War die Ukraine ein koloniales Subjekt Polens?

Es ist etwa 16 Jahre her, dass Ricarda Vulpius in einem Beitrag zum Fortschritt der insbesondere auf Russland bezogenen Imperiumsforschung festgestellt hat, sie habe „einerseits Konjunktur, andererseits steht sie in vielen Themenfeldern noch am Anfang.“ 1 Seither ist viel Zeit vergangen, in der sich ForscherInnen dem Imperium als Gegenstand erneut angenähert und es, sowohl in seinen zaristischen, als auch sowjetischen Ausprägungen mit all seinen Facetten analysiert haben. 2 Der seit einem Jahr wütende Angriffskrieg auf die Ukraine unterstreicht, dass das Thema „Imperium“ für die Osteuropawissenschaften im Speziellen und die Globalgeschichte im Allgemeinen keinerlei Aktualität eingebüßt hat.

Doch so sehr der Nutzen der Postcolonial Studies und Imperiumsforschung für die Untersuchung des russländischen Falls bereits allgemein akzeptiert und zurecht wenig hinterfragt wird, scheinen HistorikerInnen sich schwerer damit zu tun, die Methoden und Theorien auf die polnische Geschichte anzuwenden. Thesen, dass die Rzeczpospolita ein Imperium darstellten, wie sie zum Beispiel Yaroslav Hrytsak und Jan Sowa vertreten 3, werden von der anderen Seite vehement dementiert, wie zuletzt durch Hieronim Grala geschehen. 4 Kolonialismus sei etwas, dass erst nach der Aufteilung durch die drei benachbarten Imperien Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland Eingang in die polnische Geschichte gefunden hat (insbesondere in Bezug auf das zaristische Russland). Dass Teil der ukrainischen Bevölkerung dabei schon in der Vormoderne ein real-koloniales Subjekt des polnischen Staates und danach zusätzlich epistemisch-koloniales Subjekt wird, soll hier in Ansätzen erläutert werden.

Dabei sollte man die polnische Geschichte ab 1500 (notgedrungen) in zwei Phasen aufteilen, um sie adäquat auf ihre Kompatibilität mit den Postcolonial Studies hin zu analysieren: Einer ersten Phase bis zu den drei Teilungen und anschließenden Auflösung der Rzeczpospolita und einer zweiten Phase der Staatenlosigkeit bis zum Ende des ersten, beziehungsweise zweiten Weltkriegs. Die radikal verschiedenen Situationen, aus denen die polnische Nation – jene AkteurInnen also, die sich als VertreterInnen derselben ansahen – heraus agierten, sind in ähnlichem Maße verschieden. So verschiedentlich gestalten sich demnach die kolonialen Diskurse, die geführt wurden.

Wenn Grala am Ende seiner Ausführungen den Schluss zieht, „Colonialism was indeed something experienced in Polish history, but not during the pre-partition Polish-Lithuanian Commonwealth” 5 , ist dem noch am vehementesten zu wiedersprechen. Eine ähnliche Position vertritt der Said-Kritiker Aijaz Ahmad mit dem Blick auf den gesamten Orientalismus-Diskurs. Dieser europäische Diskurs würde sich – so Foucault, auf den sich Said wie Ahmad beziehen – erst ab dem 18. Jahrhundert mit der Aufklärung abzeichnen. 6 Dem ist wenig entgegenzusetzen, außer, dass Diskurse um die Menschlichkeit und Möglichkeit der Überausbeutung bestimmter Gruppen bereits im 16. Jahrhundert geführt wurden. Die Valladolid- Debatte 1550 – 1551 zwischen Juan Ginés de Sepúlveda (1490 – 1573) und Bartolomé de las Casas (1484 – 1566) hielt – bei allen Meinungsverschiedenheiten – fest, dass man Bevölkerungsgruppen unter Ausschluss aus der Kategorie Mensch, zum Beispiel anhand des Kriteriums der Religion, für die gezielte Ausbeutung freigeben konnte. 7 Somit war eine Argumentationsstruktur geschaffen, derer sich auch Eliten im polnisch-litauischen Staat mit seiner folgenden 200 Jahre andauernden Existenz und Verflechtung in das engere politische, ökonomische und gelehrte Netz Europas potentiell hatten bedienen können.

