: 31) lassen in ihrem Einführungswerk über postkoloniale Theorie das „Zeitalter des europäischen Kolonialismus“ mit dem Griff nach der Karibik und den Amerikas beginnen, auch wenn sie auf schon früher auftretende Phänomene der Okkupation und Herrschaft verweisen. Andrzej Szeptycki (2011: 5) plädiert für eine Ausweitung des Begriffs: „Colonialism should be described as a protracted rule over another racial/ethnic group, coupled with a policy of economic exploitation and forced acculturation.“
Wie aus Andreas Kappelers Kleine Geschichte der Ukraine anschaulich hervorgeht, stand die Ukraine im Laufe ihrer Geschichte unter verschiedensten Herrschaften. Als Konsequenz des am Ende des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts tobenden Bürgerkriegs, fand sich die Ukraine auf Sowjetrussland, Polen, Rumänien und die Tschechoslowakei aufgeteilt – unter der Sowjetbesatzung wurde die Ukraine zu einer eigenen Republik. In Folge des Nichtangriffspaktes zwischen Hitler und Stalin fielen bis auf die Karpaten-Ukraine alle Regionen mit bedeutenden ukrainischen Bevölkerungsanteilen unter sowjetische Herrschaft. Mit der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 endete diese Periode. Folgt man der Terminologie Timothy Snyders, so war die Ukraine Teil der Bloodlands. Vor allem die Phase, in der Hitler und Stalin zeitgleich an der Herrschaft waren, war für die Ukraine besonders blutig – auf diesem Gebiet starben zu dieser Zeit weltweit die meisten Menschen.
Die postkoloniale Herangehensweise bietet – wie bereits Ulrike Lindner postuliert hat – die Möglichkeit, die vergangenen Auswirkungen solcher Geschehnisse auf das jeweilige Land sowie deren Gesellschaft und Kultur zu untersuchen und bis heute wirkmächtige Konsequenzen aufzudecken. Darüber hinaus eignet sie sich Harald Fischer-Tiné folgend hervorragend, um asymmetrische Machtverhältnisse zu untersuchen, mit denen wir es im Fall der Ukraine – wie sich zeigen wird – zu tun haben. Wie auch schon Andrzej Szeptycki beobachtet hat, werden postkoloniale Theorien immer öfter zur Untersuchung der UdSSR und ihrer Nachfolgestaaten genutzt. Ziel dieses Essays ist es, zu demonstrieren, dass der postkoloniale Ansatz eine geeignete Methode bietet, um das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland seit der Gründung der Sowjetunion zu beschreiben.
An Aktualität ist dieses Thema wohl kaum zu überbieten – es wird sich nämlich zeigen, dass so manche damaligen Strukturen bis heute wirkmächtig geblieben sind und die Politik beider Staaten bis in die Gegenwart bestimmen. Die Abhängigkeit der Ukraine von Russland soll im Folgenden auf der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ebene untersucht werden.
Als Republik der Sowjetunion galt in der Ukraine auch das entsprechende sowjetische politische System. Wie in den Ausführungen von Jan Gross deutlich wird, unterlag die Ukraine dem Obersten Sowjet der UdSSR, der in Moskau saß. Er genehmigte den Antrag der Sonderkommission, demzufolge die Westukraine – die sich als Resultat des Nichtangriffspakts mit Hitler unter sowjetischer Besatzung befand – in die Ukrainische Sowjetrepublik aufgenommen werden sollte. Auch in der Westukraine wurde nach nur kurzer Zeit – wie Wanda Krystyna Roman bemerkt – eine administrative Neugliederung nach dem sowjetischen Standard unternommen. Selbst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dauerte es – so konstatiert Steffen Dobbert – noch mehrere Jahre, bis das sowjetische Personal samt seinen Strukturen und Methoden allmählich verschwand – die Eliten blieben in großen Teilen dieselben und zeigten wenig Motivation, die notwendigen Umgestaltungen zu unternehmen. Zudem würden große wirtschaftliche Unterschiede es schwer machen, eine Demokratie aufzubauen. Die Demokratisierung wäre in der Ukraine folglich nur schleppend verlaufen, was dazu geführt hätte, dass eine Reihe von inoffiziellen Machtstrukturen und Banden entstanden. Verschiedenste Oligarchen profitierten laut ihm von diesen Zuständen – Teile von ihnen pflegten weiterhin gute Beziehungen nach Russland. Andrzej Szeptycki beobachtete bei den vier Präsidenten, die bis 2014 in der unabhängigen Ukraine im Amt waren, verschiedene Vorgehensweisen. Während Leonid Kutschma (1994-2005) und Viktor Janukowitsch (2010-2014) auf eine größtenteils pro-russische Politik und enge Beziehungen zu Russland gesetzt hätten, hätte bei der Politik von Leonid Krawtschuk (1991-1994) und Viktor Juschtschenko (2005-2010) – trotz teilweise enger Beziehungen zu Russland – die Idee der Stärkung der Unabhängigkeit überwogen. Einigen Parteien wie der Partei der Regionen und der Kommunistischen Partei der Ukraine kann ihm zufolge eine pro-russische Haltung attestiert werden. Auch ukrainische Eliten würden unter anderem aufgrund von Wählererwartungen, wirtschaftlichen Profit sowie dem Aufwachsen in der Zeit der Sowjetunion zu einer Kooperation mit Russland neigen. Die hier zu beobachtende Abhängigkeit der Ukraine würde von Russland politisch ausgenutzt, um innenpolitisch mitwirken zu können. So unterstützte Russland Viktor Janukowitsch bei seiner Kandidatur für den Präsidentenposten, indem es mit ihm bereits vor der Wahl Gaslieferverträge abschloss. Gleichzeitig begleiten – wie auch Steffen Dobbert hervorhebt – politische Spannungen das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland seit Beginn an.