Wenn die Existenz dieses Präzedenzfalls nicht sofort ihren Niederschlag in der rasanten imperialen Expansion der Rzeczpospolita gefunden hat, kann das in ihrer frühen Phase zum einen an der beständigen Funktionalität des Feudalismus liegen, in der späteren an ihrer Unterlegenheit unter die angrenzenden Imperien Deutschlands, Österreichs und Russlands. So oder so kann es nicht zielführend sein, die Rzeczpospolita aus den mit der „Entdeckung“ Südamerikas einhergehenden Transformationsprozessen ab dem 16. Jahrhundert vollkommen auszuklammern und jegliche Auswirkungen auf die Relationen zwischen polnischer Elite und ukrainischen Peripherien nur unter traditionellen Gesichtspunkten zu betrachten.

Alle Kritiken Gralas gegenüber der These vom polnisch-litauischen Imperium zu beantworten, würde den Rahmen dieses Essays sprengen. Sie sind zum einen zu zahlreich und zum anderen teilweise nicht zu beanstanden. Eine möchte ich dennoch gesondert behandeln. Die Expansion betreffend schreibt Grala: „Our settlers […] impropriated the local population of their wealth; they did not subordinate to themselves any […] peoples as there were none of them there. Indeed, they brought some benefits […].” 8 Der Rechtsbegriff der terra nullus – des leeren Lands – bezeichnet unkultiviertes Land, welches als leer und verfügbar angesehen wurde und wird. 9 Diese Vorstellung vom unbewohnten und daher frei verfügbaren Kulturland ist zum Teil koloniale Fiktion, kann also kaum als Argument dafür gelten, die polnischen und polonisierten Eliten hätten die so wahrgenommenen peripheren Räume nicht ausgebeutet. Grala hängt an, die Ausweitung der Rzeczpospolita hätte viel eher Vorteile gebracht: Sicherheit vor Angriffen. Eine eigene Pax Polonia? Auch das scheint kein überzeugendes Argument für eine Unterstellung ukrainischer Bevölkerung unter polnischer Oberherrschaft, wenn es solche denn überhaupt gibt.

Zusätzlich beschreibt Grala, „unsere Siedler“ – wobei die Frage nach dem Charakter dieses „Wir“ noch zu stellen wäre – hätten sich den Reichtum der lokalen Bevölkerung nicht angeeignet. Wie wahr dieser Befund für das 16. Jahrhundert ist, möchte ich nicht beurteilen. Für das 17. bis 18. Jahrhundert jedoch gibt Kappeler an, dass der polnische und polonisierte Adel die ukrainischen Bauern und BäuerInnen in seine Abhängigkeit brachte, und die rechtsufrige Ukraine politisch wie auch sozial dominierte. Außerdem „drängte die polnische Siedlung die ukrainische Bevölkerung auch auf dem Lande allmählich zurück.“ 10 Wo die ukrainische Bevölkerung ausharrt, extrahieren polnischer und polonisierter Adel Reichtum, wo sie vertrieben wird oder emigriert, wird sie durch polnische Siedler ersetzt. Es muss sicherlich nach Absicht und Systematisierungsgrad gefragt werden, doch im Ansatz scheinen sich hier imperiale, wenn nicht koloniale Praktiken manifestiert zu haben. Praktiken, die über die Rzeczpospolita hinauswirken: Bis in das Jahr 1905 lagen 46% des Gutsbesitzes und 54% der Industrieproduktion in den Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien in polnischem Besitz. 11

Nach der Auflösung der Rzeczpospolita hatten ihre ehemaligen Eliten keine andere Wahl, als ihr koloniales Handeln von der materiellen zusätzlich auf die epistemische Ebene zu verlagern. Für die Ukraine bedeutete dies nun nicht mehr vorrangig materielles Subjekt einer polnischen Elite zu sein, aber ihr epistemisches Subjekt zu werden. Diese Entwicklung wird greifbar im literarischen Topos der kresy. In ihm spiegeln sich koloniale Diskurse wider, die Said sonst in der Begegnung „des Westens“ mit „dem Orient“ beobachtet.

Bakuła demonstriert wie der literarische kresy-Diskurs in paternalistischer und rückwärtsgewandter Form die Überlegenheit der polnischen Kultur über die ukrainische, belarussische und litauische präsupponiert, die eigene harmonisierende (um nicht zu sagen zivilisatorische) Rolle propagiert und dabei die Geschichtslosigkeit seiner nun literarischen und einstig politischen Subjekte impliziert. 12 Dass diese Deutungsmuster ihre Anwendung auf Nachbarvölker gefunden hat, ist dabei wenig verwunderlich, sie haben sowohl in Polen als auch Russland in Bezug auf Afrika und Südostasien bereits vorher bestanden, Uffelmann verweist hierfür auf einschlägige Untersuchungen. 13

Es ist vor allem festzuhalten, dass weder imperialistische noch koloniale Herrschaftsausübung und -Verhältnisse einer theoretischen Normierung zugänglich sind. 14 Das bedeutet in der Praxis, die Augen vor der Multiperspektivität der mittel- und osteuropäischen Geschichte nicht zu verschließen 15, vor allem nicht wenn sie vorgefertigten historischen Narrativen einer konstanten Viktimisierung widerspricht. 16

  1. Vulpius, Ricarda: Das Imperium als Thema der russischen Geschichte, in: zeitenblicke 6/2 (2007), § 34.[]
  2. Dieser Befund gilt für die deutsch- und englischsprachige Publizistik. Die polnischsprachige ist dem Autor verschlossen. An der Zahl der Veröffentlichungen gemessen wird das Thema aber rege diskutiert.[]
  3. Sowa, Jan: Fantomowe ciało króla. Peryferyjne zmagania z nowoczesna formą, Kraków 2011; Ders.: Inna Rzeczpospolita jest możliwa! Widma przeszłości, wizje przyszłości, Warszawa 2015. / Wężyk, Katarzyna: “Kresy. Dla nas piekło, dla was raj. Rozmowa z Jarosławem Hrycakiem”, in: Wyborcza.pl Magazyn Świąteczny, 25. Juli 2015, Zuletzt aufgerufen am 07.03.2023][]
  4. Grala, Hieronim: Was the Polish-Lithuanian Commonwealth a Colonial State?, in: The Polish Quarterly of International Affairs 4 (2017), S. 125.[]
  5. Grala, Commonwealth, S. 149.[]
  6. Jobst, Kerstin: Orientalism, E.W. Said und die Osteuropäische Geschichte, in: Saeculum 51/2 (2000), S. 253.[]
  7. Dhawan, Nikita und do Mar Castro Varela, María: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, S. 34.[]
  8. Grala, Commonwealth, S. 132.[]
  9. Dhawan und do Mar Castro Varela, Postkoloniale Theorie, S. 35.[]
  10. Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine Bd. 1, München 2022, 7. Auflage, S. 77.[]
  11. Sproede, Alfred und Lecke, Mirja: Der Weg der postcolonial Studies nach und in Osteuropa. Polen, Litauen, Russland, in: Hüchtker, Dietlind und Kliems, Alfrun (Hrsg.): Überbringen – Überformen – Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2011, S. 41.[]
  12. Bakuła, Bogusław: Colonial and Postcolonial Aspects of Polish Borderlands Studies: An Outline, in: Teksty Drugie 1 (2014), S. 104.[]
  13. Uffelmann, Dirk: Postcolonial Studies: Processes of Appropriation and Axiological Controversies, S. 810.[]
  14. Dhawan und do Mar Castro Varela, Postkoloniale Theorie, S. 31. Und Mommsen, Wolfgang J.: Imperialismus. Seine geistigen und wirtschaftlichen Grundlagen. Ein Quellen- und Arbeitsbuch. Hamburg 1977, S. 91. Zitiert nach Jobst, Orientalism, S. 264.[]
  15. Davies, Franziska: Deutschland, die Ukraine, Russland und das Erbe des deutschen Kolonialismus in Osteuropa, in: Ukraine-Analysen 266 (2022), S. 14.[]
  16. Bakuła, S. 106.[]