Die Wirtschaft zeichnet sich laut Andrzej Szeptycki zu der Zeit der Sowjetunion durch ihre starke Zentralisierung, Ineffizienz und Autarkie aus. Timothy Snyder beschreibt in seiner Monographie Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin anschaulich, welchen Beitrag Stalins erster Fünfjahresplan (1928-1932) an dieser Situation hatte. In diesem Zeitraum führte Stalin eine rigorose Politik der Kollektivierung und Industrialisierung. Für den von ihm angestrebten Kommunismus – so die Überlegung – benötige die Sowjetunion Schwerindustrie, welche wiederum eine kollektivierte Landwirtschaft brauche, zu deren Erreichung eine Kontrolle über die sowjetischen Bauern von Nöten wäre. Die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR) war hiervon nicht ausgenommen und so war Ende 1931 bereits ca. 70% der ukrainischen Ackerfläche kollektiviert. Für die Erreichung seiner politischen Ziele hatte Stalin zehntausende Bürger erschießen, Hunderttausende deportieren und mehr als fünf Millionen verhungern lassen – die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik traf es am stärksten. Folgt man Snyder (2022: 172) so war „[d]as Geheimnis der Kollektivierung (wie Stalin schon lange erfahren hatte) […], dass sie eine Alternative zur expansiven Kolonierung darstellte, d. h. sie war eine Form interner Kolonisierung“. Wanda Krystyna Roman beschreibt, wie die Kollektivierung (wenn auch weniger effektiv) ebenfalls in der später annektierten Westukraine umgesetzt wurde.
Darüber hinaus – so hebt Andrzej Szeptycki hervor – entstanden zu der Zeit der Sowjetunion ausgeprägte Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Diese blieben laut ihm auch nach dem Niedergang der Sowjetunion noch erhalten. Russland war dementsprechend noch lange Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Haupthandelspartner der Ukraine. Eine Ursache liegt laut Szeptycki in der Schwierigkeit für Nachfolgestaaten der UdSSR, neue wirtschaftliche Partner außerhalb ihrer Gemeinschaft zu finden. Im Energiesektor ist die Abhängigkeit der Ukraine von Russland am stärksten. Auch hierfür lägen die Gründe in der Vergangenheit: Im Rahmen der zentralen Planung während der Sowjetzeit, hätte es nur wenig Anlass gegeben, sparsam mit zugeteilten Produktionsmitteln zu verfahren, weshalb die Wirtschaft der Ukraine nicht sonderlich energieeffizient sei. Diese Abhängigkeit der Ukraine von russischem Gas und Öl habe Russland in der näheren Vergangenheit häufig als Mittel der Destabilisierung, Diskreditierung und Erpressung ausgenutzt – ein Beispiel hierfür markieren die 2006 und 2009 herrschenden Gaskrisen. Zwar waren russische Gaslieferungen für die Ukraine lange deutlich günstiger, als für andere Länder, sie wären aber stets mit dem impliziten Drohpotenzial verbunden gewesen, die ukrainische Wirtschaft durch eine erhebliche Erhöhung der Preise zu schädigen, sollte Russland sich dazu genötigt sehen. Zu erwähnen ist in diesem Kontext außerdem die Intransparenz institutioneller Regelungen des Gassektors.