Bachmut in Bochum

Alles ist vom Krieg durchdrungen und riecht danach, alles atmet den Krieg, hängt von ihm ab und ist ihm unterworfen – als gäbe es kein normales menschliches Leben mehr irgendwo auf der Welt.*

So beschreibt die russische Fotografin und Journalistin Victoria Ivleva ihre Erlebnisse aus der ukrainischen Stadt Bachmut, die zum Symbol des ukrainischen Widerstands gegen die russische Invasion wurde. Die mehrfach preisgekrönte Aktivistin zog nach dem 24. Februar 2022 nach Kiyv und dokumentiert den grausamen Alltag des Krieges. Am 16. Mai 2023 wurde in der Universitätsbibliothek Bochum die Ausstellung Ivlevas Fotografien aus Bachmut eröffnet.

„Wir begrüßen heute die Fotografin, die zu uns aus Kyiv gekommen ist“ – wird Ivleva einführend vorgestellt. Sie erwidert direkt: „Ich bin zu Ihnen aus Kiev angereist, aber ich komme aus Russland. Das vergesse ich nie. Und ich vergesse nicht, was mein Land den Ukrainern angetan hat“ – betont sie und bittet das in der Eröffnung versammelte Publikum, eine Schweigeminute für die Kriegsopfer zu halten.

Die Ausstellung „Bachmut in Bochum“ umfasst 25 Schwarzweiß-Fotografien, die in der ersten Februarhälfte 2023 aufgenommen wurden. Sie dokumentieren das Leid der Menschen, die diese mittlerweile kaum noch existierende Stadt aus verschiedenen Gründen nicht verlassen haben. Während sich Ivleva aktiv an der Evakuierung der Menschen beteiligt, dokumentiert sie gleichzeitig ihre Geschichten. Es ist eine sehr emotionale Austellung, die viele Besucherinnen und Besucher tief berührt.

Misha Nodelman, ein in St. Petersburg geborener Geigenmeister, sorgt für die musikalische Begleitung. Auch er widmet sich heute Hilfsprojekten für die Ukraine. Die subtil eingeflochtenen jüdischen Lieder erinnern an die komplizierte Geschichte Osteuropas, die in Lebenswegen mancher in Bachmut fotografierten Menschen in ihrer gesamten Tragik erzählt wird:

Mein Gott, Dorofejewna begann ihr Leben 1930. Wenig später kam es zum Holodomor, sie überlebte damals. Dorofejewna beendet ihr Leben – der Krieg tobt. Und sie, fast hundert Jahre alt, blind, verlässt die Hölle, hält ihr Sterbebündel im Schoß und singt ein ukrainisches Lied.*

Die Ausstellung ist bis Ende Juli 2023 in der Universitätsbibliothek zu sehen. Die Geschichten hinter den Bildern wurden im Katalog zur Ausstellung im Open Access festgehalten. Es ist von großer Bedeutung, den Kriegsalltag und die Verbrechen zu dokumentieren und dem Vergessen entgegenzuwirken. Victoria Ivleva leistet einen wichtigen Beitrag dazu und schreibt im März 2023:

Ich wünsche mir so sehr, dass alle überleben. Aber mir ist klar, dass das nicht passieren wird.*

* Die Zitate stammen aus dem Ausstellungskatalog.

Ständig definiert man den Osten Europas über den Westen

Der Osteuropa-Begriff ist eine Konstruktion! Jeder weiß, dass es dort im Osten eine Region gibt, die von Tschechien bis zum Kaukasus reicht, doch eine einheitliche Bezeichnung ist noch immer nicht gefunden worden. Zumindest keine womit alle einverstanden wären. Wie auch, wenn sich die Variablen, die Merkmale für die Zuschreibung ständig ändern.

So verstand man beispielsweise im 17. Jahrhundert nach Hans Lemberg unter dem Begriff Osten noch den Orient. Dieser galt als barbarisch und wild. Erst als das Kaiserreich Russland sich deutlich genug im europäische Mächteverhältnis etabliert hatte, verschob sich das Reich und seine Nachbarn langsam vom Norden in den Osten. Spätestens nach dem Krimkrieg 1856 waren sich die Westeuropäer einig, dass Russland im Osten lag. Doch trotz versuchter Annäherungen an den Westen blieb die Kluft zwischen diesen Regionen bestehen. Die Territorien östlich von Deutschland wurden als wirtschaftlich und wissenschaftlich schwächer angesehen mit ganz unterschiedlichen politischen und sozialen Zielen. Auch im Glauben mit der katholischen und orthodoxen Kirche waren sie anders. Eine Dichotomie, welche sich beispielsweise durch den Kalten Krieg nur noch verfestigte.

Zu dieser Zeit war der Ostblock der Feind. Diese 46 Jahre haben das Leben in Europa geprägt und haben das Stigma über den Vorwurf der Rückständigkeit oder der Totalität des Ostens erhalten. Die Region wurde und wird immer noch als „anders“ angesehen.

Meines Erachtens liegt genau dort das Problem in der Diskussion um den Osteuropa-Begriff. Der Osteuropa-Begriff ist eine Konstruktion, weil er stets von Außenstehenden bestimmt wird. Ständig definiert man den Osten Europas über den Westen. Die Variablen und Merkmale der Zuordnung zu Osteuropa sind so fluid, weil außenstehende Parteien wie die NATO diese Merkmale festlegen. Man nimmt Werte aus den Westen und versucht sie auf den Osten zu übertragen, ohne anzuerkennen, dass es sich um eine eigenständige Kultur handelt. Man sollte den Osten sich selbst definieren lassen. Jede Zuschreibung, ob politisch oder geographisch, ist konstruiert. Das größte Problem des Osteuropa-Begriffes ist seine negative Konnotation. Und diese muss aufarbeitet werden, jedoch nicht ständig nach westlichen Standards.

Es gibt da so ein Osteuropa, aber das ist etwas ganz anderes als Deutschland oder die EU und es ist obendrein noch ziemlich arm dran

„EU exportiert Klimaschäden nach Osteuropa“  Berliner Zeitung (26.01.2023)

„Deutsche Ost-Ignoranz: Warum Deutsche so wenig über Osteuropa wissen“ SPIEGEL (31.12.2022)

„Schuhe für Afrika und Osteuropa: bundesweite Sammelaktion für soziale Zwecke“ Süddeutsche Zeitung (03.01.2023)

Keine dieser Schlagzeilen ist älter als sechs Wochen und man könnte sie wohl so zusammenfassen: Es gibt da so ein Osteuropa, aber das ist etwas ganz anderes als Deutschland oder die EU und es ist obendrein noch ziemlich arm dran.

Kann man so etwas erfinden? Ich sage: Ja! So wie übrigens auch die EU, die deutsche Identität und das Konzept „Afrika“ erfunden sind. Was aber hat es nun mit Osteuropa auf sich? Wie Hans Lemberg ausführt, tauchte der Begriff erstmalig im 19. Jahrhundert auf, als sich die gedankeliche Teilung Europas von Nord-Süd nach Ost-West verschiebt. Lemberg betrachtet dabei vor allem Russland, aber deutlich wird dennoch: Auch Russ*innen haben sich niemals selbst als östlich bezeichnet. Die Begriffsgeschichte beginnt also schon als ideologische Fremdbezeichnung – und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Auch die wissenschaftliche bzw. historische Auseinandersetzung war stets von Interessen geprägt. Dittmar Dahlmann zeigt: „Osteuropäische Geschichte war auch in der Weimarer Zeit ein hochpolitisiertes Fach.“ Wir können Osteuropa ohne politische Färbung weder sagen noch danken. Und hier wird es problematisch.

Solche Schlagzeilen, wie wir oben lesen, homogenisieren eine riesige, vielfältige Region, verstärken Klischees und machen Osteuropa zu etwas Fremdem, Anderem. Dabei müsste Osteuropa leer sein, denn niemand identifiziert sich selbst als Osteuropäer*in. Wie können wir uns also auf Osteuropa beziehen, ohne ein vereinfachtes Weltbild zu stärken?