Aber wie auch Harald Fischer-Tiné betont, ist für postkoloniale Theorien zentral, dass der Kolonialismus als reziprok anzusehen ist. Dementsprechend hat nicht nur der Kolonisator einen Einfluss auf den Kolonisierten, sondern auch andersherum. Dies betreffend hebt Andrzej Szeptycki hervor, dass ein Großteil der russischen Gaslieferungen an die EU über das Gebiet der Ukraine verläuft, wodurch die Ukraine ebenfalls ein Druckmittel habe.
Insgesamt – so Andrzej Szeptycki – unterscheide sich die Konstellation zwischen den beiden ehemaligen Republiken von einem typisch kolonialen Verhältnis. So sei das typische Modell der rückständigen Peripherie und des entwickelten Kernlands zu sowjetischer Zeit nicht beobachtbar, da die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik den Status des entwickelten Kernlandes nicht beanspruchen könne. Zudem wäre die Industrialisierung auf dem ganzen Gebiet der UdSSR angestrebt worden.
Auch das kulturelle Leben wurde – wie von Wanda Krystyna Roman beschrieben – in der sowjetischen Zeit streng kontrolliert, beengt und sowjetisiert. Dieser Umstand wirkt laut Andrzej Szeptycki bis in die postsowjetische Zeit hinein. Demnach hätten Ukrainer keine Einheitlichkeit in ihrem Geschichtsbild. Stattdessen würde es einen Konflikt zwischen nationalen ukrainischen und postsowjetischen Geschichtsverständnissen geben. Wie different diese Sichtweisen sein können, zeigt sich zum Beispiel in der uneinheitlichen Bewertung der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die in der Ostukraine als Verbrecher und in der Westukraine als Helden gesehen wird.
Zudem zeigt sich – so Andrzej Szeptycki – auch noch in postsowjetischer Zeit eine große Relevanz von russischen Schriftstellern, Künstlern, Verlegern und Medien. Dies sei in vielerlei Hinsicht für Russland relevant, denn es sorge für die weiterhin präsente Rolle der russischen Sprache, die Stärkung des Bildes der Brudernationen und die Verbreitung russischer Interessen in der Ukraine. Auch die relevante Stellung der prorussischen ukrainisch-orthodoxen Kirche in der Ukraine ist ihm folgend für den kulturellen Aspekt nur schwer zu überschätzen.
Insgesamt zeigt sich also, dass der postkoloniale Ansatz auch für die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Russland und der Ukraine geeignet ist. Er eröffnet den Blick auf die wechselseitigen Einflüsse, die beide Nationen während der sowjetischen Zeit aufeinander hatten. Gleichzeitig macht er bis heute relevante Konsequenzen des Kontaktes sichtbar. Es hat sich gezeigt, dass russische Einflüsse in dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich bis heute erhalten geblieben sind – eine Analyse weiterer Aspekte wäre lohnend. Russland scheut sich dabei nicht davor, seine Einflüsse gewinnbringend für sich selbst zu nutzen. Nichtsdestotrotz wäre es falsch, den Einfluss als einseitig darzustellen, da auch Russland als ehemaliges Kernland von der Ukraine beeinflusst wurde und immer noch wird. Dennoch ist das Machtverhältnis zwischen den beiden Nationen asymmetrischer Natur. Auch wenn sich der postkoloniale Ansatz nicht immer problemlos auf die Ukraine anwenden lässt, so eröffnet er doch eine neue Sicht sowohl auf die Geschichte als auch auf die Gegenwart.
Literaturverzeichnis
Castro Varela, María do Mar / Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 20203. Fischer-Tiné, Harald: Postkoloniale Studien, in: Europäische Geschichte Online (EGO) (2010), URL: http://ieg-ego.eu/de/threads/theorien-und-methoden/postkoloniale-studien, abgerufen am 16.04.2023. Gross, Jan Tomasz: Und wehe du hoffst…. Die Sowjetisierung Ostpolens nach dem Hitler-Stalin Pakt 1939-1941, Freiburg im Breisgau u.a. 1988. Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, 5. überarb. u. aktual. Aufl., München 2019. Lindner, Ulrike: Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies, in: Docupedia-Zeitgeschichte (2011), URL: https://docupedia.de/zg/Neuere_Kolonialgeschichte_und_Postcolonial_Studies, abgerufen am 16.04.2023. Roman, Wanda Krystyna: Die sowjetische Okkupation der polnischen Ostgebiete 1939 bis 1941, in: Chiari, Bernhard (Hg.): Die polnische Heimatarmee (Beiträge zur Militärgeschichte 57), München 2003, S. 87-110. Snyder, Timothy: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2022. Szeptycki, Andrzej: Ukraine as a Postcolonial State, in: Polish Quarterly of International Affairs 20 (1) (2011), S. 5-29.