Ich schlage vor: konkret und themenbezogen! Wenn wir also über gemeinsame geschichtliche Ereignisse reden wollen, wie z.B. Timothy Snyder in seinem Buch Bloodlands oder uns auf sozio-geographische Zonen beziehen, wie Alexander Prusin in Borderlands – dann können wir den Begriff kontextualisiert verwenden. Ein unbestimmter Osteuropa-Begriff ist aber gefährlich, denn dann wissen wir nicht, worüber wir eigentlich reden.

Osteuropa und ChatGPT

Wurde Osteuropa erfunden? Ich wollte auf diese schwierige Frage eine eindeutige und besonders überzeugende Antwort finden, daher habe ich eine künstliche KI (ChatGPT) befragt, die Folgendes antwortet:

Nein, Osteuropa wurde nicht erfunden. Es bezieht sich auf eine geografische Region, die die Länder im östlichen Teil Europas umfasst, [einschließlich Länder wie Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien und die baltischen Staaten.] Der Begriff wurde verwendet, um diese Länder von den westeuropäischen Ländern zu unterscheiden und ihre gemeinsamen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Eigenschaften hervorzuheben.“[1]

Die Antwort ist zwar eindeutig, aber sie ist für mich unerwartet und irgendwie auch recht unbefriedigend, daher ergänze ich die Nein-Position der KI mit meiner Ja-Position:

Selbstverständlich ist Osteuropa eine Erfindung; genauso wie West-Europa oder jedwede Nation – nach Benedict Anderson – eine Erfindung, Idee oder Imagined Community von Individuen oder Gruppen ist. Das von Menschen erschaffene Konstrukt „Osteuropa“ dient zur mentalen Erschließung eines Raums, welcher je nach Perspektive und Interesse des Gebrauchenden anders geographisch gefasst wird. Daher ist der Begriff „Osteuropa“, der sich damit end- und allgemeingültigen Definitionen verweigert, raum- und zeit-spezifisch. Im Reader lassen sich in den achtzehn Texten, die Osteuropa zum Gegenstand haben, also achtzehn unterschiedliche Osteuropas ausmachen und vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine sind nun neue Osteuropas im Entstehen.


[1] ChatGPT Jan9 Version.

Der Osten im Westen – Podcast zur Summerschool 2020

Herzlich willkommen zum Podcast zur Summerschool 2020 an der Ruhr-Universität Bochum aus dem Seminar „Geschichtsvermittlung in und über Osteuropa – Polen und Russland im Vergleich“.

Wir wollen relevante gesellschaftspolitische Entwicklungen verstehen und erklären können. Dazu braucht es Osteuropakompetenz: Interdisziplinäre Expertise,  fundiertes Fachwissen und interkulturelle Kompetenz, weshalb wir mit den Beiträgen von unseren Gästen aus Wissenschaft, Journalismus, Museen und Gedenkstätten gemeinsam etwas über Ihre Projekte zur Geschichtsvermittlung zu Osteuropa erfahren wollen.

Unser Gast heute ist die Seminarleiterin selbst, Frau Dr. Zagańczyk-Neufeld. Sie ist Akademische Rätin auf Zeit und Koordinatorin des Masterstudienschwerpunkts Osteuropäische Studien mit Praxisbezug für Studierende der Geschichtswissenschaft und Ko-Leiterin der Zweigstelle Bochum der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde.

Welches Konzept verbirgt sich hinter einer Summer School, welche Kompetenzen und Lernziele sind mit ihm verknüpft und wie konnten eine solche Bandbreite von Gästen aus unterschiedlichen Disziplinen geschichtsvermittelnder Einrichtungen in einem Seminar-Projekt koordiniert werden?

Auf diese und weitere Fragen wird uns Frau Dr. Zagańczyk-Neufeld in dieser Folge antworten und wir bedanken und herzlich für ein sehr freundliches Gespräch und Einblicke hinter die didaktischen Kulissen einer Summer School.

Dr. Agnieszka Zagańczyk-Neufeld

Akademische Rätin auf Zeit

Koordinatorin des Masterstudienschwerpunkts Osteuropäische Studien mit Praxisbezug für Studierende der Geschichtswissenschaft

Ko-Leiterin der Zweigstelle Bochum, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde